Sackgasse?

Nach Albrecht Grözinger und Florian Höhne äußert sich auch Gottfried Brezger, der Vorsitzende der Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus in Berlin, zu dem Beitrag „Aus der Sackgasse“ von Günter Thomas. Brezger schreibt, dass die Ausführungen von Thomas „keine geeignete Grundlage für seine zeitgenössische Kritik an Repräsentanten protestantischen Denkens und Handelns“ bieten.
In der „Sackgasse“ befindet sich aus der Sicht von Günter Thomas der angebliche ‚kirchliche Mainstream‘: Eine „um ein religionsloses Christentum bemühte Kirche" verfüge über „keine angemessenen Instrumentarien, um Prozesse der Sakralisierung im politischen Raum zu diagnostizieren". – „Noch viel weniger vermag sie zu erkennen, wie sie selbst die Verschiebung religiöser Motive und Anliegen in den Raum der Politik befördert.“ In diesem Zusammenhang fordert er „unter anderem das Beenden von prophetischen Amtsanmaßungen“ und weist auf „die politischen Einlassungen der Präses der EKD wie auch die politische Mehrheitsmeinung des Rates der EKD“ hin.
Als Ursache für diese Entwicklung benennt Thomas nicht etwa eine problematische Aneignung theologischer Gedanken Dietrich Bonhoeffers, sondern die „radikale Umorientierung hin zu einem religionslosen Christentum“ bei Bonhoeffer selbst, die er in der Haft „mit einer Fülle weiterer Umbauten und mit einem Pathos der intellektuellen Redlichkeit denkerisch zu einem kompakten und pointiert ‚selbständigen‘ Ensemble an Neuorientierungen formt“.[1]
Mit der ‚späten Theologie‘ meint Thomas die theologische Entwicklung in Bonhoeffers Briefen an Eberhard Bethge in der Haft in den vier Monaten vom 30. April[2] bis zu seinem „Entwurf für eine Arbeit“ im August 1944.[3]
Tastendes Fragen
Fernab von einem kompakten und pointiert ‚selbständigen‘ Ensemble an Neuorientierungen vertraut Dietrich Bonhoeffer am 30. April 1944 seinem Freund an, welche Fragen ihn in der Haft umtreiben: „Dich wundern oder vielleicht sogar Sorgen machen würden Dir höchstens meine theologischen Gedanken mit ihren Konsequenzen, und hierin fehlst Du mir nun wirklich sehr; denn ich wüsste nicht, mit wem ich sonst überhaupt so darüber sprechen könnte, dass es für mich eine Klärung bedeutet. Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist." Und: „Wie kann Christus der Herr auch der Religionslosen werden?"[4] Das ist Christologie pur im Kontext der säkularen Welt.
Bonhoeffers Gedanken beginnen mit seiner Wahrnehmung: „Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein.“ Daraus folgt die Frage: „Wie sprechen wir von Gott – ohne Religion, d.h. eben ohne die zeitbedingten Voraussetzungen der Metaphysik, der Innerlichkeit etc. etc.?“[5]
„Christen und Heiden“
Bei Thomas finde ich keine Beschreibung, was Bonhoeffer mit den Begriffen ‚Religion‘ und ‚religiös‘ meint. Nach dem Verständnis von Bonhoeffer haben sich die historischen Voraussetzungen für die Religion wie ein Mantel um den Kern des christlichen Glaubens gelegt. Dieser Kern aber besteht in der Transzendenzerfahrung des "Hineingerissenwerdens in das – messianische – Leiden Gottes in Jesus Christus"[6]
Bonhoeffer verbindet seine Kritik der Religion (auch der christlichen) mit einer kurzen Philosophiegeschichte des Christentums. Religionskritik ist Bonhoeffers Antwort auf die säkulare Leugnung einer Transzendenz Gottes „als philosophische und religiöse Arbeitshypothese (Feuerbach!)“. Hugo Grotius (1583-1645) steht am Anfang der „großen(n) Entwicklung, die zur Autonomie der Welt führt“[7] mit seinem Diktum „etsi deus non daretur"[8] - "Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15,34)!“ Diese theologische Dialektik stellt den Versuch dar, im Denken, Glauben und Handeln Unvereinbares zusammenzubringen.
In seinem Lehrgedicht „Christen und Heiden“ vom Juli 1944[9] wird ein Weg daraus: „Menschen gehen zu Gott in ihrer Not“ in der Hoffnung auf die Hilfe Gottes in seiner Allmacht. „So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.“ „Menschen gehen zu Gott in Seiner Not“ - in der zweiten Strophe wird der menschliche Blick provokativ vom allmächtigen zum ohnmächtig leidenden Gott gewendet: Sie „sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod“. „Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not …“ - in der dritten Strophe wird Gottes Tod in Christus zum Umkehrpunkt vom Tod zum Leben. Gott „stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod und vergibt ihnen beiden“. Hier liegt der Grund für Befreiung und Versöhnung – auch für uns und unsere Welt, in der sich Not, Brot und Tod reimen. Unsere Solidarität ist gefragt: „Christen stehen bei Gott in seinen Leiden.“
Doch Gott bleibt das Gegenüber des Menschen. Gottes jenseitige Transparenz geht nicht, wie Thomas nahelegt, in der Immanenz seiner Gegenwart in der Welt auf. Bonhoeffer vertritt nicht einen Deismus der zwischenmenschlichen Beziehung, sondern die Souveränität Gottes in seinem Wort und Willen. Mit dem Glauben als „Dasein-für-andere in der Teilnahme am Sein Jesu“[10] dringt Dietrich Bonhoeffer auf Konkretion christlichen Denkens und Handelns. Ihm geht es gerade nicht um eine Schwächung der Transzendenz Gottes durch Reduktion, sondern um dessen Stärkung durch die Konkretion seines Willens. Thomas scheint die beiden Aspekte Konkretion und Reduktion zu verwechseln. Ein Grund dafür könnte „die Exklusivität des „nur“ in der Diktion Bonhoeffers sein,[11] „mit der er der Bereitschaft zu neuem Denken, ja zur Umkehr den Boden bereiten will. –„Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“ und „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist“, sind zwei markante Beispiel für diese häufiger auftretende sprachliche Strategie.“[12]
Wege aus der Sackgasse?
Die Ausführungen von Thomas zur „späten Theologie“ Bonhoeffers bieten keine geeignete Grundlage für seine zeitgenössische Kritik an Repräsentanten protestantischen Denkens und Handelns. Wie steht es nun mit den, hier und da mit polemischem Unterton vorgetragenen, Thesen, die Thomas gegenüber dem (angeblichen) ‚kirchlichen Mainstream‘ formuliert?
Eine „um ein religionsloses Christentum bemühte Kirche" verfüge über "keine angemessen Instrumentarien, um Prozesse der Säkularisierung ... im politischen Raum zu diagnostizieren": Das Gegenteil ist der Fall: Was Günter Thomas "als haltungslose Verwässerung des prophetischen Zeugnisses" begreift, kann sich berufen auf den Antitotalitarismus der 1. These der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode in Barmen vom 31. Mai 1934. Allerdings muss sich zugleich die Christologie derer, die sie heute vertreten – in einem davon grundsätzlich verschiedenen historischen Kontext – auch daran messen lassen.
Die „Beförderung der Verschiebung religiöser Motive und Anliegen in den Raum der Politik" und die Nivellierung der „Grenze zwischen Kirche und Politik", wie sie uns derzeit in bisher unvorstellbarer und verhängnisvoller Weise in den USA vor Augen geführt wird, hat ihre Ursache nicht in einem „die Grenzen zum Linkspopulismus auslastende(n) Antikapitalismus", sondern in der gesellschaftlichen und politischen Verletzung der Würde des Menschen und der Missachtung von Empathie gegen die Schwachen und Ausgegrenzten. In diesem Sinn hat Dietrich Bonhoeffer in seiner Auslegung des 5. Gebots in seinem Ethik-Fragment „Schuld. Rechtfertigung, Erneuerung"[13] die Schuld der Kirche angesichts der „willkürliche(n) Anwendung brutaler Gewalt“ gegenüber den Juden bekannt.
Richtig ist, die ‚Gottesvergessenheit‘ (Wolf Krötke) in unserer Gesellschaft und Tendenzen einer ‚Selbstsäkularisierung der Kirche‘ (Wolfgang Huber) genauso als Problem zu benennen wie die religiöse Aufladung vagabundierender Religion. Das ist eine gemeinsame Zukunftsaufgabe für Theologie, Kirche und den Glauben. Wenn allerdings kirchliche Gruppen geringgeschätzt werden, die sich der „ökosozialen Gerechtigkeit" verschreiben, weil sie ihre Aufgabe darin sehen, „den Blick in die Zukunft“ zu wagen mit der „letzte(n) verantwortliche(n) Frage“, wie „eine kommende Generation weiterleben soll“[14], ist dies ein Zeichen der Unsolidarität.
Für den Weg „aus der Sackgasse des religionslosen Christentums“ nennt Thomas folgende Ziele für kirchliches Handeln: „Desakralisierung der Politik“, „Mehr Nachhaltigkeit im Ressourcenmanagement“, „Kulturelle Verankerungen, soziale Vernetzungen“ und die Regeneration von „Frömmigkeitsstilen“ und -praktiken. Ressourcenmanagement ist ein betriebswirtschaftliches Planungsinstrument für Führungskräfte zur Mobilisierung des Teams und zur Koordination von Programmen, Projekten und Finanzen mit dem Ziel der Optimierung der Ergebnisse. Wie diese Methode über den praktischen Zweck hinaus einen Weg aus der Sackgasse öffnen soll für einen Glauben, dem es – nach Thomas – am Bezug zur Transzendenz mangelt, erschließt sich mir nicht.
Entdeckungsorte pflegen
Unser Glaube braucht Lernorte. Zum Beispiel die Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus.[15] Hier, in seinem Elternhaus, hat Dietrich Bonhoeffer, Pfarrer der Bekennenden Kirche, ab 1935 gelebt, wenn er in Berlin war, hier hat er ab 1940 Manuskripte seiner „Ethik“ und für seine Mitverschworenen zur Jahreswende 1942/43 die Widerstandsbilanz „Nach zehn Jahren“[16] geschrieben, hier hat er mit ihnen konspiriert, und hier wurde er am 5. April 1943 von der Gestapo verhaftet. Seit 1987 ist das Bonhoeffer-Haus als Werk der Landeskirche eine lebendige Erinnerungs- und Begegnungsstätte, offen für alle, die sich mit Geschichte, Glaube, Verantwortung und gesellschaftlichem Engagement auseinandersetzen möchten. Hierher kommen Menschen aus aller Welt, weil ihnen Dietrich Bonhoeffer in seiner Geschichte und in seinem Glauben, in seinem Denken und Handeln zum Vorbild für ihr eigenes Leben geworden ist.
„Wer bin ich?“ fragt sich Dietrich Bonhoeffer in einem seiner zehn Gedichte aus der Haft. Am Ende steht sein Bekenntnis: „Wer ich auch bin, Du kennst mich. Dein bin ich, o Gott!“[17]
Weitere Texte des Autors zu Dietrich Bonhoeffer sind in den vergangenen Jahren erschienen:
2017
Die Dynamik der inklusiven Christologie Dietrich Bonhoeffers auf den Spuren Martin Luthers
Im Widerspruch zur Dynamik politischer Ausgrenzung
in:
THEOLOGICA Wratislaviensia, TOM 12 – 2017
Evangelical School of Theology (EST) in Wroclaw
2020
In:Evangelische Zeitung, 7.4. 2000: Wenn ein Weizenkorn erstirbt, bringt es viel Frucht
2021
in:
Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 73. Jahrgang 2021
Herausgegeben im Auftrag des Vereins für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte e.V. von Wolfgang G. Krogel, Klaus Neitmann in Verbindung mit Karl-Heinrich Lütcke, Wilhelm Ernst Winterhager, Andreas Stegmann, Dorothea Wendebourg
2022
Zum 77. Todestag Dietrich Bonhoeffers am 9. April 2022 auf dem Internetportal der Internationalen Dietrich-Bonhoeffer-Gesellschaft (ibg):
"Die Wiederherstellung einer echten weltlichen Ordnung unter Gottes Gebot"
2025
Gemeindebrief der Ev. Johannes-Kirchengemeinde Berlin-Lichterfelde, Seite 9:
Den Blick in die Zukunft wagen Gedanken 80 Jahre nach der Ermordung von Dietrich Bonhoeffer
[1] Thomas schreibt am Ende seines Beitrags von dem „starken Sendungsbewusstsein in Bonhoeffers Ensemble“.
[2] Dietrich Bonhoeffer Werke, DBW 8. Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hgg. von Christian Gremmels, Eberhard Bethge und Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt, Gütersloh 1998, S. 401ff.
[3] DBW 8, S. 556ff. Entwurf einer Arbeit, August 1944. Bei der Wiedergabe der Entwicklung der Gedanken Bonhoeffers bei Thomas erschwert die – bis auf eine Ausnahme – fehlende Quellenangabe die Nachprüfung der vielen Zitate von Bonhoeffer.
[4] DBW 8, S. 403ff. Brief von Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge vom 30.04.1944.
[5] Ebda.
[6] DBW 8, S. 536. Brief von Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge vom 18.07.1944.
[7] Ebda, S. 529ff.
[8] Zu Deutsch: „Als wenn es Gott nicht geben würde“.
[9] DBW 8, S. 515f.
[10] DBW 8, S. 558: in: Entwurf für eine Arbeit.
[11] Bonhoeffers Pointierung erinnert an die Verwendung der Exklusivpartikel „sola/solus“ bei Luther.
[12] Wolfgang Huber: Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit. Ein Porträt, München 2019. S. 100f.
[13] Dietrich Bonhoeffer: Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung, in: DBW 6, Ethik, hgg. von Ilse Tödt, Heinz Eduard Tödt, Ernst Feil und Clifford Green, Gütersloh 1998², S. 130: „Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß, Mord, gesehen zu haben, ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der Schwächsten und Wehrlosesten Brüder Jesu Christi.“
[14]Dietrich Bonhoeffer: Nach zehn Jahren, DBW 8, S.25.
[15] www.Bonhoeffer-Haus-Berlin.de
[16] Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943. Nach zehn Jahren, in: DBW 8, S. 19ff.
[17] DBW 8, S. 513f.
Gottfried Brezger
Gottfried Brezger, geb. 1947 in Nagold, Pfarrer i.R., ehrenamtlich Vorsitzender der Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus in Berlin, hat Kirchenmusik, Theologie (im Ev. Theol. Stift Tübingen) und Soziologie (Diplom in Berlin) studiert.