Geredete Schätze

Predigten von Annette Kurschus

Predigten in Buchform? Das Genre ist nicht unproblematisch, denn Predigten sind Predigten. Das heißt, sie entfalten ihre Wirkung als gesprochenes Wort und als solches nochmal in besonderer Weise. Während (kluge) Vorträge und Ansprachen durchaus häufig sehr nachlesenswert sind, ja im Nachlesen häufig überhaupt erst umfassend verstanden und gewürdigt werden können, ist eine Predigt eben eine Predigt. Es ist als gesprochenes und gehörtes Wort gedacht und eigentlich nicht als nachgelesenes.

Genau diese Besonderheit der Predigt bringt Annette Kurschus in dem „Wort zuvor“ in ihrem jüngst erschienenen Predigtband mit dem Titel Zutrauen ins Unglaubliche zur Sprache: „Jede Predigt ist ein komplexes Geschehen voller Dynamik: Der Ort gehört dazu und die aktuelle Situation. Die Gemeinde gehört dazu, ihr Singen und Beten und Hören. Die Predigerin gehört dazu, ihre Stimme, ihre Sprache, ihre Mimik, ihre Gesten. Im Zusammenspiel all dessen bringt Gottes lebendiges Wort sich zu Gehör, findet – wenn es gut geht – seinen Weg in Herzen und Hirne, berührt und bewegt und verändert.“ Schon hier denkt man: Besser kann man es eigentlich nicht ausdrücken. Und dieser Eindruck verfestigt sich in den zwanzig Predigten, die in dem Band versammelt sind. 

Beispielhaft

Nur ein Beispiel: Die Predigt der ehemaligen leitenden Geistlichen der Evangelischen Kirche von Westfalen (2012–2023) und EKD-Ratsvorsitzenden (2021–2023) beim Trauergottesdienst für die Opfer des Germanwings-Flugzeugabsturzes in den französischen Alpen im April 2015 hatte damals große Zustimmung gefunden – auch in Medien wurde sie sehr gelobt, wo Predigten heute eher selten eine Rolle spielen. Aber auch im Nachlesen entfaltet diese Predigt ihre tiefe Kraft und kann als beispielhaftes Predigtzeugnis angesichts einer schlimmen, eigentlich sprachlos machenden Katastrophe gelten. Es ist die große Predigtkunst von Annette Kurschus, existenziell tiefe Dinge zu benennen. Damals, vor zehn Jahren, fing sie die Situation des furchtbaren Absturzes, den wahrscheinlich der an schwerer Depression erkrankte Pilot selbst herbeigeführt hatte, so ein: „Das Unbegreifliche muss ausgehalten werden. Familien, Häuser und Nachbarschaften; Schulen, Städte und Dörfer, ein ganzes Land, ja mehr als nur ein Land rücken zusammen im Aushaltenmüssen und im Begreifenwollen. Menschen reichen einander die Hände. Tun das Wenige, das getan werden kann – und das Viele, das getan werden muss. Geben Nähe und halten Abstand. Leihen Ohren und versuchen Worte. Schenken Zeit und gehen mit. Teilen Kräfte und Ohnmacht. Sie bleiben da, halten mit aus, schweigen, beten und weinen. Unbegreiflich auch das. Und doch – Gott sei Dank! – wirklich.“

In jeder der 19 weiteren Predigten gibt es viele Passagen, in denen die Autorin geprägte biblische Sprache konkret und lebendig zum heutigen Menschen in sehr berührender Weise zu bringen vermag – das ist die besondere Predigtkunst der Annette Kurschus. Ein Gewinn des Buches ist auch, dass neben den gehaltvollen Predigten und dem äußerst dichten und klugen „Wort zuvor“ am Ende des Buches der Vortrag abgedruckt ist, den Annette Kurschus anlässlich ihrer Ehrenpromotion an der Universität Münster im Januar 2019 hielt. Darin erzählt sie bewegend ein Erlebnis, das sie als junge Pfarrerin hatte:

Bekenntnis zur Predigt

„Es war meine erste Beerdigung. Die Kinder der plötzlich gestorbenen Frau waren etwa in meinem Alter. Wir saßen zusammen zum Gespräch und zur Planung des Trauergottesdienstes. ,Also, wir glauben das alles nicht – das mit der Auferstehung der Toten und so weiter‘, konstatierte einer der Söhne. Trotzig beinahe. Sehr entschieden. Nach kurzem Zögern setzte er hinzu – etwas leiser, doch ebenso deutlich: ,Aber sagen Sie es bitte trotzdem!‘“ Diese Szene, so Annette Kurschus, lasse sie seitdem nicht mehr los.

Auch abgedruckt ist die kurze Dankesrede, die sie anlässlich der Verleihung des Ökumenischen Predigtpreises 2021 in Bonn hielt – ein eindrücklich formuliertes Bekenntnis zur Predigt, das sich ihren Predigten jederzeit abspüren lässt: „Ja, ich habe Lust daran, im Wort zu wohnen. Herberge zu nehmen darin. In seinem Raum zu leben und zu atmen, Fremdheit auszuhalten, Schönheit zu genießen, Wärme und Zartheit aufzunehmen, Weisung zu suchen. Und mitten darin eigene Worte zu finden, die das Wort nach draußen tragen. Und wenn dadurch Menschen berührt werden, wenn so das Wort Gehör findet in der Gesellschaft, in trostlose Herzen fällt und in erwartungsvolle Hirne – dann ist das ein unverfügbares Geschenk.“

Nach der beglückenden Lektüre dieses Buches kann ich nur feststellen: Ja, mit einem besonderen Geschenk ist auch Annette Kurschus reichlich gesegnet. Hoffentlich ist es nicht ihr letzter Predigtband gewesen!

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