Alle Jahre wieder … kommt nicht nur das Christuskind, sondern kommen auch die jährlichen Kirchenaustrittszahlen – gottlob nicht zu Weihnachten, denn sie sind kein Grund zur Freude. In früheren Jahren wurde die Bilanz meist verschämt-listig im Sommerloch kommuniziert, um keine Wellen zu schlagen. Diesmal aber kamen die Zahlen mitten in der Passionszeit, in der Woche des Sonntags Okuli Ende März. Da gehören sie „liturgisch“ auch hin. Denn die Austrittszahlen sind zwar numerisch auf 345 000 zurückgegangen, gegenüber 380 000 im Jahr 2023 (vergleiche Seite 71). Aber das ist, wenn überhaupt, ein schwacher Trost, denn diese scheinbare Abnahme relativiert sich, schließlich gab es Anfang 2023 ja noch deutlich über 19 Millionen evangelische Kirchenmitglieder. Anfang 2024 waren es nur 18,6 Millionen Menschen, die den Kirchen im Raum der EKD angehörten, jetzt knapp 18 Millionen. Insofern ist die numerische Abnahme der Austritte um gut neun Prozent schon eine Augenwischerei, weil die Austrittsquote an der Kirchenmitgliedschaft mit 1,86 Prozent nur sehr geringfügig besser ist als 2023, als es 1,96 Prozent waren. Man kann sich also weiterhin merken: Etwa zwei Prozent der Kirchenmitglieder treten jährlich aus. Und ob sich dieser Trend zum Positiven ändert, ist mehr als fraglich.
Jenseits der unerfreulichen Tendenz der Zahlen stellt sich natürlich jedes Jahr die Frage: Woran liegt es? Die große Wahrheit ist seit Jahrzehnten dieselbe: Traditionsbindung und mit ihr Institutionsbindung nehmen ab. Und zwar in wachsendem Tempo. Und speziell für die Kirchen gilt, dass sich jetzt immer mehr bemerkbar macht, dass die Kinder bereits nicht getaufter heutiger junger Erwachsener meist auch nicht getauft werden. Das vielgehörte Argument „Ach, das kann er/sie ja entscheiden, wenn er/sie groß ist“ hat zwar durchaus die Tauftheologie des Neuen Testaments auf seiner Seite, das Handeln danach ist der flächendeckenden Kirchlichkeit in unserem Lande aber äußerst abträglich. Häufig wird, besonders von aufgeregten Konservativen behauptet, dass die angeblich „rot-grüne, woke“ EKD die Leute aus der Kirche treibe. Dieses auch von AfD-Kreisen gern gepflegte Narrativ ist vielleicht in Einzelfällen nicht von der Hand zu weisen, vermittelt aber letztlich ein Zerrbild. Genauso wenig ist es ein realistisches Szenario, dass eine linksbewegte, aktivistische Kirchenbewegung mehr Leute zur Mitgliedschaft bringen würde.
Was also tun? Eigentlich gar nichts Besonderes. Vor allem nicht verzagen. Die Kunst der nächsten zwei, drei Jahrzehnte wird es sein, das bestehende Kirchensystem so zu reformieren beziehungsweise zu transformieren, dass sich neue Perspektiven ergeben, die heute erst in nuce zu sehen sind. Das wird in Deutschland in verschiedenen Geschwindigkeiten vonstattengehen, denn die Verhältnisse sind im Osten Deutschlands andere als zum Beispiel in Württemberg. Vor allem gilt es, klug bei der Sache zu bleiben. Und die kann immer noch gut mit den Worten umschrieben werden, die Dietrich Bonhoeffer im Mai 1944, in ungleich schwereren Zeiten als heute, als Aufgabe der Kirche in der Gefängniszelle niederschrieb: „Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit“.
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.