Wegmarken der Geschichte des vorigen Jahrhunderts nahm der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier in seinem vorhergehenden Roman Das Philosophenschiff in den Blick. Im neuen Roman Die Verdorbenen ist der Zeitausschnitt kleiner gewählt: Die Haupthandlung spielt in den 1970er-Jahren, an die sich der Ich-Erzähler rückblickend erinnert. Wie im vorangegangenen Buch ist der Gesamtumfang schmal – und wieder wirkt der Gehalt des Buches gleichwohl gewichtig. Als „eine meisterhafte Erkundung des Bösen“ charakterisiert der Hanser-Verlag das Buch in Entsprechung zu seinem Titel; menschliche Abgründe lotet es aus am Beispiel seines Personals, und es erinnert in Grundzügen wohl ganz bewusst an kein geringeres Werk als Dostojewskis ersten großen Roman Schuld und Sühne.
Ein Österreicher namens Johann, heute wohl ähnlich alt wie der 1949 geborene Köhlmeier, erinnert sich an seine Studentenzeit in Marburg. Schriftsteller wollte er werden, betonte seine innere Unabhängigkeit; der junge Mann liest Nietzsches Zarathustra und gibt zu, als heimlichen Lebenswunsch habe er bereits als Sechsjähriger gespürt: „Einmal im Leben möchte ich einen Mann töten.“ Damit ist der Ton gesetzt, eine kriminalistische Erwartung geweckt. Doch zu viel verraten wird dennoch nicht. Denn auch hier ist die entscheidende Frage, wie es zu den zentralen Ereignissen kommt und was die weiteren Beweggründe für zukünftige Handlungen sind. Es werden Nebenwege beschritten und manche Erwartungen auch enttäuscht. Johann hat durchaus Talente, er schreibt Songs, kellnert, verfasst eine Artikelserie für die Zeitung vor Ort und arbeitet bald auch als Tutor, was sein Überlegenheitsgefühl ebenfalls bestätigt und ihn finanziell unabhängig erscheinen lässt. Zu den von ihm betreuten jüngeren Studentinnen und Studenten zählen die seit ihrer Kindheit eng verbundenen Christiane und Tommi. Sie gesteht Johann bald, dass sie lieber mit ihm zusammen wäre. Und weil Tommi sehr anhänglich bleibt, ergibt sich eine seltsame Dreierkonstellation, aus der Johann bald auszubrechen wünscht.
Köhlmeier erzählt ökonomisch und einigermaßen schnörkellos; plastisch entwirft er die alte hessische Universitäts- und Studentenstadt als Mikrokosmos. Den Zeitgeist der 1970er-Jahre erschließt er dem Lesepublikum einerseits durch Schlüsselbegriffe wie „Ölkrise“, die in Radionachrichten Erwähnung finden, andererseits und subtiler aber auch durch einige typische Wörter und Redewendungen, wie etwa „in festen Händen“ zu sein, um eine langfristige Paarbeziehung zu umschreiben. Überhaupt die Sprache, die titelgebende Verdorbenheit zeigt sich bei Christiane und besonders Tommi in einer teils vulgären Wortwahl in Sachen Sexualität. Auch darin lässt sich ein Vermeiden zwischenmenschlicher Nähe und insgesamt eine Teilnahmslosigkeit sehen, die Johann sicher und Christiane zumindest dem Anschein nach zu attestieren wäre. Und ein Autor von Köhlmeiers Klasse bedenkt auf solche Weise natürlich auch die eigene Sprachkunst und ihre Möglichkeiten mit. Er hat erneut ein fesselndes, interessantes Erzählwerk verfasst, ein Buch, das auch verstören und psychologische wie gesellschaftliche Einsichten vermitteln kann.
Worin hat der moralische Verfall, die Verderbnis und also „das Böse“ hier seinen Grund? Im Verlust zwischenmenschlicher Nähe, im Negieren einer humanitären Grundeinstellung, die über die Not der Nächsten nicht hinwegsieht. Begünstigt wird das bei Johann auch durch die dandyhafte Attitüde, die sich mit Anschmecken und vordergründigem Genießen begnügt. Allzu viel empfindet er als banal und langweilig. Alles das und noch mehr zu denken legt Köhlmeiers schmaler Roman nahe. Der Autor ist aber ein zu subtiler und kunstbewusster Schriftsteller, um es plakativ hervorzukehren.
Thomas Groß
Thomas Groß ist Kulturredakteur des Mannheimer Morgen.