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Everything Is Recorded: Temporary

Mit Freunden kann man über den Tod reden, nicht bloß im November. Und stets war Pop mehr als „Warum rufst Du nicht an, Drecksack?“ oder „Baby, lass mich wieder rein!“ Er kann dem Leben etwas hinzufügen – wie jetzt das Digital-Folk-Album Temporary mit 14 Tracks zum finalen Verlust: „In meinem Leben sind Kreativität, Produktion und Musikalität die einzigen Sicherheiten, alles andere ist unsicher. Es kann jeden Moment vorbei sein, und zu glauben, es könne überhaupt so was wie Sicherheit geben, ist dumm, aber man braucht einen Anker, für manche ist das Religion, für mich Musik“, befand Produzent und Label-Besitzer Richard Russell 2018 luzide-brüchig. Da war gerade der gefeierte, Dub- und UK-Garage-geprägte Erstling seines Everything Is Recorded-Projekts erschienen, für das er in Massive Attack-Manier Mitstreiter versammelte.

Russell hatte unter anderem Adele den Weg gebahnt. Er wurde reich darüber, zeigt aber, dass man auch dann kein Drecksack sein muss wie Trump samt Fascho-Bagage. Temporary mit der Vision, was wäre gewesen, hätte Folk wie Reggae in den 1980ern auf das Digitale gesetzt, glänzt mit frappanten Details und bringt erneut tolle Leute zusammen: Vokalisten wie Sampha Sisay, LowFi-Held Bill Callahan, Florence Welch, die Schauspielerinnen Noah Cyrus und Samantha Morton (in „Control“ Frau von Ian Curtis), die Steeleye Span-Gründerin Maddy Prior oder Marcus Brown aka Nourished by Time – im Songdialog mit Gil Scott-Heron, dessen sonore Sätze aus einem alten Gespräch stammen. Musiker wie PIL-Bassist Jah Wobble, der Spiritual Jazzer Alabaster DePlume oder Kamasi Washington kommen hinzu.

Alle Temporarystas sprühen vor Ideen – und haben frische Erfahrungen mit dem letzten Abschied. In Songwriting und Musik scheint das durch, düster ist es nie, intensiv stets. Das Album beginnt wie Kurt Vonneguts Slaughterhouse Five mit Vögeln (Poo-tee-weet?), Nick Drake-Picking sowie montierten Dialogen, also hörspielartig. Zur Albummitte gibt es ein weiteres Interlude, mit mehr Effekten und Zitaten. Man schwelgt – und erst die Songs: mit Spuren von Soul, Reggae, klassischem Folk, Cut up-Rhythmen, Grime-Rap, Samples, sogar Pedal Steel, herrlichen Duetten sowie Chorgesang. Trotz des weit offenen Füllhorns steht im Zentrum stets die Melodie. Einzige Beinahe-up-tempo-Nummer ist Losing You. Freudiger Tränentanz ist da so unvermeidlich wie das gruselwohle Lachen, wenn Bill Callahan in „Norm“ Neil-Young-Persiflage („Norm’s gone / not forgotten“) mit Auftrittsfragmenten des verstorbenen Standup-Comedian Norm MacDonald mischt. Es folgt Swamp Dream vom Londoner Artrock-Trio mary in the junkyard, das bis dato erst Singles vorlegte. Eine Wucht! Clari Freeman-Taylors Stimme entzieht sich niemand. Sie ist so verführerisch sterblich wie das Leben – und das Freunde-Album Temporary eine faszinierende Hommage darauf. Es schließt bündig mit Poo-tee-weet! Durchweg zum Mitsingen toll.

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