Sind Reduktion und Differenz Kennzeichen von Kultur, so ist der Aphorismus ein Stück Sprachkultur. Redundanz und Stereotypie sind ihm ein Gräuel: etwa Logorrhö im Entertainment oder Phrasendrescherei im Wahlkampf. Der Aphorismus lebt von Verzicht und Unterscheidung. Er bewohnt wie der Einsiedler eine Höhle im Abseits. Er schweigt beredt.
Elazar Benyoëtz führt es vor, seine Summa, denn 88 Jahre ist er alt, der Paul Koppel aus der Wiener Neustadt, der als Säugling nach Palästina kam. Gedichte schreibt er hebräisch, Aphorismen deutsch. Lyrisches Erleben drückte er in seiner zweiten Sprache aus, Sprache der Opfer, weisheitliches Bedenken aber in seiner ersten Sprache, Sprache der Mitläufer oder Täter mit der Selbstzuschreibung, Volk der Dichter und Denker zu sein. Ihnen widmet der Sohn des Ratgebers Aphorismen wie ein alter Weisheitslehrer, der junge Meshalim aus dem Morgenland ins Abendland schickt.
Wie unlösbar beide verbunden sind, bezeugen seine Meshalim in ihren Themen: Da gibt es 40 Seiten, die eine Auslegung der Urgeschichte von Kain und Abel sind, und weitere 40, die eine dogmatische Reflexion über das Credo bieten. Die Hälfte der 213 Seiten ist mit einem Zitat versehen, das den Gedanken ausgelöst hat. Zwei Seiten mit Namen der Zitierten weisen den abendländisch Gebildeten aus.
Der Mashal ist ein Zweites. Entweder reflektiert er eigenes Erleben in Erfahrung um und zieht aus ihr einen weisheitlichen Schluss, oder er reagiert auf den Gedanken eines anderen, den er anverwandelt. Immer arbeitet der Mashal mit äußerster Reduktion und überraschender Differenz: Jeder kann Messias werden, keiner Erlöser sein. Sieben Wörter nur, aber zahllose Geschichten: Wie viele Autokraten werden als Messias propagiert und entpuppen sich als Tyrann? Die Überraschung liegt in der Verwendung des Begriffs Messias, von Juden wie Christen für den Einen und Einzigen reserviert. Sofort wird offenbar, wie er machtpolitisch missbraucht wird und worin die Sendung des Gesalbten bestünde: in Erlösung des geschundenen Volks, in seiner Auslösung aus Versklavung, in Befreiung aus dem circulus vitiosus des Bruderhasses.
Dieses jüngste Buch führt wie ein Vermächtnis zwei politische Botschaften mit sich, die biografische des jüdischen Weisheitslehrers übers mare nostrum ins intellektuelle Abendland: Aus der Kraft der Reflexion ergeben sich gesellschaftstragende Tugenden wie Brüderlichkeit und demokratietaugliche Werte wie Gemeinsinn, erst aus diesen beiden die Erfahrung von Versöhnung und Erlösung. Wer Reflexion geringschätzt, verliert, was das mare nostrum zum Fluidum eines gemeinsamen Kulturkreises gemacht hat. Die aktuelle Botschaft ergeht in der Not, die das Pogrom vom Oktober 2023 über alle gebracht hat, über Opfer und Täter: jeder ein Abel und jeder ein Kain, alle Sprecher einer semitischen Sprache, aber niemand seines Bruders Hüter. Was einst kulturbildend war, jetzt aber verloren scheint, möge wieder erwachen: die Weisheit des alten Israels, durch deren Rat genesen kann, wer liest.
Wie ich das Buch gelesen habe, von vorn nach hinten, kann man eine Sammlung von Aphorismen nicht lesen, auch nicht das biblische Buch der Sprüche. Wie dort laden auch hier viele sprachliche Perlen zum Verweilen und Betrachten ein: Autobiografie, ein Welken zur Blüte gebracht. Das Buch gehört an einen Ort, wo man einem zugespitzten und überraschenden Gedanken gerne nachsinnt.
Der letzte Mashal spielt augenzwinkernd mit der Vielfalt von Bedeutungen, die der Gebrauch eines Worts in ihm angereichert hat: Auch verduftend hinterlässt man eine Spur. Ja, Benyoëtz wird bald einmal welken und verduften, aber nein, damit wird er nicht verschwinden: Seine Aphorismen sind seine Duftspur, und Brüderlichkeit ist deren Botschaft, die Gabe der Weisen aus dem Morgenland: der Weihrauch und die Myrrhe gesamtbiblischer Verheißung.
Matthias Krieg
Matthias Krieg ist Theologe und Autor. Er lebt in Zürich.