Ein Gebet weit entfernt

Klartext

Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Jürgen Kasiser. Er ist Pfarrer i.R. in Stuttgart.

Neues Denken

SONNTAG JUBILATE, 11. Mai

Ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern … Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom HERRN. Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod. (Sprüche 8,30–31.35–36).

Passend zum Muttertag und dem Sonntag Jubilate jubiliert hier „Sophia“, auf Deutsch: die Weisheit. Und sie tut es in einer Art und Weise, die Traditionalisten erschauern lässt. Denn noch niemand ist Gott so nah gekommen wie ausgerechnet die Sophia, ein weibliches Wesen in einer patriarchalen Welt. Kein Wunder, dass die feministische Theologie ihre helle Freude an dem heutigen Bibelabschnitt hat. Über Jahrhunderte wurde die Weisheitsliteratur nicht besonders ernst genommen, ist sie doch für das Alte Testament recht spät, circa 300 vor Christus entstanden. Die Weisheitsliteratur nimmt ägyptische und hellenistische Vorstellungen weiblicher Weisheit auf. Und das halten Traditionalisten nicht für koscher: Zu stark scheinen die Einflüsse anderer Denkwelten zu sein. Erst heute wird entdeckt, welch große Rolle diese Texte als Brücke zwischen dem Alten und dem Neuen Testament spielen.

So gesehen verkündet der heutige Predigttext ein neues Denken. Die Weisheit, das Wissen um Richtiges und Falsches, ist ein Teil von Gott, aus ihm heraus geboren. Ja, sie ist schon vor der Schöpfung da und feiert diese singend und tanzend. Dann erst erscheint der Mensch und bedroht die Schöpfung. Aber er kann die Weisheit erkennen und sich entsprechend verhalten. Zum Guten: Das bedeutet zukünftiges Leben. Oder zum Bösen: Das führt zum Tod. Der Predigttext passt zum heutigen Tag: Die Nähe Gottes lässt Menschen jubilieren. Der Mensch erkennt die Welt und weiß, was gut und was böse ist. Aber diese Erkenntnis verlangt nach Anwendung.

Vom Stall nach Rom

KANTATE, 18. Mai

Er (der Kerkermeister) führte sie (Paulus und Silas) heraus und sprach: Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde? Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig! Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Haus waren. (Apostelgeschichte 16,30–32)

Zu jeder Bewegung gehören Narrative, Geschichten, die erzählen, wie alles begann und was die Bewegung auszeichnet und von anderen unterscheidet. Lukas ist der Erste, der ein Narrativ der entstehenden Kirche liefert. Seine Geschichte lässt die Bewegung in einem Stall beginnen. Ihre ersten Zeugen sind einfache Hirten im hintersten Winkel Palästinas. Die Geschichte führt nach Rom, in das Zentrum der Macht, Nabel der damals bekannten Welt. Hier endet die Apostelgeschichte des Lukas mit dem predigenden Paulus in seiner Wohnung (Apostelgeschichte 28,30) Seite an Seite mit dem Kaiser von Rom. Wenn das keine große Erfolgsgeschichte ist?

Lukas erzählt aber auch kleine Erfolgsgeschichten. Im heutigen Predigttext spielt er mit dem Begriff des „Herrn“ (Griechisch: Kyrios). Bei diesem Begriff hören seine Zeitgenossen immer auch den Machtanspruch des römischen Kaisers mit, der nicht nur der Oberste der Welt sein will, sondern auch der oberste Gott. In seinem Namen werden Paulus und Silas ausgepeitscht und ins Gefängnis gesteckt. Sogar in den Sicherheitstrakt. Statt zu verzweifeln, singen die beiden ihrem Herrn Lieder (Kantate). Und ein Erdbeben befreit sie. Der Kerkermeister, der über sie gerade noch geherrscht hat, will sich das Leben nehmen. Aber Paulus und Silas halten ihn davon ab und werden nun als „Herren“ angesprochen. Aber diese Anrede weisen sie zurück und verweisen auf ihren „Herrn“. Und mit dessen Kraft vergrößern sie noch in der Nacht die erste christliche Gemeinde Europas. Das ist eine buchstäblich herr-liche Geschichte. So herrlich, dass sie zum Narrativ der in Europa wachsenden Gemeinde wird.

Lukas war ein Meister der Geschichtsschreibung und des Geschichtenschreibens. Auch wenn die ersten Christen noch verfolgt und bedrängt, an allen Ecken bedroht werden und die Zukunft der Gemeinde unsicher erschien, die Botschaft ist klar: Die Seinen lässt der Herr nicht im Stich, damals, heute und in Zukunft.

Erwachsene Christen

ROGATE, 25. Mai

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch; wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben …Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden. (Johannes 16,23+33)

Manche Bibeltexte bleiben einem lange fremd, um einen dann plötzlich, in einer neuen Situation, buchstäblich anzuspringen: weil man sich in einem neuen Lebensabschnitt befindet, zum Beispiel älter geworden ist und sich Erfahrungen und Einstellungen geändert haben. Oder weil die Welt eine andere geworden ist: weil nichts mehr sicher ist, was vor kurzer Zeit noch sicher schien. Weil man sich nicht mehr auf Menschen verlassen kann, auf die man sich vor kurzer Zeit noch glaubte verlassen zu können.

Aber worauf verlassen sich Christen? Jesus bereitet seine Jünger darauf vor, erwachsen zu werden. So wie der johanneische Jüngerinnen- und Jüngerkreis erwachsen werden musste. Denn diese Juden, die Jesus als den angekündigten Messias bekannten, waren bedroht. Sie mussten damit leben, dass sie mit ihrer Erkenntnis eine Minderheit waren und blieben. Und entsprechend verlassen fühlten sie sich.

Jesus bereitet seine Jünger darauf vor, dass sie ohne ihn in einer fremden, feindlich gewordenen Welt zurechtkommen und überleben müssen. Und Jesus rät, in seinem Namen zu beten.

Wer betet, hat ein konkret geglaubtes Gegenüber. Und Jesus versichert, dass dies Gott ist. Wer betet, weiß, dass er nicht allein alles schaffen muss. Und das entlastet. Wer betet, bleibt nicht stumm, sondern hat eine Stimme, die die Sprachlosigkeit überwindet. Wer betet, übernimmt Verantwortung. Denn er tritt für einen oder für etwas ein. Und wer im Namen Jesu betet, tritt in seine Geschichte ein, die Geschichte mit Gott, der einen nicht allein lässt.

Zu Gott können wir Menschen kommen, weil Jesus den Weg zu ihm gezeigt hat. In Jesu Namen zu Gott kommen und damit die Angst zu überwinden, das ist das Gebet. Dazu soll der Sonntag „Rogate“ (auf Deutsch: betet) ermutigen. Und den Schritt dazu leicht machen. Denn „Gott ist nur ein Gebet weit entfernt!“ Das hatte die jüdische Schriftstellerin Nelly Sachs (1891–1970) erfahren, die 1940 noch aus Hitlerdeutschland nach Schweden entkommen konnte. Und es ist die Empfehlung dieses Sonntags.

Überwundene Angst

EXAUDI, 1. Juni

Ihr seid in die Liebe eingewurzelt und gegründet, damit ihr mit allen Heiligen begreifen könnt, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi erkennen könnt, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet, bis ihr die ganze Fülle Gottes erlangt habt. (Epheserbrief 3,17–19)

Dass der fränkische Herrscher Clodwig I. im Jahr 496 nach Christus in der angeblichen Schlacht von Zülpich die Alamannen schlug, soll nur mit Hilfe Gottes möglich gewesen sein. Als Dank dafür ließ er sich an Weihnachten 497 in Reims taufen und wurde römisch-katholisch. Gut fränkisch-germanisch führte das auch dazu, dass sich alle Großen seines Reiches ebenfalls taufen ließen – und die geschlagenen Alamannen gleich mit. So einfach wurde man Christ.

Ganz anders ist das bei dem Paulusschüler, der an die zweite oder gar dritte Generation der Christen in Ephesus schreibt. So etwas wie die Alte Kirche bildet sich bereits. Die Vorbilder der ersten Generation der Christen sind bereits tot, die Identifikationsfiguren fehlen. Hier entwickelt der Epheserbrief eine neue Idee: Eine universelle Kirche entsteht als ein mystischer Leib Christi. Getragen wird diese Kirche von Christinnen und Christen, die im Glauben innerlich gefestigt und sich ihres Glaubens gewiss sind. Gut griechisch ist der Gedanke, zwischen dem inneren und dem äußeren Menschen zu unterscheiden. Der äußere Mensch ist fehlbar, mit Ecken und Kanten, eben Mensch und Sünder. Aber er wird durch die große Liebe Gottes angenommen, obwohl er das nicht verdient hat.

Sich das bewusst zu machen, fordert der heutige Predigttext. Da klingt die Rechtfertigungslehre des Paulus durch, dass der Mensch angenommen ist, obwohl er das nicht verdient hat und sich auch nicht verdienen kann. Das zu erkennen – siehe Augustinus und Martin Luther – schafft den stabilen „inneren“ Menschen.

Worte zum Leben

PFINGSTSONNTAG, 8. Juni

Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten. Und ich will den Vater bitten und er wird euch einen anderen Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit: den Geist der Wahrheit. (Johannes 14,15–17)

Die Jüngerinnen und Jünger Jesu waren in einer verzweifelten Lage: Sie hatten eine Lebensentscheidung getroffen, alles und jeden verlassen und waren dem Wanderprediger aus Nazareth gefolgt. Seit Karfreitag war er tot, nach Ostern zwar einigen Jüngerinnen und Jüngern erschienen, aber dann, an Himmelfahrt, endgültig verschwunden. Nun waren sie allein – desillusioniert, einsam und ratlos.

Diesen Zustand haben die Evangelisten später beschrieben und eingeordnet. Und Johannes tat es auf einmalige Art und Weise: Er legte die Worte des Auferstandenen als Abschiedsrede dem irdischen, leibhaftigen Jesus von Nazareth in den Mund. Genial, denn es wurden wichtige Worte für die Zukunft. Sie zeigen, dass die Botschaft Jesu Worte zum Leben sind, weil sie Zukunft ermöglichen und gestalten. Insofern sind die Abschiedsworte Zukunftsaussagen. Und damit erweist sich der christliche Glaube als eine Religion des Lebens. Gelten soll das Liebesgebot. Es geht um die Liebe Gottes zum Menschen, die es dem Menschen wiederum ermöglicht, selbst zu lieben – und das inmitten einer feindlichen Welt.

Johannes schreibt sein Evangelium um zwischen 100 und 110 nach Christus. Da lebten keine Augenzeugen mehr. Vielmehr war man allein auf Briefe, die ersten Evangelien und die ersten Traditionen und Formeln angewiesen: Von außen waren die christlichen Gemeinden durch Ablehnung bedroht und von innen durch Verschwörungstheorien in Frage gestellt, die bezweifelten, dass Gott wirklich ganz und gar in diese Welt gekommen und Mensch geworden ist. Hier ist die Botschaft, die Johannes überliefert: Es kommt ein „Paraklet“ (Johannes schuf das Wort), ein Herbeigerufener, der einen nicht allein lässt. Ein „Tröster“, wie Luther ihn nannte. Es ist der Geist Gottes, durch den Gott wirkt, bis heute. 

 

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