Unvergleichlich niederrheinisch

Dem Kabarettisten und Dichter Hanns Dieter Hüsch zum 100. Geburtstag
Es war sein letzter offizieller Auftritt: Hanns Dieter Hüsch am 19. Januar 2001 anlässlich des Jubiläums „100 Jahre Kabarett“ in Berlin.
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Es war sein letzter offizieller Auftritt: Hanns Dieter Hüsch am 19. Januar 2001 anlässlich des Jubiläums „100 Jahre Kabarett“ in Berlin.

Hanns Dieter Hüsch war nicht nur ein ganz besonders großer Kleinkünstler, Kabarettist und Schriftsteller, sondern auch ein ernsthafter evangelischer Christ. Der Theologe Okko Herlyn erinnert an den Mann aus Moers am Niederrhein, der die alte Bundesrepublik geprägt hat und der in diesem Jahr einhundert Jahre alt geworden wäre.

Ein Glück, dass es den Himmel gibt.“ Wäre ein solcher Satz aus dem Munde eines gegenwärtigen Kabarettisten denkbar? Wohl kaum. Im Gegenteil: Kirche, Glaube, Religion scheinen der aktuellen Kleinkunstszene kaum noch einer eingehenden Erwähnung wert, von ein paar wohlfeilen Seitenhieben auf die sexuellen Missbrauchsfälle einmal abgesehen. Hanns Dieter Hüsch war in dieser Sache anders aufgestellt. Differenzierter, nachdenklicher, entschiedener.

Die sich seiner erinnern, verbinden mit „Hüsch“ vor allem den Niederrhein. Die Wiesen und Weiden, die Cafés und Küchen, die vielen schrulligen Menschen zwischen Emmerich-Elten und Rumeln-Kaldenhausen. Er selbst stammt aus Moers. Am 6. Mai 1925 kommt er dort mit einer Missbildung seiner Füße zur Welt. „Mein Leben verdanke ich meinen Füßen“, schreibt er. In der Tat. Die vielen Behandlungen und Operationen machen ihn in frühen Jahren ein Stück weit einsam. Wo andere Kinder draußen spielen und herumtollen, hat er viel Zeit. Zeit zum Beobachten, zum Hinhören und Nachsinnen. Eine Fähigkeit, die ihm noch einmal zugutekommen soll. Sein Leben verdankt er allerdings noch aus einem anderen Grund seinen Füßen: Sie bewahren ihn vor Hitlerjugend und Kriegsdienst.

Hanns Dieter Hüsch, der „Moerser Jung“ und doch lange Jahre der durchaus ungeliebte Sohn seiner Stadt, das „schwarze Schaf vom Niederrhein“, wie er sich selbst gelegentlich etwas kokett nennt. Dass er nicht nur die Weite, sondern auch die Enge, nicht nur das Gemütvolle, sondern auch das Spießige des Niederrheins immer wieder genussvoll und sprachgewaltig auf die Schippe nimmt, stößt in seiner Heimatstadt zunächst überhaupt nicht auf Gegenliebe.

Bald zieht es ihn in die Ferne. Nach Mainz, in die Schweiz, später nach Köln. In Basel trifft er – man staune – auch auf Karl Barth, der „seinen Christenmenschen manchmal empfahl, den Kirchgang auszulassen und dafür in eine Matinee der Arche Nova zu gehen“, Hüschs damaliges Kabarett. Ansonsten schlägt der sich mit kleineren künstlerischen Auftragsarbeiten, als Chansonnier, Nachrichten- und Synchronsprecher durch. So leiht er etwa Laurel & Hardy, hierzulande als „Dick und Doof“ bekannt, seine deutsche Stimme. Erst als er mit seiner eigenwilligen Kleinkunst anderenorts mehr und mehr Erfolg hat, wird man am Niederrhein gewahr, dass er seiner Heimat – gewissermaßen unter Marketinggesichtspunkten – durchaus nützlich sein könnte. Moers nimmt ihn, den ehemals Ungeliebten, mit offenen Armen wieder auf.

Sogar Hüsch-Schokolade

Heute gibt es dort nicht weniger als einen Hüsch-Platz, ein Hüsch-Denkmal, eine Hüsch-Stele, eine Hüsch-Gedenktafel, ein Hüsch-Bildungszentrum, eine Hüsch-Dauerausstellung, einen „Freundeskreis Hanns Dieter Hüsch“, eine Hüsch-Schokolade, einen Hüsch-Kakaobecher und nicht zuletzt ein Hüsch-Ehrengrab auf dem Hülsdonker Friedhof. Bis vor Jahren noch traf man in Moers kaum jemanden, der nicht mit ihm zur Schule gegangen, nicht mit ihm benachbart, nicht mit ihm eng befreundet oder gar über die eine oder andere Ecke verwandt war. Mehr Hüsch geht nicht. Trotz seiner früh erfahrenen Kränkungen bekennt er zeitlebens: „Alles, was ich bin, ist niederrheinisch.“ Davon zeugen vor allem seine zahllosen mundartlich gefärbten Texte von Gesprächen über den Gartenzaun, in irgendeiner Kneipe, auf Hochzeiten oder Beerdigungsnachfeiern. In ihnen weist er überzeugend nach, dass der Niederrheiner „zwar nix weiß, aber alles erklären kann“.

Und doch täte man ihm Unrecht, wollte man ihn auf den gemütvollen niederrheinischen Poeten reduzieren. Diese Reduktion vergisst, dass es auch noch andere Seiten an ihm gab. Sehr andere. Da ist vor allem der gesellschaftskritische und politische Hüsch. Viele seiner Texte und Lieder mischen sich unmissverständlich in das Zeitgeschehen ein, wenn er etwa die westdeutsche Wohlstandsgesellschaft, das politisch verschleiernde Gerede oder die militärische Aufrüstung geißelt. Unvergessen seine „Gesänge gegen die Bombe“, sein Anschreiben gegen die Kriegstreiberei, gegen jede Verherrlichung von Gewalt. Eindringlich, wie er immer wieder vor einer Verharmlosung des Nationalsozialismus und einem Wiedererstarken des Faschismus warnt, der bereits auf dem Spielplatz beginnt, nämlich da, wo man den anderen geringachtet, ihn ausgrenzt oder auch nur nicht mitspielen lässt: „das lodert auf im Handumdrehn / und ist auf einmal Weltgeschehn / denn plötzlich steht an jedem Haus / die Juden und Zigeuner raus“. Nicht nur solche Sätze sind aktuell geblieben.

Im politischen Milieu der Achtundsechziger, das ihn mit Mitstreitern wie etwa Franz Josef Degenhardt, Wolfgang Neuss oder Dieter Süverkrüp künstlerisch zusammenführt, kommt es allerdings dann auch zu einem für ihn traumatischen Erlebnis. Bei einem gemeinsamen Song-Festival auf der Burg Waldeck im Hunsrück wird Hüsch von der Bühne gebuht. Der Vorwurf: Er sei mit seinen Texten einem „bourgeoisen Verniedlichungstrend“ erlegen. Verbittert zieht er sich für eine Weile aus Deutschland zurück.

Künstlerisch bleibt er sich allerdings treu. Das verhilft ihm in den 1970er-Jahren zum endgültigen Durchbruch auf den deutschen Kleinkunstbühnen mit etlichen Tourneen quer durch die Republik. Hinzu kommen feste Hörfunk- und Fernsehengagements. Seit den 1980er-Jahren tritt er vermehrt auch in kirchlichen Kontexten auf: auf Kirchentagen und in Gemeinden. Er trägt dort eigene Psalmen, Gebete und Segenswünsche, ja ganze Predigten vor. Einer seiner Texte bringt es sogar ins Evangelische Gesangbuch (EG 779).

Mit einem Mal ein anderer Hüsch? Einer, der gewissermaßen auf seine alten Tage noch fromm geworden ist? Gar die alten aufklärerischen Ideale „verraten“ habe, wie ihm etwa von Degenhardt spöttisch hinterhergerufen wird? Mitnichten.

Aus seiner protestantisch grundierten Biografie hat Hüsch – „Zufällig Deutscher / Und ein bisschen evangelisch …“ – nie einen Hehl gemacht. Taufe, Kindergottesdienst, Konfirmandenunterricht und kirchliche Feste sind ihm vertraut. Diskussionen im Moerser Pfarrhaus gehören zu seinen prägenden Jugenderfahrungen. Zahlreiche biblische Anspielungen ziehen sich immer wieder durch seine Texte. Er, der allem Institutionellen, allen Gesinnungsnormen, „allen Systemen und Spielregeln, allen Konzepten und Kompositionen, allen Welt-Erklärungen, überhaupt allen Erklärungen“ grundsätzlich skeptisch gegenübersteht, bekennt freimütig: „Die Kirche ist für mich das Haus Gottes, und das ist auch mein Haus.“ Gelegentlich lässt er verschmitzt verlauten, dass er nirgendwo Mitglied sei, „außer in der GEMA und der Kirche“. Gewiss gab es auch in seinem Leben immer wieder verschiedene Nähen und Distanzen zum christlichen Glauben und zur Kirche. Bei wem gäbe es sie nicht? Doch der künstlich konstruierte Gegensatz zwischen „ehedem politisch“ und „am Ende fromm“ funktioniert bei Hüsch nicht. Auch in seinen frömmsten Äußerungen bleibt Hüsch der gesellschaftlich Kritische, der politisch Engagierte, der überaus Wache.

Dogmatik beiseitelegen

Wollte man eine „Theologie des Hanns Dieter Hüsch“ schreiben, so müsste man ein dogmatisches Lehrbuch vermutlich für eine Weile beiseitelegen. Den lieben Gott – „übrigens ein hervorragender Akkordeonspieler“ – trifft man bei ihm vor allem bei den machtlosen Leuten, bei den Zukurzgekommenen und Spurenlosen, bei den Gekränkten und Suchenden. Deshalb: „Ich sing für die Verrückten, die seitlich Umgeknickten …“ Hier scheint die biblische Botschaft von dem Gott, der auf der Seite der Kleinen, der Schwachen, der Verlorenen steht, durch. In den Sprüchen Salomo heißt es: „Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“ Und bei Jesaja: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen.“ Hüsch kennt seine Bibel.

Gleichzeitig nimmt er sich immer wieder alle Freiheit für ein eigenes, originelles, durchaus auch wechselndes Gottesbild: „Ich möchte mir den lieben Gott wirklich wie einen vorstellen, der plötzlich in Dinslaken in einem Stehbistro steht und da seinen Espresso trinkt.“ Andererseits: „Gott sitzt in einem Kirschenbaum / und ruft die Jahreszeiten weiter aus. / Er träumt mit uns den alten Traum / vom großen Menschenhaus.“

Oder auch: „Gott ist nicht leicht / Gott ist nicht schwer / Gott ist schwierig / Ist kompliziert ist hochdifferenziert / Aber nicht schwer / Gott ist das Lachen nicht das Gelächter / Gott ist die Freude nicht die Schadenfreude / Das Vertrauen nicht das Misstrauen …“

Wer genau hinhört, stellt bald fest, dass Hüschs christliches Bekenntnis nur scheinbar kindlich-naiv daherkommt. Der „Traum vom großen Menschenhaus“, den er immer wieder beschwört – Geschwisterlichkeit, Barmherzigkeit, Solidarität –, das sind für ihn keine frommen Phrasen, sondern tiefe religiöse Wahrheiten inmitten einer kälter werdenden Welt.

„Ich setze auf die Liebe.“ Entschieden kommt er in seinen Gebeten, Psalmen und Predigten immer wieder auf dieses zentrale biblische Motiv zu sprechen: „Das ist das Thema / Den Hass aus der Welt zu entfernen …“ Freilich: „Jeder weiß besser woran es liegt / Doch es hat noch niemand den Hass besiegt / Ohne ihn selbst zu beenden / Er kann mir sagen was er will / Er kann mir singen wie er’s meint / Und mir erklären was er muss / Und mir begründen wie er’s braucht / Ich setze auf die Liebe! Schluss!“ Wohl ist „Schluss“ mit jeglicher Diskussion um das, was in dieser hasserfüllten Welt um Gottes Willen zu zählen hat. Nicht aber mit unseren notwendigen, wenn auch oft kläglichen Versuchen, der Liebe inmitten genau dieser Welt Geltung zu verschaffen, so mühsam das auch sein mag. „Die Frage ist, die Frage ist, / sollen wir sie lieben, / diese Welt? / Sollen wir sie lieben? / Ich möchte sagen, wir wollen es üben.“

An Paulus erinnert

Es ist kein Zufall, dass Hüschs bedingungsloses Bekenntnis zur Liebe immer wieder genauso entschieden in das Thema „Frieden“ einmündet. „Wenn die Krieger kommen … / Geh ihnen entgegen mit offenen Händen, / … Dass sie sich verirren im / Labyrinth Deiner Freundlichkeit. / Mach sie Staunen, / Beschäm ihre Generäle und Präsidenten, / So dass sich die Landpfleger sehr verwundern.“ Unwillkürlich fühlt man sich an die Empfehlung des Apostels Paulus erinnert, sich gerade nicht „vom Bösen überwinden zu lassen, sondern das Böse mit Gutem zu überwinden“ (Römer 12,21). Feindesliebe als Unterlaufen der Aggression des Gegners, als dessen „Beschämung“. In biblischer Bildsprache: im Sammeln „feuriger Kohlen auf sein Haupt“ (Sprüche 25,22). Wohl fängt ein solcher Friede bereits „beim Frühstück an“, hört dort allerdings noch lange nicht auf, zieht vielmehr am Ende „von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent“. Ja, Hanns Dieter Hüsch war überzeugter Pazifist. Wie er sich heute entscheiden würde, wissen wir nicht.

Biblische Prophetie

Die Vision vom Weltfrieden ist seine von ihm selbst so bezeichnete „Utopie“, die immer wieder im Bild vom „großen runden Tisch“ aufblitzt, an dem alle, auch die Verschiedensten Platz haben – „mit Ausnahme der Faschisten“. Gleichwohl seufzt er fast resignierend: „Das ist die Zeit, die ich nicht mehr erlebe.“ Eine Anspielung auf Mose, der das Gelobte Land zwar von ferne sehen, es aber nicht mehr betreten darf? Oder an Martin Luther King, der am Vorabend seiner Ermordung predigt: „Ich habe hinübergesehen. … Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen“? Die Utopie – entgegen dem berühmten Diktum von Altkanzler Helmut Schmidt, wonach, wer Visionen habe, doch besser zum Arzt gehen sollte – ist hier notwendige Inspiration zur Veränderung. Geradezu im Pathos biblischer Prophetie nimmt Hüsch für diese Aussicht Gott selbst in die Pflicht: „Steh auf, Gott, unter den Völkern. / Erhebe dich aus deiner Götterdämmerung, / damit es uns endlich dämmert / und wir den Tag erleben. / Dein ist das Reich / und die Kraft und die Herrlichkeit.“

Der ehemalige rheinische Präses und EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider hat Hanns Dieter Hüsch mit Recht „nicht nur eine evangelische Stimme“, sondern auch „eine Stimme des Evangeliums“ genannt. In der Tat, „seine“ Kirche hat ihm bis heute viel zu verdanken. Zahlreiche Predigten, Andachten oder kirchliche Grußworte greifen inzwischen auf ein Hüsch-Zitat zurück. Sein berühmtes Psalm-Wort „vergnügt, erlöst, befreit“ schmückt den offiziellen Briefkopf der Evangelischen Kirche im Rheinland. Es gibt etliche Vertonungen seiner geistlichen Texte. Hüsch, der neue evangelische Säulenheilige? Nach Johann Sebastian Bach sozusagen der „sechste Evangelist“, der sich post mortem gegen seine massenhafte Vereinnahmung nicht mehr zu wehren vermag?

Vorsicht! Wer den „frommen“ Hüsch heute zitiert, sollte auch den Hüsch, der nicht ein spirituelles Wohlfühlbedürfnis bedient, zur Kenntnis nehmen. Sollte von ihm lernen, gerade das Unbequeme, das Sperrige der biblischen Botschaft neu wahrzunehmen, ja, schlicht „das Wort Jesu nachzubuchstabieren“. Sollte sich nicht nur die „süffigen“, die vermeintlich immer irgendwie „passenden“ Hüsch-Texte gefallen lassen, sondern vor allem seine eindringliche Warnung davor, die christliche Botschaft intellektuell zu entschärfen:

„Sie sagen

Idealismus ist ein Intelligenzdefekt.

Ich glaube es nicht

Sie sagen

Die Bergpredigt wäre nicht so gemeint.

Ich glaube es nicht

Sie sagen

Du sollst nicht töten ist so zu verstehen, dass ...

Ich glaube es nicht

Sie sagen

Bei etwas gesundem Menschenverstand

Müsste doch jeder ...

Ich glaube es nicht

Sie sagen

Selbst Christus würde, wenn er heute ...

Ich glaube es nicht

Und wenn man mir Berge

Schwarzen und roten Goldes verspricht

Ich glaube es nicht.“

Wenn etwas von Hanns Dieter Hüschs theologischem Werk die Zeit überdauern sollte, dann diese sperrige, ungemütliche „Stimme des Evangeliums“. 

 

Literatur
Okko Herlyn (Hg.): Ein Glück, dass es den Himmel gibt. Psalmen, Gebete und geistliche Gedanken von Hanns Dieter Hüsch, Neukirchen-Vluyn 2025.

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