
In einer fortgeschrittenen Mediengesellschaft und einer politischen Öffentlichkeit, die zunehmend von extremistischen Kräften geprägt ist, können Christen und Kirchen geistige Ressourcen anbieten, die die Demokratie braucht. Michael Strauß, Pressesprecher der braunschweigischen Landeskirche, erläutert, warum.
Wir leben in aufgeheizten Zeiten. Und das gilt nicht nur für das meteorologische Klima. Auch das gesellschaftliche Klima hat sich spürbar erhitzt. Debatten verlaufen zunehmend emotional; und oft stehen Positionen unversöhnlich gegeneinander. Der Andere ist nicht mehr nur der Gegner, sondern der Feind, der unschädlich gemacht werden muss. Die Bruchlinien in unserer Gesellschaft werden größer. Sie spalten und machen Konsens und Kompromiss immer schwerer. Und so wächst die Gefahr, dass liberale Demokratien an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und damit auch ihrer Zustimmung in der Bevölkerung geraten.
Vor allem deshalb, weil der Kampf um politische Geltung und Gestaltung nicht mehr nur zwischen demokratischen Parteien erfolgt, sondern in erheblichem Ausmaß von extremistischen Kräften geprägt ist. Folgen wir dem Verfassungsschutz, ist der Rechtsextremismus, wie er in der AfD vertreten wird, die ideologische Verirrung, der wir besondere Aufmerksamkeit schenken müssen. Dabei behaupten viele, die AfD sei eine legitime politische Kraft, weil sie in demokratischen Wahlen Unterstützung erhalten habe. Und deshalb sei es die Pflicht aller Demokraten, die Partei als Ausdruck des Wählerwillens zu akzeptieren.
Doch die Tatsache, dass die AfD demokratisch gewählt wurde, ist nur die halbe Wahrheit. Wer sich die ideologischen Grundlagen der Partei anschaut, erkennt, dass viele ihrer Ziele mit demokratischen Werten nicht in Einklang zu bringen sind. Denn sie basieren auf einem völkisch-nationalistischen Staats- und Gesellschaftsmodell, das Anleihen nimmt bei weltanschaulichen Vorstellungen, die bereits im Nationalsozialismus wegleitend waren. Es sind Vorstellungen, die nicht allen Menschen dieselbe Würde zukommen lassen, wie es in Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt, sondern so genannten Bio-Deutschen eine Vorrangstellung zuschreiben. Das aber führt zu Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.
Deswegen reicht es nicht, die AfD nur daran zu messen, ob sie demokratisch gewählt wurde. Es reicht auch nicht, nur einzelne ihrer politischen Positionen zu diskutieren. Entscheidend ist, der Ideologie der AfD auf den Grund zu gehen. Machen wir das, können wir erkennen, dass die AfD keine demokratische Partei wie andere ist, sondern im Kern eine Weltanschauung vertritt, die demokratischen Werten widerspricht. Mit anderen Worten: Die AfD ist eine demokratisch gewählte Partei, die aber selber keine demokratische Partei ist, sondern – im Gegenteil – darauf abzielt, die Demokratie zu unterwandern, zu delegitimieren und am Ende – wenn sie die Macht hat – durch ein illiberales, autoritäres Regime zu ersetzen.
Autoritäres Regime
Was aber, wenn viele Bürgerinnen und Bürger die AfD trotzdem wählen? Aus Protest, aus Unkenntnis über die ideologischen Grundlagen oder vielleicht sogar bewusst aus Unterstützung für antidemokratische, rechtsextreme Ziele. Eine einfache Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt.
Die freiheitliche Demokratie mutet ihren Bürgerinnen und Bürgern einiges zu. Sie erwartet, dass diese mündig und in der Lage sind, respektvoll und vernünftig, gleichberechtigt und von Fakten geprägt an einem öffentlichen Diskurs teilzunehmen, der am Ende einen größtmöglichen Konsens ermöglicht. Was nicht bedeutet, dass die eigene Position obsiegt. Die Demokratie bietet keine Gewähr für die Durchsetzung partikularer Interessen, sondern lediglich dafür, dass diese in einem geordneten Prozess Gehör finden können. Und es gehört zu diesem Prozess, dass diejenigen, die sich mit ihren Interessen nicht durchsetzen, den mehrheitlich errungenen Konsens respektieren. Trotz Unzufriedenheit und Enttäuschung. Deswegen gilt: Demokratie muss gelernt werden.
Die Bundesrepublik Deutschland hat 1945 dafür die Chance erhalten. Nach der totalen Katastrophe des Nationalsozialismus war es Deutschland durch die Alliierten im Westen vergönnt, ein demokratisches Staatswesen und eine freiheitliche Gesellschaft aufzubauen. Das Grundgesetz wurde die beste Verfassung, die unser Land je hatte, und legte die Basis für ein Gemeinwesen, das sich seiner demokratischen Ausrichtung mehr und mehr vergewisserte. Auch in Zeiten der Bedrohung von innen und außen. Die Grundrechte, als Abwehrrechte gegen einen übergriffigen Staat formuliert, sind in besonderer Weise Stützpfeiler unserer Demokratie geworden: der Schutz der Menschenwürde und die persönlichen Freiheitsrechte, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit der Meinung, Kunst und Wissenschaft, die Versammlungsfreiheit oder auch die Berufsfreiheit.
Mit vierzig Jahren Verspätung konnten die Ostdeutschen an dieser Erfolgsgeschichte der Demokratie und der freiheitlichen Gesellschaft teilhaben. Doch wir stellen fest, dass vierzig Jahre sozialistischer Diktatur Spuren hinterlassen haben, die sich bis heute auswirken. Vielleicht heute sogar wieder stärker als in den ersten Nachwendejahren. Jedenfalls sehen wir in Ostdeutschland eine starke AfD, die gerade kein gutes Beispiel für Demokratie und Freiheit ist. Die Partei versteht es, eine Stimme von Menschen zu sein, die sich – zu Recht oder Unrecht – als Modernisierungsverlierer fühlen und die Angst davor haben, dass die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse ihnen ihre regionale und geistige Heimat streitig machen.
Gelernte Demokratie
Angst und Verunsicherung aber, auch das Gefühl, Veränderungen ohnmächtig ausgeliefert zu sein, sind der geistige Nährboden, auf dem extreme Positionen gedeihen. Sie sind der Nährboden für Misstrauen und Wut und für absurde Verschwörungserzählungen. Sie sind gleichzeitig die Basis für den Erfolg politischer Parteien, die es verstehen, all das zu instrumentalisieren und auf die eigenen Mühlen zu leiten. Durch eine populistische Propaganda, die Menschen einfache und schnelle Lösungen verspricht. Doch für einfache und schnelle Lösungen ist unsere Welt zu kompliziert. Gerade dann, wenn wir uns an die Regeln des Rechtsstaates halten. Und alles andere wäre für Demokraten nicht akzeptabel.
Hinzu treten Faktoren, die den Eindruck verstärken, unser Leben sei zunehmend unsicher und dass die demokratischen Institutionen kaum noch in der Lage seien, den Herausforderungen erfolgreich zu begegnen. Dazu gehört eine mediale Kommunikation, die oft wenig zur Zuversicht beiträgt, sondern vor allem Krisen beschreibt sowie den Streit darüber, wie Krisen beendet werden könnten, ohne dass deutlich wird, wie. Wir leben in einer fortgeschrittenen Mediengesellschaft, die ohne Unterlass um unsere ungeteilte Aufmerksamkeit buhlt – indem sie Reize triggert, denen wir uns oft kaum entziehen können.
Die Auswirkungen dieses medialen Wandels können wir uns nicht dramatisch genug vorstellen. Bis in die 1990er-Jahre waren es vor allem analoge und lineare Medien, die unsere Öffentlichkeit hergestellt haben: gedruckte Zeitungen und Magazine, Hörfunk und Fernsehen, ob öffentlich-rechtlich oder privat. Seitdem hat die Digitalisierung unsere Welt in rasanter Geschwindigkeit verändert und damit auch die mediale Kommunikation.
Mediennutzer sind nicht mehr nur passive Konsumenten, sondern interagieren aktiv mit Medieninhalten durch Kommentare, Likes oder die Erstellung eigener Inhalte. Nachrichten verbreiten sich in Echtzeit über soziale Medien und digitale Plattformen. Einflussreiche Social-Media-Kanäle wie TikTok, X oder Instagram prägen mittlerweile die Diskurse und politischen Debatten. Ihr Trend zur Personalisierung sorgt überdies dafür, dass Algorithmen Inhalte gezielt an Nutzerinteressen anpassen, so dass „Filterblasen“ und „Echokammern“ entstehen, in die sich viele Menschen zurückziehen und die gesellschaftlichen Prozesse der Verständigung erschweren.
Nicht zuletzt tendieren die Medien dazu, ihre Kommunikation zu emotionalisieren. Damit schaffen sie eine gereizte Grundstimmung. Wutausbrüche und Hassäußerungen nehmen zu. Sachliche, respektvolle und von Anstand geprägte Auseinandersetzungen geraten weiter in die Defensive. Auch mit der Folge, dass professioneller Journalismus, der auf sorgfältiger Recherche, Urteilsfähigkeit und Fakten beruht, nur noch ein schwindendes Publikum und damit immer öfter kaum noch eine ausreichende wirtschaftliche Basis findet.
So verstärkt die fortgeschrittene Mediengesellschaft den Eindruck, dass wir in einer Welt leben, die außer Rand und Band geraten ist. Die Freiheit ist für viele keine Verheißung und kein positives Versprechen mehr, sondern vor allem ein Fluch und eine Last. Die Freiheit erzeugt zunehmend Feinde, die sich in ihren „Echokammern“ verschanzen und Andere außerhalb der eigenen Sphäre als Bedrohung empfinden. Dabei ist doch die Freiheit in jahrhundertelangen Kämpfen gesellschaftlich errungen worden. Sie zu bewahren und als sozialen Diskursraum zu retten, ist das Gebot der Stunde.
Nähe zum Christentum
Auch Christen und Kirchen sind aufgerufen, sich daran nach Kräften zu beteiligen. Das Christentum vertritt zwar keine allgemeine Staatstheorie – es hat im Laufe seiner Geschichte unter verschiedenen staatlichen Verhältnissen existiert –, aber der Staat des Grundgesetzes mit seiner demokratischen Verfassung entspricht in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild. Werte wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit haben eine große Nähe zum Christentum, wie wir es heute verstehen, und verdanken sich zum Teil dieser Tradition.
So haben Christen und Kirchen nach 1945 eine aktive Rolle beim Aufbau der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland gespielt. Bei aller konstitutiven Trennung von Staat und Kirche haben sie ihren Öffentlichkeitsauftrag wahrgenommen, den sie nicht nur aufgrund biblisch-theologischer Einsichten ausüben, sondern auch aufgrund entsprechender Regelungen in Verträgen mit den Bundesländern. Sie bekennen ihren Glauben nicht nur in Gottesdiensten und Kirchengebäuden, sondern auch durch die Teilnahme an gesellschaftlichen und politischen Debatten. Sie positionieren sich nicht parteipolitisch, aber sie wollen Politik für das Gemeinwohl möglich machen. Dabei tragen Christen insbesondere ihre ethische Orientierung am Nächsten und an der sozialen Gerechtigkeit ein.
Möglicherweise kommt es auf die Ressourcen des Christentums in Zukunft sogar wieder stärker an. Denn wir sind angewiesen auf geistige Quellen, die den Angriffen auf unsere Demokratie in einer fortgeschrittenen Mediengesellschaft standhalten können. In einer Welt, die außer Rand und Band zu geraten scheint, brauchen wir Akteure, die Hoffnung und Zuversicht verbreiten können; die vernünftig bleiben und Ruhe bewahren, wenn die öffentliche Debatte apokalyptisch wird; die nicht Feindschaft und Ausgrenzung das Wort reden, sondern der Menschlichkeit und dem Recht Stärke verleihen. Wir brauchen Ressourcen, die uns in einer reizüberfluteten Öffentlichkeit resilient, medienkompetent und mental stark machen, damit die Freiheit nicht zu einer Kraft mutiert, die unsere Gesellschaft implodieren lässt.
Zur Besinnung kommen dürfte angesichts dessen eine entscheidende Fähigkeit sein. Genau dafür macht das Christentum Angebote. Es bietet uns den Raum und die Zeit, uns unterbrechen zu lassen in den gewohnten Routinen medialer und politischer Kommunikation. An jedem Sonntag zum Beispiel setzt es ein Stoppzeichen und fordert uns auf: Nimm dir eine Auszeit von dem, was dich die Woche über beschäftigt. Suche den Abstand zu dem, was dich bedrängt. Hör auf, ohne Unterlass deiner Psyche negative Impulse zuzumuten. Ja, lass dich anrufen von jener anderen, lebensbejahenden Macht, die das Christentum Gott nennt. Und vielleicht wäre sogar Medienfasten eine gute Idee, um unserer inneren Unruhe und Angst, unserer Sorge um die Welt und dem Teufelskreis aus Hass und Verblendung in geeigneter Weise zu begegnen. Für alles brauchen wir schließlich das richtige Maß, um gesund zu bleiben. Das gilt auch für den Gebrauch der Medien.
Gegen die Hass-Botschaften
In der Besinnung werden wir empfänglich für ein anderes, ein neues Verhältnis zur Welt. Genau das ist im Kern die christliche Botschaft. Sie enthält eine alternative Erzählung zum Angst- und Untergangsnarrativ unserer Tage; eine gute Nachricht, die sich stemmt gegen die Hass-Botschaften in unserer Medienwelt. Das Christentum ruft uns in eine Gemeinschaft des Friedens und der Versöhnung; eine Gemeinschaft, in der die Fremden unsere Weggefährten sind und nicht unsere Feinde.
Das klingt nach Utopie. Und genau das ist dem Christentum in seiner Geschichte ja auch immer wieder vorgeworfen worden. Gleichwohl hat es die Hoffnung auf eine bessere Welt bewahrt, so dass viele konkrete Impulse für ein humanes und würdevolles, soziales und solidarisches Miteinander hier ihren Ursprung fanden. Denn die Hoffnung ist eine Quelle für selbstwirksames Handeln.
Michael Strauß
Michael Strauß ist Leiter des Referates für Kommunikation und Medien der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig.