Warten auf Gottes Zeit

Gestern veröffentlichten wir einen Beitrag Albrecht Grözingers, der sich kritisch mit dem Text von Günter Thomas im April-Schwerpunkt der zeitzeichen zu Dietrich Bonhoeffer auseinandersetzte. Heute führt Florian Höhne diese kritische Lektüre von Günter Thomas fort. Der Theologe aus Erlangen widerspricht in seinem Artikel vehement der These, dass die Kirche infolge von Bonhoeffers Spättheologie in einer Sackgasse stecke und warnt vor einer falschen negativen Sakralisierung Bonhoeffers.
Nun also Bonhoeffer. Es gibt mittlerweile eine ganze Serie von Texten, die zunächst die Karikatur einer viel zu linken, wahlweise in ökologisches, soziales, politisches oder in moralisches Engagement versunkenen evangelischen Kirche malen, um dann mit mehr oder weniger Pathos Auswege raunend anzudeuten oder auf markige abstrakte Stichworte zu bringen. Gern werden dabei auch theologiegeschichtliche Motive für die Entstehung des karikierten Zustandes gesucht. Im Aprilheft von zeitzeichen ist eine weitere Folge dieser Serie zu lesen, diesmal von Günter Thomas, von dessen akademischen Texten ich viel gelernt habe. Und diesmal mit Dietrich Bonhoeffers Spättheologie beziehungsweise genauer: deren evangelischer Rezeption ab den 1960er Jahren auf der Anklagebank des Moralgerichts für kirchliche Fehlentwicklungen. Im Text findet sich manch Anregendes, was bei einem exzellenten Theologen wie Günter Thomas nicht verwundert. Gleichzeitig finden sich einige Punkte, die ich mit Fragezeichen versehen will.
Den Argumentationsgang im Text von Thomas verstehe ich so: Der erste Teil referiert eines der umstrittensten Themen in der Bonhoefferforschung, das „religionslose Christentum“. Im zweiten Teil wird dann behauptet, dass diese „Spättheologie“ dem „Protestantismus half, den machtvollen kulturellen Säkularisierungsschub ab den 1960er-Jahren zu verarbeiten und gleichzeitig die mit dem Wirtschaftswachstum enorm wachsende Kirchensteuern in Sonderstellen für eine ‚Kirche für andere‘ zu investieren“ (Thomas, zeitzeichen 4/2025: Aus der Sackgasse, 30). Das habe dann aber in die „Sackgasse“ geführt, in der sich Kirche heute findet; „Sackgasse“, wohl weil – so Thomas – die „kirchliche Realisierung von Bonhoeffers Spättheologie […] von finanziellen, organisatorischen, rechtlichen, personellen und spirituellen Voraussetzungen“ lebe, „die sie selbst nicht zu regenerieren vermag“ (30). Mehr oder weniger impliziter Cantus firmus ist dabei die Kritik, dass eine sich in der Form an einem religionslosen Christentum orientierende Kirche über ihr vermeintlich fast linkspopulistisches, politisches oder moralisches Engagement ihrer eigentlich Kernaufgabe – von und zu Gott zu reden – nicht oder nicht ausreichend nachkomme und so „Gottvergessenheit“ fördere (30).
Selektiv Gedanken gruppiert
Mein erstes großes Fragezeichen bezieht sich auf die Bonhoefferinterpretation: Thomas gruppiert selektiv einige Gedanken Bonhoeffers aus den Gefängnisbriefen zu einer „Spättheologie“, in der er eine „radikale Umorientierung“ Bonhoeffers sieht (29). Das ist mir erstens nicht plausibel und produziert zweitens einen Zirkelschluss.
Erstens: Bonhoeffer hat in privaten Briefen an seinen Freund Bethge beeindruckende, verstörende, suchende und anregende theologische Gedanken aufgeschrieben; nicht wenige davon sind als Fragen formuliert, andere bleiben Stichworte. Daraus eine eigenständige, von seinem vorherigen Denken abgegrenzte „Spättheologie“ zu konstruieren, überzeugt mich nicht. Man könnte in dieser Rekonstruktion, die jeden Satz auf die Goldwaage legen muss, gar eine Sakralisierung Bonhoeffers sehen – nur eben mit anderem Vorzeichen, nicht zum Zwecke der Verehrung, sondern des Bildersturms.
Zweitens führt Thomas Bildung eines „Ensemble“ zu einem Zirkelschluss, wenn er am Ende kritisiert, was er vorher selbst konstruiert hat. Konkret schreibt Thomas: „Bonhoeffers Spättheologie der lebensgesättigten Diesseitigkeit“ sei „frei von jeder apokalyptischen Hoffnung“ und meine „nicht wahrnehmen zu müssen, dass Christen angesichts des Elends, der Gewalt und der Erschlagenen in dieser Welt aus einem wirksamen Versprechen leben, einem Versprechen, das sie niemals selbst einlösen können: Auferstehung der Toten, kommende Gerechtigkeit, neue Schöpfung.“ (31) Das kann man nur schreiben, wenn man
- zum einen Bonhoeffers Gefängnisbriefe durch eine „radikale Umorientierung“ vom Rest seines Schaffens separiert sieht, in dem Bonhoeffer sehr wohl und eindrücklich von Hoffnung schrieb (etwa in einer Predigt aus dem Jahr 1934: „Nicht unserer Hoffnungen werden wir uns einstmals zu schämen haben, sondern unsrer ärmlichen und ängstlichen Hoffnungslosigkeit, die Gott nichts zutraut, die in falscher Demut nicht zugreift, wo Gottes Verheißungen gegeben sind, die resigniert in diesem Leben und sich nicht freuen kann auf Gottes ewige Macht und Herrlichkeit.“ [DBW 13, 401 f.])
und zum anderen Texte wie Bonhoeffers Brief an Bethge vom 21. Juli 1944 trotz zeitlicher Passung nicht in besagtes „Ensemble“ integriert. Darin schrieb Bonhoeffer: „Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen […] und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane […]. Gott führe uns freundlich durch diese Zeiten; aber vor allem führe er uns zu sich.“ (DBW 8, 542 f.). Ich sehe nicht, wie das eine hoffnungslose Theologie ausdrücken soll.
DDR-Kirche unsichtbar gemacht
Mein zweites große Fragezeichen setzte ich hier: Es irritiert, dass sich Günter Thomas‘ These zur Kirche unausgesprochen, aber meines Erachtens doch sehr deutlich, ausschließlich auf Westdeutschland bezieht – etwa in Bezug auf die „mit dem Wirtschaftswachstum enorm wachsende Kirchensteuern“ (30). Damit macht er unsichtbar, dass es auch in DDR eine evangelische Kirche gab – und eine hochbeeindruckende und lebendige Bonhoefferrezeption. Dass, auf die Bundesrepublik bezogen, Bonhoeffers vermeintliche Spättheologie zum „‘kirchlichen Mainstream‘ (Ralf Frisch)“ geworden sei und ausgerechnet die Orientierung am Leitbild „Kirche für andere“ in die „Sackgasse“ geführt habe, erscheint mir beides historisch nicht plausibel: Gegen ersteres steht ein Blick in die Binnenpluralität des Protestantismus, auch des nur westdeutschen. Zweiteres ergäbe auch in der Binnenlogik von Thomas‘ Text nur Sinn, wenn die „Kirche für andere“ in ihrer Breite und Vielfalt über die Bemühung „Kirche für andere“ zu sein, das „Wort ‚Gott‘“ nicht mehr „in den Mund“ (Thomas) genommen hätte, wenn sie das Beten, das Predigen, das Seelsorgen, das Gottesdienstfeiern oder das Religionsunterrichten ganz eingestellt hätte. Hat sie aber nicht.
Wo genau also hat denn die oft so genannte Selbstsäkularisierung stattgefunden? Wirklich im Mainstream der Gemeinden, im Mainstream der Pfarrerschaft, der Ehrenamtlichen und Kirchenleitenden? Wirklich flächendeckend? Was sagt dann die Rede von der Sackgasse, wenn man sie ernst nimmt? Aus Sackgassen führt – um im Bild zu bleiben – nur die 180-Grad-Wendung: Soll es der Kirche wirklich helfen, sich nicht mehr als „Kirche für andere“ zu verstehen? Soll wirklich die Existenz von Diakonie und kirchlicher Sozialarbeit, von Krankenhäusern, Seniorenheimen, Kindergärten, Bahnhofsmissionen und Obdachlosenarbeit, von Schuldner- und Familienberatung, die Denkschriftenarbeit der EKD und das vielfältige Engagement vieler Ehrenamtlicher in Kirchengemeinde für Klimaschutz, Frieden und in Kirchenasylprojekten – soll all das wirklich das Problem der Kirche sein? Der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zufolge sind „43% Prozent der Protestant*innen“ in ihrer Kirche, weil sich „die Kirche für Gerechtigkeit in der Welt und für die Zukunft der Menschheit einsetzt“.[1] Nicht, dass das ein entscheidendes Argument sein muss – aber die „Kirche für andere“ ist offensichtlich ein wichtiger Faktor für die Kirchenbindung.
Leben gemeinsam feiern
Insgesamt scheint mir den Ausführungen zur Kirchenentwicklung die Auffassung zugrunde zu liegen, dass sich Kirche ihre Fortexistenz durch das Ausmachen und Bedienen einer (religiösen) Nachfrage selbst zu ermöglichen habe, die nur sie bedienen kann: „Doch wer ‚braucht‘ […] eine religionslose Kirche?“ fragt Thomas. Daran setze ich ekklesiologische Fragezeichen. Bonhoeffers Gedanken zur Religionslosigkeit und zur von Thomas nicht erwähnten Mündigkeit ließen sich hier dagegen in eine spannende Richtung denken: Wie wäre eine Kirche zu leben, die von ihren Mitgliedern und der Gesellschaft nicht „gebraucht“ wird, wie fürsorgende Eltern von ihren hilflosen Kindern, sondern in der mündige Menschen aus gottvertrauender Freiheit, in ihrer Stärke und Schwäche, das Leben gemeinsam feiern, das Schwere gemeinsam tragen und an relativen, diesseitigen Verbesserungen gemeinsam arbeiten?
Abschließend benennt Thomas drei Wege aus der Sackgasse: die „Desakralisierung der Politik“, „Mehr Nachhaltigkeit im Ressourcenmanagement“ und „Entdeckungsorte pflegen“. Abgesehen von der Unterstellung „von prophetischen Amtsanmaßungen“ (31) kann ich vielem davon in dieser Allgemeinheit zustimmen. Mein Fragezeichen trifft hier die geforderte Desakralisierung. Dass eine Sakralisierung der Politik problematisch und Religionskritik politischer Religionen nötig ist, dürfte in dieser Allgemeinheit vermutlich konsensfähig – und in Weiterführung von Bonhoeffers Gedanken zur Religionslosigkeit auch gut machbar sein. Auch die klare Unterscheidung von Politik und Religion, von Letztem und Vorletztem ist ein Gemeinplatz Öffentlicher Theologie und nichts Neues.
Diffizil aber wird es, wenn man die Ebene dieser Allgemeinheit verlässt. Denn was heißt Desakralisierung konkret? Und wo wird denn Politik sakralisiert? Thomas sagt darüber nicht viel, nur, dass das Heilige begänne, „wo der Witz endet“ (31). Diese Offenheit ist ethisch problematisch, weil sich auf diesem Weg unliebe Politikoptionen ziemlich beliebig als „sakralisierend“ abtun lassen. So ist beispielsweise der auf wissenschaftlichen Forschungen zum menschengemachten Klimawandel beruhende, (teilweise tatsächlich problematische Formen annehmende) Einsatz für mehr Nachhaltigkeit immer wieder als „Ersatzreligion“, als „Erlösungsversuch“ von „Klimaaposteln“ diffamiert worden. Auf naturwissenschaftlichen Forschungen beruhende Einsichten als „Religion“ zu bezeichnet, verwirrt nicht nur alle Begriffe, sondern richtet auch besagte „Desakralisierung“ gegen eine an der Realität orientierte Politik.
Bedrohlicher Einfluss des Rechtsextremismus
Hinzu kommt, dass Thomas‘ Forderung in eine Zeit vielfältiger Deinstitutionalisierungen fällt. Nun sind Institutionen nichts Heiliges, aber sie ähneln dem Heiligen doch gerade darin, dass sie in ihrer Selbstverständlichkeit – anders als Heiliges, nicht generell – aber eben im Vollzug dem Diskurs entzogen sind. Gesellschaftliche Institutionalisierung journalistischer Wahrheitsorientierung etwa heißt, dass Menschen auf die Richtigkeit der Tatsachenbehauptungen in ihrer abonnierten Tageszeitung vertrauen, ohne deren Wahrheitsgehalt ständig diskutieren zu müssen. Wird diese Selbstverständlichkeit fraglich und so zum Diskursgegenstand, lässt sich genau das als Deinstitutionalisierung auffassen.
Gerade der bedrohlich zunehmende Einfluss vom Rechtsextremismus in Parlament, Internet und Gesellschaft lässt fragen, ob wir nicht an der Institutionalisierung bestimmter Grundprinzipien – Menschenwürde, gleiches und gemeinsames Menschsein aller, demokratische Verfahren, ziviler Umgang miteinander – noch viel mehr arbeiten müssen, anstatt sehenden Auges Gefahr zu laufen, dass diese Grundprinzipien Kollateralschäden einer falschverstandenen Desakralisierung werden, die sich gegen alles richtet, worüber man keine Witze macht. Pointiert und polemisch gefragt: Wäre es nicht relativ besser, wenn Christinnen und Christen angesichts des lauter werdenden Hohngelächters aus der rechten Ecke, nein, mittlerweile fast: von der rechten Seite des Parlaments, laut und pointiert markieren, was nicht lächerlich gemacht werden sollte?
Ich glaube nicht, dass die evangelische Kirche in einer Sackgasse steckt. Ich sehe, dass Theologie und Kirche in größeren Umbrüchen begriffen sind. Als Orientierung darin helfen Pauschalisierungen, Polarisierungen und binäre Logiken nicht weiter, gerade nicht die Polarisierung vom Handeln für andere einerseits und der Rede von Gott andererseits. Das „Wort ‚Gott‘ in den Mund nehmen“ (Thomas) und „Kirche für andere“-Sein sind nicht Alternativen eines Konkurrenzverhältnisses, sondern zwei Seiten einer Medaille – gerade das lässt sich von Bonhoeffer lernen, auch vom späten: Im Mai 1944 – also genau in der für Thomas Ensemblebildung relevanten Schaffensperiode – schreibt Bonhoeffer „Gedanken zum Tauftag“ von Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge. Darin zeigt Bonhoeffer eindrücklich, wie das Hoffen auf Gott, das Handeln und das Beten gerade unter Bedingungen von Religionslosigkeit nicht voneinander zu trennen und vor allem nicht gegeneinander auszuspielen sind:
„Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen –, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, daß sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend, wie die Sprache Jesu, daß sich die Menschen über sie entsetzen und doch von ihrer Gewalt überwunden werden, die Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit, die Sprache, die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündigt. […] Bis dahin wird die Sache der Christen eine stille und verborgene sein; aber es wird Menschen geben, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten.“ (DBW 8, 436)
Florian Höhne
Dr. Florian Höhne ist seit 2023 Professor für Medienkommunikation, Medienethik und Digitale Theologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.