Die Sortenretter aus dem Norden

Der Erhalt alter Arten kann den Obstanbau durch den Klimawandel bringen
Obstbaum
Foto: Martin Egbert

Wie können wir den Anbau von Obst gegen zunehmende extreme Wetterlagen wie Dürre, Hitze oder heftige Regenfälle schützen? Ein Weg kann über die Erweiterung des genetischen Pools gehen. Doch dafür muss die Vielfalt der Kulturpflanzen gerettet werden. Martin Egbert und Klaus Sieg haben Menschen getroffen, die sich darum kümmern.

Michael Heißenberg stapft durch das feuchte Gras der Streuobstwiese im Naturschutzgebiet Duvenstedter Brook, nördlich von Hamburg. Der 66-Jährige trägt hohe Gummistiefel, grüne Weste und ein kariertes Hemd sowie einen Hut mit breiter Krempe. Mit auf dem Rücken verschränkten Armen guckt er in die Krone eines knorrigen Apfelbaums, dessen Stamm voller Risse, Runzeln, Spalten und Löcher ist. Dennoch trägt der 80 Jahre alte Baum Früchte. „Erstaunlich, dass da noch die Säfte durchfließen“, sagt Heißenberg und zeigt auf das große Loch in der Mitte des zerklüfteten Stammes, den nur noch die Rinde mit ihren Schichten aus Moos und Flechten zusammenzuhalten scheint. Rund vierzig Bäume dieses Alters stehen auf der Wiese, viele von ihnen Birnen. Heißenberg ist begeistert von der Vielfalt alter Birnen- und Apfelsorten, von denen viele in Norddeutschland sehr selten sind. „Die Wiese muss ein echter Sammler angelegt haben“, sagt er anerkennend.

80 Jahre alt ist der Baum auf der historischen Obstwiese im Duvenstedter Brook bei Hamburg. Seine und die Früchte anderer alter Bäume liefern die Kerne für das Archiv der Sorten.
Foto: Martin Egbert

80 Jahre alt ist der Baum auf der historischen Obstwiese im Duvenstedter Brook bei Hamburg. Seine und die Früchte anderer alter Bäume liefern die Kerne für das Archiv der Sorten.

Man kann verstehen, dass Michael Heißenberg sich mit seiner Stiftung „Zeitlupe“ um die Pflege der historischen Obstwiese kümmert, um Rückschnitt und Stabilisierung der alten Bäume, Mulchen und Mähen sowie den Schutz vor dem Verbiss durch Wild oder vor Rempeleien weidender Rinder. „So etwas muss doch erhalten werden.“ Heißenberg zeigt wieder auf den Baum mit dem klaffenden Loch. „Das sind gestandene Rentner, die noch für vieles gut sind, wie etwa als Habitat für Fledermaus oder Eule.“ Vor allem aber auch als Genpool, gezüchtet oder natürlich entwickelt über hunderte oder gar tausende von Jahren.

Obstbaum
Foto: Martin Egbert

Denn das ist das zentrale Thema seiner Stiftung: der Erhalt der genetischen Vielfalt, von Obst im Allgemeinen und der Birne im Besonderen. „Der Verbraucher kennt vielleicht noch vier Birnensorten.“ Dabei gebe es vielleicht noch um die 2 000 Birnensorten in Europa. Genau lässt es sich nicht beziffern. In Deutschland seien es weniger. „Namentlich bekannt sind heute in der EU noch 1 000 Sorten“, sagt Heißenberg.

Mit seiner Stiftung „Zeitlupe“ will Michael Heißenberg eine Verengung des Genpools bei Birnen und Äpfeln verhindern.
Foto: Martin Egbert

Mit seiner Stiftung „Zeitlupe“ will Michael Heißenberg eine Verengung des Genpools bei Birnen und Äpfeln verhindern.

Ihren Ursprung hat die Birne in Asien. Von dort aus verbreitete sie sich über den Balkan nach Griechenland, wo sie schon vor 3 ooo Jahren gezielt gezüchtet wurde. Züchter, vor allem in Belgien, England und Frankreich, kreuzten, selektierten und vermehrten vor allem im 18. und 19. Jahrhundert allerlei Birnensorten, die sich schnell über Europa verbreiteten. Heute existieren viele dieser Sorten nur noch an einigen wenigen Orten. Oder gar nicht mehr. Besonders gefährdet sind alte Regionalsorten, die sich teilweise über Jahrhunderte den jeweiligen mikro-klimatischen Bedingungen angepasst haben.

Präsentation der unterschiedlichen Sorten auf den Apfeltagen im Hamburger Botanischen Garten.
Foto: Martin Egbert

Präsentation der unterschiedlichen Sorten auf den Apfeltagen im Hamburger Botanischen Garten.

Die namentlich bekannten als auch die unbekannten zu erhalten, ist nicht nur eine Frage der kulinarischen Vielfalt, sondern des Überlebens in Zeiten der Klimakrise. Züchter, Anbauer und Handel setzen auf immer weniger Sorten. So kommt es zu einer Verengung des Genpools. Michael Heißenberg spricht von einer gefährlichen Inzucht. „Die Sorte Alexander Lucas zum Beispiel, eine der Hauptertragssorten in Norddeutschland, bekommt aufgrund des Klimawandels immer mehr Schwierigkeiten.“ Die Birnen würden immer häufiger verschorfen, was durch den Befall mit Pilzen verursacht wird, sowie von innen verhärten. Züchter müssten viel stärker auf die Vielfalt historischer Sorten zurückgreifen, um die Birne für die Herausforderung der Zukunft zu wappnen, die mit der Klimakrise einhergeht. „Viele der alten Sorten sind deutlich weniger krankheitsanfällig und wesentlich resistenter gegen Hitze und Trockenheit als die Sorten, die wir aus dem Supermarkt kennen“, sagt Heißenberg. Damit bergen die alten Sorten ein erhebliches Potenzial für zukünftige Züchtungen. Das aber nur, wenn sie bezeichnet werden können, in ihren Eigenschaften erkannt und in Baumschulen vermehrt werden.

Obstbäume
Foto: Martin Egbert

Michael Heißenberg arbeitet deshalb an einem umfangreichen Genpool alter Sorten sowie an der Erschließung beziehungsweise Bewahrung des Wissens über sie. Dafür pflanzt er eine möglichst große Zahl Obstbäume verschiedener Sorten an möglichst vielen Standorten. Begonnen hat er 2014 mit 30 Bäumen. Ein Jahr später waren es 90. Heute hat er 5 000 Obstbäume gepflanzt, mit 1 100 verschiedenen Sorten auf 90 Flächen, von Bremen bis an die Ostsee. Äpfel, Quitten, Nüsse, Wildpflaumen, Zwetschgen, Kirschen, Speierlinge, Mispeln. Und natürlich Birnen, von denen es 1 000 Bäume mit 200 verschiedenen Sorten sind. Viele der Flächen gehören zu Biobauernhöfen, andere befinden sich auf Friedhöfen, in Baumschulen, einem Kunstgarten der Nordelbischen Kirche oder Gärtnereien. Eine Fläche hat er sogar im Hamburger Hafen bepflanzt, mit Blick auf Großmarkthallen, Elbbrücken und Kräne.

„Wer sich nicht rechtzeitig wegduckt, wird zugepflanzt“, sagt er mit einem schelmischen Lächeln. Tatsächlich ist Heißenberg ständig auf der Suche nach Standorten. Lohnen tun sich für ihn nur Flächen, auf die mindestens dreißig Bäume passen. Jeder Baum braucht 100 Quadratmeter Platz. Der personelle Aufwand ist der größte Posten in seinem Jahresbudget von 120 000 Euro. Einen Baum zu pflanzen und zu pflegen kostet 100 Euro, dann in den nächsten drei Jahren jeweils 30 und ab dann jeweils 50 Euro pro Jahr. Für das Budget treibt Heißenberg immer wieder Spenden und Fördergelder auf. Und er steckt eigene Mittel in die „Zeitlupe“.

Michael Heißenberg kennt sich in vielen Welten aus. Anfang der 1980er-Jahre hat er bei Joseph Beuys studiert und assistiert. Beuys erweiterter Kunstbegriff, der gesellschaftliche und soziale Prozesse sowie die Natur einschließt, inspiriert ihn bis heute. Nach der Zeit mit Beuys hat er sich als Softwareunternehmer für Logistik selbstständig gemacht. Bis heute entwickelt und pflegt das Unternehmen Programme, etwa für die Deutsche Bahn. Heißenberg ist noch beteiligt, bezeichnet sich aber als Privatier. So kann er sich voll und ganz seiner Leidenschaft widmen, die mit einem alten Apfelbaum begann, den sein Nachbar fällen wollte. Heißenberg rettete den Baum – und gleich den ganzen Rest einer historischen Streuobstwiese mit.

Bei dieser Vielfalt an Interessen und Fähigkeiten, überrascht es kaum, dass ihm auch für den rechtlichen Rahmen seiner lebendigen Genbank aus Obstbäumen etwas Besonderes eingefallen ist.

Sie können Äpfel und Birnen miteinander vergleichen und bestimmen: Jens Meyer, Michael Heißenberg und Jan Bade.
Foto: Martin Egbert

Sie können Äpfel und Birnen miteinander vergleichen und bestimmen: Jens Meyer, Michael Heißenberg und Jan Bade. 

Mit den Besitzern oder Pächtern der Flächen schließt seine Stiftung einen so genannten Aboretenvertrag ab, eine Idee aus der Schweiz. Die Stiftung kümmert sich um die fachgerechte Pflege der Bäume. Die Landeigner pflegen die Fläche, müssen die Bäume in Ruhe lassen, dürfen aber das Obst nutzen. Einige Landwirtschaftsbetriebe verkaufen es in ihren Hofläden, andere treiben die Hühner über die Wiese mit Fallobst, oder sie lassen sie einfach in Ruhe und freuen sich an der reichen Flora und Fauna, der so eine Obstwiese Raum bietet.

Aufgepfropfte Edelreiser

Michael Heißenberg zeigt eine seiner Baumschulen. Sie wächst auf dem Land von Gut Wulfsdorf, einem 360 Hektar großen Demeterhof, mit Laden, Café und eigener Holzofen-Bäckerei. Über den gut gefüllten Parkplatz führt Heißenberg zu der kleinen Baumschule am Rande des belebten Geländes. „Der Boden hier ist locker und ohne Sand.“ Beste Bedingungen für die Wurzelunterlagen, auf die er die so genannten Edelreiser pfropft. Das sind die Ableger der zu vermehrenden Sorte, die er mit dem Messer so anspitzt, dass das Kambium des Edelreisers, also die Nährstoffe transportierende Schicht des Baumes, an dem der Wurzelunterlage liegt. Das Ganze ummantelt er mit einem Band und Bienenwachs als Wundverschluss. Wenn es gut geht, entsteht so ein Obstbaum der gewünschten Sorte. Der ist sein langes Leben lang an einem Wulst am Stamm zu erkennen, der so genannten Veredelungsstelle. Einmal pro Jahr muss der junge Baum umstochen werden, damit sich ein Wurzelballen bildet. Nach etwa drei Jahren kann Heißenberg den Baum auspflanzen.

Für so eine Baumschule braucht es nicht viel Platz. 300 Bäume stehen hier auf nur 200 Quadratmetern. In der Schule experimentiert und lernt Michael Heißenberg. Er zeigt einen kleinen Obstbaum mit Sonnenbrand, einen anderen, der an Krebs leidet. „Wir lassen ihn erstmal stehen, vielleicht erholt er sich wieder.“ Nicht alle Sorten, die er hier vermehrt, taugen als Obst für den menschlichen Verzehr, manches höchstens als Wildfutter. Aber darum geht es ja auch nicht.

„Nicht nur die Sorten gehen verloren, sondern auch das Wissen darum.“ Heißenberg verfügt über eine Obstbaum-Bibliothek mit über 500 Büchern. Andere Experten haben noch viel mehr. Diese nur noch sehr wenigen Pomologen oder Obstbaumkundler haben sich der Lehre der Arten und Sorten von Obst sowie deren Bestimmung und systematischer Einteilung verschrieben. Was aber, wenn sie eines Tages aussterben?

Birnen
Foto: Martin Egbert

Heißenberg arbeitet deshalb zusätzlich an einer Datenbank mit, in der die genetischen Fingerprints von 600 Proben mit der Sortenkenntnis der Pomologie zusammengeführt werden. Die Daten des von der Klaus Tschira Stiftung geförderten Projektes sollen der Fachwelt und der Öffentlichkeit kostenfrei zur Verfügung stehen.

Zwei der Experten, mit denen Heißenberg dafür zusammenarbeitet, sitzen auf den Apfeltagen im Hamburger Botanischen Garten in einem großen Gewächshaus an einem Tisch voller aufgeschnittener Äpfel und Birnen. Besucher können sich von ihnen Obstsorten bestimmen lassen. Der Weg zu Jan Bade und Jens Meyer führt vorbei an einer sehr langen Tafel mit Hunderten Sorten. Die Ansichtsexemplare liegen in Körben mit Schildern, auf denen Namen, Herkunft und Eigenschaften stehen: Rote Dechantsbirne, England 1768, früher weit verbreitet, heute fast verschollen, schmelzendes Fleisch, gut gewürzt, klein, gelb, rundlich; Schöne Angevine, 1847 erstmals beschrieben, gar nicht schön, dunkel, grau, krummer Stengel; Sterckmanns Butterbirne, Belgien um 1820, süß, schön, rote Wangen; Runde Mundnetzbirne, 1628 in Frankreich bereits bekannt, schmelzend, aromatisch. Auf einigen Schildern steht auch: Wer kennt mich? Hier wollen alle voneinander lernen.

„Das Aroma ist kein Kriterium für die Bestimmung, ebenso wenig die Farbe“, erklärt der 60-jährige Jens Meyer. Beides entwickelt sich abhängig davon, wie reif das zu bestimmende Exemplar ist oder wo es im Baum hing und wie viel Sonne und Nährstoffe es abbekommen hat. Was aber dann? Mit einem scharfen Messer schneidet Meyer eine Lebruns Butterbirne auf. Sie ist relativ schlank, hat einen kurzen, starken Stil, der in einer kleinen Grube sitzt. Das alles sind wichtige Merkmale zur Bestimmung, so wie auch Form und Anordnung des Kelches am unteren Ende der Frucht, der aus der Blüte entsteht. Und die Kerne. Jens Meyer pult einen heraus. „Sehen Sie die kleine Ausstülpung? Die hat nur diese Sorte.“

Gewisses Nerdtum

Es gehört schon ein gewisses Nerdtum dazu, um zum Obstexperten zu werden. „Telefonnummern kann ich mir nicht merken, dafür jede Birnensorte“, sagt Jan Bade und fügt lachend hinzu: „Man muss schon ein bisschen verrückt dafür sein.“

Doch die Angelegenheit ist ernst. In Folge des Artenschutzabkommens von Rio hat die Bundesrepublik Deutschland 2002 die Deutsche Genbank Obst (DGO) eingerichtet, ein Netzwerk zur nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Kulturpflanzen. Zwei ihrer wichtigsten Erhalter und Bestimmer sind: Jens Meyer und Jan Bade.

Man braucht nicht lange mit ihnen zu sprechen, um zu erkennen: Erhaltenswert sind nicht nur die alten Obstsorten. Sondern auch die Menschen, die sich darum kümmern. 

 

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