
Im Jahr 1975 erschien die erste ausführliche Schrift der EKD zum Verhältnis von Kirche und Judentum, der zwei weitere folgten. Die EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs, die auch dem „Gemeinsamen Ausschuss Kirche und Judentum“ von EKD, UEK und VELKD angehört, würdigt die Schriften, in deren Folge viele neue Wege zwischen den beiden Schwesterreligionen gegangen wurden. Ihr Beitrag ist der erste einer Folge von Texten, die in diesem Jahr in zeitzeichen erscheinen werden.
Das Schicksal des jüdischen Volkes steht heute verstärkt im Blickfeld.“ – Mit diesem Satz eröffnet die erste von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) herausgegebene Studie zum Verhältnis von Kirche und Judentum ihre klugen Ausführungen – damals wie heute erschreckend aktuell und auffordernd zeitgemäß. Damals – das war vor 50 Jahren.
Daran gilt es zu erinnern – denn angesichts eines zunehmend unverhohlenen Antisemitismus in unserem Land und des Erstarkens rechtspopulistischer Positionen ist die Erinnerung an eine 50-jährige jüdisch-christliche, letztlich erfolgreiche Dialoggeschichte ein Kontrapunkt zur Polarisierung und Sprachlosigkeit dieser Tage. Wohlgemerkt: Keinem Optimismus der kirchlich rosa-roten Brille soll hier das Wort geredet werden, wohl aber mit allem Realismus des verbindenden Glaubens einer Wirklichkeit Raum gegeben, die von Zuversicht getragen immer wieder Annäherung ermöglicht und dabei auch den produktiven Streit nicht scheut. Auch angesichts der wiederaufkeimenden Gewalt im Nahen Osten, die furchtbares Leid über die Menschen bringt und auch in unserem Land tiefe Konflikte hervorruft. All dies, um gegenseitiges Einverständnis zu erzielen und dem Gemeinsamen Kraft zu verleihen.
Und dabei geht es zunächst um nichts weniger als um den einen Gott, dem Menschen vertrauen, obwohl sie ihn nicht sehen können. „Christen und Juden I“ – dieser fünf Jahrzehnte alte, klärende Grundsatztext steht deshalb zuallererst für die Umkehr, nach dem Versagen der evangelischen Kirche im Nationalsozialismus und trotz dessen, den Dialog aufzunehmen und zu lernen, wie unabdingbar wichtig es ist, mit Jüdinnen und Juden solidarisch zu sein und füreinander einzustehen. In diesem Sinne wurde auch angesichts des terroristischen Angriffs der Hamas auf Israel und des wieder erstarkten Antisemitismus mit der EKD-Synode 2023 bewusst wiederholt: Christlicher Glaube und Antisemitismus sind unvereinbar, ja, Antisemitismus ist Gotteslästerung.
Erst 1950 explizit erwähnt
Die Wiederaufnahme des Dialogs der Kirche mit dem Judentum nach dem Schrecken der Shoa fußt auf einem Ereignis, dessen wir in diesem Jahr ebenfalls gedenken. Vor 75 Jahren, am 27. April 1950, beschließt die in Berlin-Weißensee tagende EKD-Synode ein „Wort zur Schuld an Israel“. Dort wird, anders als in der bis heute bekannteren Stuttgarter Schulderklärung von 1945 und dem Darmstädter Wort des Bruderrates der EKD von 1947, das Judentum explizit erwähnt. Die EKD sieht sich „mitschuldig geworden an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist“. Dass man auch aufgrund der jahrhundertealten theologischen Irrwege Schuld auf sich geladen hatte, drang mehr und mehr ins Bewusstsein. Es dauerte aber dann doch noch bis 1967, bis der Rat der EKD eine Studienkommission „Kirche und Judentum“ berief, die es sich zur Aufgabe machte, das Verhältnis der Kirche (und der Theologie) zum Judentum auf- und auszuarbeiten. Am 24. Mai 1975 wurde die Studie „Christen und Juden“ der Öffentlichkeit übergeben. Sie wurde deshalb zur ersten Studie, weil ihr noch eine zweite (1991) und dritte (2000) folgen sollten.
An der Stelle der damaligen Studienkommission „Kirche und Judentum“ steht heute der Gemeinsame Ausschuss „Kirche und Judentum“ der EKD, der UEK und der VELKD, der die Aufgabe hat, auf der Ebene der EKD die jüdisch-christlichen Begegnungen zu fördern, die neue Verhältnisbestimmung von Kirche und Judentum zu implementieren und die Kirchenleitungen in Fragen, die das Verhältnis zum Judentum betreffen, zu beraten.
Im Jahr 2000 hat die Synode der EKD in Erinnerung an die Weißensee-Synode das Wort zur Schuld von damals mit einer Kundgebung fortgeschrieben, die mit den Schlussworten einen Doppelpunkt markiert: „Die Bemühungen um ein geschwisterliches Verhältnis von Christen und Juden sind eine für Kirche und Theologie zentrale Herausforderung und bleibende Aufgabe.“ Im Jahr 2002 erschienen dann alle drei Studien zusammen (Christen und Juden I – III mit einem Anhang der Synoden-Dokumente), die seither auch auf der Homepage der EKD abrufbar sind.
Zeitgemäß und aktuell
Das Vorwort dieser Gesamtausgabe weist darauf hin, dass es nicht genügt, wenn sich Synoden, Theologietreibende und engagierte Gruppen auf den Weg der Neuorientierung machen. „Die Kirche im Ganzen, ihre Gemeinden selber, alle ihre Glieder sind herausgefordert, sich neuen Erkenntnissen zu öffnen und die neuen Einsichten im Zusammenleben mit jüdischen Menschen zu bewähren“. Und voll Hoffnung füge ich hinzu: nicht nur die Kirche im Ganzen, sondern auch die Gesellschaft im Ganzen. Denn es stimmt: Bücher, Kundgebungen, Statements und Studien sind sind zwar ausdrucksstark, bewegen jedoch wenig, wenn sie nicht in Herzen und Gedanken bewegt werden: in lebendigen Gesprächen, an konkreten Orten, mit mutigen Aktionen, eben zeitgemäß und aktuell, immer wieder.
Kritische Selbstreflexion
Die Studie „Christen und Juden“ lädt ein zum Weitermachen. Gut so. Erinnerung braucht Zukunft. Zwei Aspekte dazu sind zur Einordnung wichtig:
Erstens: Verständnis füreinander braucht Wissen voneinander und eine kritische Selbstreflexion. Wenn christliche Irrwege verlassen werden sollen, muss zunächst an Glaubensgewissheiten erinnert werden, die auf den gemeinsamen Weg zurückführen. Die Studie beschreibt deshalb das Gewachsen-Sein der Christenheit aus der jüdischen Tradition und gleichzeitig den gemeinsamen Boden, auf dem jüdischer und christlicher Glaube stehen. Das sind weniger Daten und Fakten, sondern Erfahrungen mit Gott, wie sie in unseren Heiligen Schriften erzählt werden und in synagogalen und kirchlichen Gottesdiensten betend, singend, hörend artikuliert werden. Das ist das Getragen-Sein von Gottes Gerechtigkeit und Liebe. Das ist der Glaube an Gottes Wirken in der Zeit und die Hoffnung, dass dieser Gott über alles Irdische hinaus die Zukunft ist. Wir brauchen Theologie als dauerndes und intensives Studium der Heiligen Schrift, als Erforschen der Sprachen und Kulturen, die das Jüdische und das Christliche prägen – Theologie, die Glaubenssätze deutet und sie so feinfühlig wie argumentativ ins Gespräch bringt. Dass wir bei aller unterschiedlicher Bezogenheit aufeinander auch miteinander Theologie treiben können, haben viele Initiativen der vergangenen Jahrzehnte gezeigt – sei es mit dem Programm „Studium in Israel“, mit wechselseitigen, methodisch geleiteten Auslegungen unserer biblischen Zentraltexte, mit Forschungsverbünden und Werken wie dem Institut Kirche und Judentum in Berlin (gegründet 1960). Sie fördern reflexive Durchdringungen der Schriften und das Benennen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden.
Menschsein lebt von Unterscheidungen, die gelegentlich Beziehungen bis aufs Äußerste gespannt sein lassen, aber immer noch Beziehung und nicht Trennung bedeuten. Wer unterscheidet, hat sich noch immer etwas zu erzählen und entdeckt Gemeinsames, am besten gemeinsam – Studium in Israel und mit Israel. Die Studie arbeitet theologisch wissensbasiert heraus, wie Glaubensgemeinschaften auch Interpretationsgemeinschaften sind und immer auch lernende Gemeinschaften bleiben.
Zweitens: Dialog braucht ehrliches Interesse an- und Neugierde aufeinander; die Lust also, über den Tellerrand hinaus zu denken und sich überraschen zu lassen. Wie zum Beispiel der neugierige Abraham, der doch einmal wissen wollte, wer da unter den Bäumen in Mamre vor seinem Zelt lagerte. Überraschung: Es sind Gottes Boten. Sara lauscht. Auch sie ist neugierig und muss vor Überraschung lachen, wird dabei nicht bloß-, aber zur Rede gestellt – im Sinne des „Bleib nicht drinnen, hinter dem Vorhang, sondern: Zeig dich und sprich mit uns! So können wir spüren, was dich bewegt“. Auch Jesus weckt die Neugier, so dass ihm die Menge zu Füßen lagerte, ihn berühren wollte, mit ihm zusammensitzen wollte. Und wenn einer auf dem Baum saß, hat er sich kurzerhand bei ihm eingeladen: Zeig dich und sprich mit uns. Damit du spüren kannst, was Gott bewegt.
Solche Neugierde ist übrigens das Gegenteil von Argwohn. Solche Neugierde ist die Haltung des Erzähl-Einmal. Nimm mich mit, zeige mir deine Welt – Christen und Juden I hat nicht umsonst auch die religionspädagogische Arbeit belebt.
Nicht nur theologische Institute brauchen eine intellektuelle Neugier füreinander, auch schulische und kirchliche Bildungsarbeit lebt von den menschlichen Begegnungsorten. Und wenn es nötig ist, müssen solche Verständigungsorte für unsere Glaubenstraditionen als safe spaces markiert werden, damit auch Fragen und Irritationen in vertrauensvoller und geschützter Atmosphäre geäußert werden können. In aller Geschwisterlichkeit braucht es Begegnungen, gerade nach Zeiten der Trennung, zu deren Überwindung die erste Studie „Christen und Juden“ beitragen wollte und will.
Nun zeigt aber die Geschwistermetaphorik, mit der die Studie und viele öffentlichen Wahrnehmungen gerne spielt: Das Verhältnis kann schnell in Schieflage geraten. Wer mit Geschwistern groß geworden ist, weiß das. „Ein Herz und eine Seele“ – das ist eine Idealvorstellung. Geschwistergeschichten sind Konfliktgeschichten – von Anfang an. Geschwister können unterschiedlicher nicht sein, trotz oder gerade wegen derselben Abstammung und der vielen – auch unbewussten – Gemeinsamkeiten. Geschwister sind immer auch Konkurrent*innen, von klein an: Es geht um die Gunst der Anerkennung, um Vertrauen, ums Erbe und um Eitelkeiten: Kain und Abel, Jakob und Esau, Lea und Rahel, Marta und Maria.
Hort von Gewalt
Aber wenn sich Geschwister zusammenraufen, dann wird es auch möglich, das Blickfeld neugierig mehr und mehr zu weiten. Familienähnlichkeiten gibt es nicht nur bei direkten Abstammungslinien. Ähnlichkeiten, vor allem im Religiösen, entdecken wir auch im Trialog neu, können Gemeinsames benennen und unsere Unterschiedlichkeit zur Sprache bringen. Ich weiß, Sprache ist auch ein Hort von Gewalt und Demütigung. Wir erleben es auf offener, politischer Bühne, aber auch – horribile dictu – in der Sprache des Gebetes. Aber gerade, weil alles, was Menschen tun und sagen, auch missbraucht und missdeutet werden kann, sind wir als Kirche und mit unseren Religionsgeschwistern und -freunden herausgefordert, weiter im Gespräch zu bleiben.
Zukunft braucht Erinnerung – nicht nur daran, wohin Unverständnis, böswillige Zerrbilder und Trugschlüsse führen können und uns die Stimmen heute wieder mahnen müssen: So hat es damals auch angefangen. Zukunft braucht Erinnerung an das, was vor 75 und 50 Jahren und durch die Jahrzehnte mit allen Unzulänglichen neu begonnen hat und beginnt – immer auf die Umkehr und das Gute bedacht.
Texte und Studien – sie sind zuallererst Verständigungsorte, die zu weiterer Wissbegierde und Neugierde anregen, die Fragen und Offenheiten markieren, die Fehler und Fehleinschätzungen benennen, Argumentationslinien entwirren und zu einem tieferen Verstehen ermutigen.
So arbeitet auch die Studie „Christen und Juden“ in uns und durch uns weiter – sei es bei den Begegnungen der beiden Rabbinerkonferenzen und der beiden Kirchen in unserem Land, sei es an runden, dialogfördernden Tischen, sei es in den Arbeitskreisen zum jüdisch-christlichen Dialog in den Gemeinden und Kirchenkreisen vor Ort. Sie zeigen: Wir machen weiter und setzen fort – immer wieder, auch in Korrektur des Alten. Papier ist eben nicht geduldig. Papier provoziert Fortschreibungen – lebendige Texte, hörbare Sprache und offene Räume in und als Zeitzeichen.
Information
In nächsten Ausgabe schreibt Kristin Weingart zur Wiederentdeckung des Alten Testaments in der neueren christlichen Theologie.
Kirsten Fehrs
Kirsten Fehrs ist Ratsvorsitzende der EKD und Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck.