Der Rahmen des Möglichen

Im letzten Teil unserer Serie zu Themen des diesjährigen Kirchbautages im September in Berlin beschreibt Andreas Hillger die Kirchenlandschaft in Mühlhausen. In der thüringischen Stadt dienen schon lange viele Kirchen säkularen Zwecken.
Ist das nun späte Genugtuung – oder Ironie der Geschichte? Im historischen Herz von Mühlhausen hat man jüngst ein Monument für jene anonymen Opfer enthüllt, die dem aufrührerischen Pfarrer Thomas Müntzer vor 500 Jahren in die Schlacht bei Frankenhausen gefolgt – und zu Tausenden in den Tod vorausgegangen waren. Timm Kregels Bildwerk folgt in eklektischer Manier einem Entwurf von Albrecht Dürer, der einen hinterrücks erstochenen Bauern in trauernder Denker-Pose auf einem Turm aus Feldfrüchten und Werkzeugen zeigt. Ob der Renaissance-Meister mit dieser Illustration für seine „Unterweisung der Messung“ 1525 freilich ein Mahnmal oder eher ein Spottbild schaffen wollte, ist umstritten. Jedenfalls steht der säkulare Säulenheilige, der vom Scheitel bis zum Sockel stolze sieben Meter misst, nun unter freiem Himmel vor der Kornmarktkirche – und weist dem Besucher den Weg in ein Gotteshaus, das ebenfalls der Erinnerung an die menschliche Tragödie des Bauernkriegs dient.
Die Gedenkstätte ist eine jener Kirchen, die in Mühlhausen schon seit geraumer Zeit für weltliche Zwecke genutzt werden. Matthias P. Gliemann, Vorsitzender des Thüringer Landesdenkmalrates und seit 22 Jahren in gleicher Funktion auch an der Spitze des Zweckverbands Mühlhäuser Museen tätig, zählt auf: Die Kornmarktkirche war als Franziskanerkloster bereits im Zuge der Reformation 1542 vom Orden aufgegeben und nur bis 1802 für Gottesdienste genutzt worden. Die Jakobikirche wurde 1831 der Kommune übereignet, die Pfarrei der Kilianikirche 1920 aufgelöst. Im Vorfeld des 450-jährigen Bauernkriegs-Jubiläums 1975 wechselte St. Marien aus kirchlichem in staatlichen Besitz, die Allerheiligenkirche rettete man nach jahrzehntelangem Leerstand noch 1989 in den Bestand der Mühlhäuser Museen. Und die Antoniuskapelle diente als Teil des städtischen Hospizes ebenfalls lange vor ihrer heutigen Umnutzung der kommunalen Vorsorge. Was andernorts als Ausverkauf allerdings für flächendeckende Säkularisierung gesorgt hätte, ist hier nur gerechte, paritätische Teilung: Von den elf gotischen Kirchen, die das turmreiche Mühlhausen in seinen Mauern vereint, sind fünf noch immer in evangelischer Hand. Die Marienkirche wird als größtes Gebäude im Bestand zu kirchlichen Feiertagen noch immer für Gottesdienste genutzt – und mit St. Josef sowie mit Bonifatius ergänzen zwei katholische Kirchen im neogotischen Stil das innerstädtische Panorama.
Katalog für Kirchbautag
Wegen dieser Vielfalt kann man die thüringische Stadt mit ihren aktuell etwa 37 000 Einwohnern auch als Musterkatalog für den Kirchbautag lesen, der sich im September in Berlin mit den Möglichkeiten für die Umnutzungen beschäftigen wird. Der Architekt Gliemann, der als Leiter des Hochbau- und Liegenschaftsamtes seit der Wende die Generalsanierungen der Gotteshäuser federführend betreut hat, verweist stolz auf die mögliche Vielfalt – und auf selbst gesetzte Grenzen. So habe etwa St. Kiliani zu DDR-Zeiten als Ersatzteillager der Fahrzeugwerkstatt „Autoflott“ gedient, was der Mühlhäuser Superintendent Christian Beuchel mit augenzwinkerndem Verweis auf die damalige Mangelwirtschaft als „weltliches Sanktuarium“ bezeichnet. Nach der Wende habe eine eigens gegründete Bürgerstiftung das abermals leerstehende Gemäuer dann zur Spielstätte für das lokale 3K-Theater ertüchtigt, was freilich radikale Umbauten wie den Einzug einer Zwischendecke und technische Installationen erforderte. In der Jacobikirche, die von den Nationalsozialisten einst zur Weihehalle umgewidmet werden sollte und schließlich ebenfalls als Lagerraum überdauerte, wurde nach der Sicherung der baufälligen Substanz ab 1998 eine öffentliche Bibliothek eingezogen – ein implantiertes „Regal“ auf drei Ebenen, das von zwei holzverkleideten Funktionstürmen flankiert wird.
Und während die mehr als 800 Jahre alte Hospiz-Kapelle als Seminar- und Begegnungsraum heute das Zentrum der privat betriebenen Herberge AntoniQ bildet, dienen immerhin drei der säkularisierten Kirchen vorrangig als Ausstellungsraum – mit allen Vorzügen und Nachteilen, die eine solche Umnutzung mit sich bringt. In Vorbereitung der Landesausstellung, die unter dem Titel „freiheyt 1525“ derzeit das Bauernkriegs-Jubiläum würdigt, stellte sich hier einmal mehr die Frage nach der fachgerechten Präsentation von wertvollen Exponaten: Während sich die Gemeinde im befreienden Licht versammeln will, brauchen die Artefakte eher schützendes Dunkel. In Mühlhausen ist man mit solchen Herausforderungen freilich vertraut. Die Seitenschiffe von St. Marien bevölkerten bereits seit 2018 „Einhörner und Drachentöter“ als Dauerleihgabe aus der Weimarer Sammlung mittelalterlicher Kunst, in der Kornmarktkirche widmete man sich mit der Ausstellung „Luthers ungeliebte Brüder“ radikalen Reformatoren. Dort hat man die Chance des Jubiläums nun genutzt, um flächendeckend Barrierefreiheit herzustellen und den Verlauf der Ereignisse chronologisch nachzuzeichnen. In der Marienkirche nimmt man die Lebenswelt des 16. Jahrhunderts in den Blick, in der Allerheiligenkirche lädt ein offenes Geschichtslabor zu begleitenden Veranstaltungen ein. Und im Kulturhistorischen Museum wird die Rezeptionsgeschichte des Bauernkriegs erzählt – ein raumgreifender Parcours, der auf einer Ausstellungsfläche von 1 500 Quadratmetern insgesamt rund 400 Exponate vereint.
Selbstbewusstes Zeichen
Dass dabei auch die bewegte Geschichte der Mühlhäuser Gemeinden in den Blick geraten muss, liegt nahe: Pfarrer Beuchel stört sich seit langem an der Tafel neben dem Eingang zur Superintendentur, die Thomas Müntzer als rein historische Figur ehrt, ohne den theologischen Grund seiner Lehre zu würdigen. Nun will er die in Stein gemeißelten Lettern mit einer gläsernen Platte überschreiben, die diesen fundamentalen Aspekt betont. Parallel wird in Divi Blasii – der evangelischen Hauptkirche im heutigen Mühlhausen – eine Ausstellung aus den Beständen der Wittenberger Stiftung Christliche Kunst gezeigt, die Druckgrafik des 20. Jahrhunderts unter dem Motto „Leiden. Freiheit. Gerechtigkeit“ vereint. Damit setzt man ein selbstbewusstes Zeichen gegen die weltliche Deutungshoheit, die wohl auch durch allzu rat- und kraftlosen Umgang der Kirchen mit dem Thema Bauernkrieg entstanden ist.
Umgekehrt klingt Matthias P. Gliemanns Prognose für die Zukunft von säkularisierten Kirchen wie ein fernes Echo der einstigen Bauernkriegs-Artikel: „Das Eigentum ist das Entscheidende“, sagt er unter Verweis auf „verträgliche, dem Objekt würdige“ Nutzungen. So habe man den Protestanten nach 1989 die Rückübereignung der Marienkirche angeboten, was diese aber dankend abgelehnt hätten. Seither gewähre der Zweckverband aus Stadt und Landkreis, der vom Freistaat institutionell gefördert wird, den Gläubigen Gastrecht in ihrem einstigen Haus – eine relativ unkomplizierte Regelung, die nur in diesem Jubiläums-Sommer ausgesetzt werden müsse. Gastronomischen Konzepten hingegen würde der Mühlhäuser Stadtrat eine Absage erteilen, während man andernorts durchaus Restaurants als Alternative zum drohenden Leerstand bevorzuge.
Ein Ausstellungsstück im Kulturhistorischen Museum belegt übrigens, wie Mühlhäuser Protestanten einst selbst gegen vermeintliche Götzenbilder in ihren Kirchen wüteten: In einem Zinnfiguren-Diorama wird der Bildersturm gezeigt, der am Dreikönigstag 1525 sämtliche Heiligenfiguren der Marienkirche von ihren Sockeln fegte und auch die Steinskulpturen am Portal in Mitleidenschaft zog. Von solchem Furor, den man in sozialistischen Zeiten als „frühbürgerliche Revolution“ feierte, ist man inzwischen weit entfernt. Die „Bauernsäule“ vor der Kornmarktkirche wurde weitgehend durch Spenden finanziert und setzt somit ein Zeichen für bürgerschaftliches Engagement.
Andreas Hillger
Andreas Hillger ist Autor und Dramaturg. Er lebt in Dessau-Roßlau.