Bedrohlich heimatlos

Politisch konservative Christenmenschen fremdeln zunehmend mit der EKD
Bedrohlich heimatlos
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Politisch konservative Mitglieder der evangelischen Kirche finden sich in den rot-grün gefärbten Positionen und Äußerungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) immer weniger wieder. Das führt zu einer Entfremdung, die gefährlich werden kann, nicht nur für die Kirche, sondern auch für die Demokratie. Wie kann diese Entwicklung gestoppt werden? Die zeitzeichen-Redaktion hat nachgefragt.

In fast unberührtem Weiß strahlt die radikal neugestaltete St.-Hedwigs-Kathedrale in Berlins Mitte, die erst vor wenigen Monaten nach jahrelangem Umbau wiedereröffnet wurde. Ein Sakralraum für das 21. Jahrhundert, bis auf wenige Ausnahmen frei von religiöser Kunst aus den vergangenen Epochen und dem manchmal auch schwierigen Erbe der Vergangenheit. Bevor der neu gewählte Bundestag erstmalig im nahe gelegenen Reichstagsgebäude zusammenkommt, feiern zahlreiche Abgeordnete hier miteinander einen ökumenischen Gottesdienst: Prominente wie der kommende Bundeskanzler Friedrich Merz und Julia Klöckner, die kurz darauf zur neuen Bundestagspräsidentin gewählt werden wird. Doch auch sogenannte Hinterbänkler, Neulinge und scheidende Parlamentarier, MdBs aus allen Fraktionen sind gekommen – und nicht zuletzt der Bundespräsident.

Sie hören vor der Predigt von Prälat Karl Jüsten, dem Vertreter der katholischen Kirche bei der Bundesregierung, die Begrüßung von Anne Gidion, ebenfalls Prälatin und Bevollmächtigte der EKD bei der Bundesregierung. Sie wünscht den Abgeordneten „safe spaces“ und meint damit „Orte innerer Gewissheit, dass Sie mehr sind als das, was Sie leisten“. Zu diesem Mehr trügen die Kirchen gerne mit ihren seelsorglichen Angeboten bei. Aber auch mit „Stellungnahmen, die Sie manchmal unnötig und manchmal hilfreich finden werden“, sagte Gidion. Manche schmunzeln bei dem Satz, andere kneifen die Lippen zusammen.

Denn charmant spielt Gidion hier an auf einen Brief, genauer eine Mail als Vorspann einer fundierten Kritik am sogenannten Zustrombegrenzungsgesetz, die beide Beauftragten den Bundestagsabgeordneten kurz vor der Bundestagswahl geschickt hatten. Anlass war ein politisches Manöver des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, der mit den Stimmen der AfD Ende Januar einen Entschließungsantrag für einen verschärften Umgang mit Migrant:innen durch das Parlament brachte. Dieses Vorhaben hatten Jüsten und Gidion scharf kritisiert, vor einer Diffamierung aller in Deutschland lebenden Migranten und Migrantinnen gewarnt und rechtliche Zweifel an dem Vorhaben geäußert. Zudem erinnerten sie an das Versprechen von Unionsfraktionen und Ampel, keine Abstimmungen herbeizuführen, „in der die Stimmen der AfD ausschlaggebend sind“, und warnten: „Wir befürchten, dass die deutsche Demokratie massiven Schaden nimmt, wenn dieses politische Versprechen aufgegeben wird.“

Im Kirchraum sitzt auch Thomas Rachel, langjähriger Bundestagsabgeordneter der CDU und Mitglied im Rat der EKD. Der Brief sei in den Reihen der Fraktion „auf deutliche Kritik gestoßen“, sagt er im Gespräch mit zeitzeichen. Denn die kirchlichen Beauftragten sollten doch eigentlich zeigen, wie man in schwierigen Zeiten miteinander umgeht. „Dafür war der Brief nicht hilfreich“, sagt Rachel, in der Tonalität und auch wegen des Zeitpunktes seiner Versendung kurz vor der Wahl. „Dass Bundeskanzler Scholz, der bei seiner Vereidigung auf den Gottesbezug verzichtet hat, die Stellungnahme der Kirchen dann aber in der Bundestagsdebatte wahlpolitisch einsetzt, ist ein Treppenwitz der Geschichte.“

Deutlicher in der Kritik an beiden großen Kirchen wird Journalistin Hannah Bethke, die für die Tageszeitung Die Welt über kirchliche Themen schreibt. Im Deutschlandfunk erklärte sie: „Was die Kirchen hier unternommen haben, war keine Lappalie. Wenige Wochen vor der Bundestagswahl derart deutlich Stellung zu beziehen und die Positionen der Union zu diskreditieren, kann nicht anders denn als versuchte Beeinflussung des Wahlkampfes gewertet werden. Das aber ist nicht Aufgabe der Kirche – selbst dann nicht, wenn sie eine politische Position nicht mit ihrem christlichen Selbstverständnis in Einklang zu bringen vermag.“

Nun sitzen in den Reihen in diesem Eröffnungsgottesdienst viele CDU-Mitglieder und verabschieden sich hinterher freundlich von Jüsten und Gidion. Man könnte die Sache mit dem Brief also als eine von vielen Aufregungen in Wahlkampfwochen abtun, in denen es generell hoch hergeht. Doch das wäre zu einfach.

Freiwilliges Tempolimit

Denn es geht schon länger immer wieder um die Frage, wie (partei-)politisch Kirche sich äußern sollte, welche Rolle politisch konservativere Menschen noch in einer Kirche spielen, die öffentlich eher rot-grüne Positionen bezieht und manchmal noch darüber hinausgeht. So beschlossen EKD-Gremien in den vergangenen Jahren etwa ein freiwilliges Tempolimit für kirchliche Mitarbeiter:innen, unterstützten ein Schiff zur Rettung von Geflüchteten ins Mittelmeer, begrüßten die (gescheiterte) Reform des Abtreibungsrechts und die Streichung des Schwangerschaftsabbruchs aus dem Strafgesetzbuch.

Thomas Rachel verweist als weiteres Beispiel auf den Auftritt von Aimée van Baalen (Letzte Generation) auf dem EKD-Synodaltreffen 2022 (vergleiche zeitzeichen 12/2022). „Auf der Bühne der Synode wird einer Sprecherin der Letzten Generation 15 Minuten das Wort gegeben. Man verschafft ihr und ihrer radikalen NGO eine hohe mediale Aufmerksamkeit.“ Eine kritische Diskussion über das, was sie sagt, und die Aktionen der Letzten Generation war nicht vorgesehen, was nachvollziehbarerweise auf Unverständnis in breiten Teilen an der Gemeindebasis gestoßen sei. „Dabei wurde ja inhaltlich kontrovers diskutiert, aber nur mit einigen Synodalen hinter verschlossenen Türen.“ Wozu das führen kann, formuliert er so: „Ich bin in Sorge, dass viele Menschen aus dem bürgerlichen Milieu mit einem traditionelleren Glaubensverständnis in unserer Kirche zunehmend heimatlos werden.“

Begann es mit Beckstein?

Die Theologin Ellen Ueberschär, geboren in Ost-Berlin, ist eine von drei Vorständen der Stephanus-Stiftung in Berlin-Weißensee. Sie gehörte dem Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung an und war viele Jahre Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Auch sie beobachtet eine Entfremdung von konservativen Politikern und Politikerinnen von der evangelischen Kirche. „Aber ob das an der Kirche liegt oder an der Politik, die sich einfach mehr traut gegenüber den Kirchen, weil die so marginalisiert sind, könnte ich nicht einschätzen.“

Wann begann diese Entfremdung? Etwa an jenem Novemberabend 2013, als der langjährige CSU-Politiker und Vize-Präses der EKD-Synode Günther Beckstein, der als sicherer Kandidat für die Nachfolge von Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) im Amt des Präses galt, von den Synodalen durch zweimalige Nichtwahl zum Rückzug gezwungen wurde? Seitdem sind die Konservativen im Präsidium der Synode nicht mehr vertreten. Aber auch das ist nur ein Symptom für eine Entwicklung, die viel früher begann.

Reiner Anselm, Professor für Systematische Theologie und Ethik in München und langjähriger Vorsitzender der EKD-Kammer für Öffentliche Verantwortung, beginnt mit seiner Analyse auf Anfrage von zeitzeichen einige Jahrzehnte früher, beim Eintritt von Gustav Heinemann, dem späteren Bundespräsidenten und Mitgründer der pazifistischen Kleinpartei GVP, in die SPD 1957. Spätestens da sei deutlich geworden, „dass die Post-Godesberg-SPD durchaus zahlreiche Protestanten anspricht, gerade aus dem linksprotestantischen Lager“.

Kirchenpolitisch sei dann die „Heinemann-Kohorte“ letztlich bis zum früheren EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm stark prägend gewesen. „Durch diese Prägekraft aber ist etwas aus dem Blick geraten, dass es eben auch einen deutlichen Anteil von evangelischen Kirchenmitgliedern gibt, der sich zwar dem humanistisch-christlichen Wertefundament der SPD verpflichtet weiß, sich aber in grundlegenden gesellschaftlichen und auch politischen Auffassungen von ihr unterscheidet, gerade in der Wirtschafts- und der Familienpolitik, später dann auch in der Migrationspolitik.“ Diese Gruppe habe eigentlich keine richtig passende politische Heimat, da eben der evangelische Akzent der Union nie besonders stark war.

Eine Führungsfigur in der EKD, die ungenannt bleiben will, ist mit Blick auf solche parteipolitischen Zuordnungen skeptisch: „Es gibt keine Entfremdung konservativer Menschen, gerade in der Politik, von der evangelischen Kirche an sich.“ Es sei vielmehr so, dass vor allem Synodenpositionen etwa zum Flüchtlingsschiff („United for Rescue“) gegenüber der „Last Generation“ oder in Klimafragen von manchen Konservativen vor allem parteipolitisch gelesen werden. „Es geht also um vermeintlich links-grüne, aber von den Synoden gar nicht so gemeinte Positionen, also nicht um eine Entfremdung gegenüber der evangelischen Kirche generell.“

Aber es sei klar, „dass die Demokratie weltweit unter Beschuss ist und die freiheitlich-fluide Gesellschaft um ihren Fortbestand stärker kämpfen muss als früher“. Das letzte Wort sei aber in dieser Hinsicht noch nicht gesprochen: „In Zeiten des Weniger-Werdens sowohl der politischen Parteien wie der Kirchen wächst sowohl die Sensibilität für die Positionen der Kirche beziehungsweise der Parteien – als auch das Gefühl, dass man am Ende zugleich ein wenig aufeinander angewiesen ist.“

Sebastian Kranich, Direktor der evangelischen Akademie in Thüringen, sieht auch die Notwendigkeit, Gemeinsamkeiten zu suchen. Er beschreibt zwar die EKD auch gut 30 Jahre nach der Wiedervereinigung als „westdeutsch“ geprägt, was bei vielen kirchlich traditionelleren Kirchenmitgliedern im Osten, gerade in den ländlicheren Regionen, für Befremden sorge. Deshalb sei die Kritik grundsätzlich berechtigt.

Dass sie sich aber nun ausgerechnet an der Mail an die Bundestagsabgeordneten entzündet, sei falsch. „Hier gilt es, klar Position zu beziehen“, sagt Kranich. „Wir sind hier täglich im Kampf um die Demokratie.“ Denn die starke Position der AfD in vielen Regionen Ostdeutschlands sei besorgniserregend. Zwar gebe es auch in vielen Kirchengemeinden Ostdeutschlands den „braunen Elefanten im Raum, über den niemand sprechen will“. Aber gerade deshalb sei es wichtig, auch die sehr Konservativen „mit im Geschäft“ zu halten. „Sonst sind wir geliefert“, meint Kranich und meint damit nicht nur die Kirche, sondern auch die Demokratie.

Trost statt Politik

Auch die Journalistin Hannah Bethke sieht die Demokratie unter Druck, macht dies aber vor allem an den veränderten Kommunikationsstrukturen in der Gesellschaft fest. Im Deutschlandfunk erklärte sie: „Die öffentliche Debatte ist durch Social Media, Echokammern und eine grassierende Informationskrise derart kontaminiert, dass die sachliche Auseinandersetzung zu einem mühsamen Unterfangen wird.“

In dieser angespannten Lage wäre eine Institution, die frei von solchen Verwerfungen ist und für die Menschen ein Ort der Ruhe sein kann, nötiger denn je, meint Bethke. Die Kirche könnte das bieten. „Es muss einen Ort geben, an dem sie Trost finden können – nicht noch mehr Politik.“ Thomas Rachel stimmt dem zu, wenn er sagt: „Die Kirchen sollten sich auf ihre eigene Botschaft, auf das Evangelium konzentrieren. Das ist das, was sie ausmacht, was sie von anderen unterscheidbar macht.“

Auch außerhalb des politischen Spektrums regt sich Widerstand gegen eine angeblich einseitig links-grün positionierte EKD, nämlich auf dem im Jahr 2023 begründeten Internetforum Kirche und Theologie (www.forumkth.net). Dort sammeln sich mehrheitlich Theologinnen und Theologen, die den offiziellen politischen Positionierungen der EKD eher kritisch gegenüberstehen, auch wenn dies nicht offen ausgesprochen wird. Aber diese Tendenz ist den fünf Punkten des Missionsstatements der Gruppierung auf dem Webportal abzuspüren. Dort heißt es: „Das Forum Kirche & Theologie möchte die Verengung von Theologie und Kirche auf ethisch-moralische Kommunikation überwinden und der Versuchung von Kirche und Theologie entgegenwirken, die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln sein zu wollen.“ Begründung: „Der christliche Glaube lässt sich nicht auf innerweltliche Handlungsimpulse reduzieren“, sondern eröffne „neue Perspektiven auf die Welt und auf das Dasein und Handeln des Menschen“.

Zu den Vorstandsmitgliedern gehören unter anderem die Theologin Annette Weidhas, Programmleiterin der renommierten Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig, und einige Theologieprofessoren wie Günter Thomas (Bochum), Ralf Frisch (Nürnberg) oder Alexander Dietz (Hannover). Letzterer bekennt auf dem Portal, das neugegründete Forum sei für ihn „ein Ort, an dem endlich wieder ohne ideologische Scheuklappen kontrovers und ergebnisoffen theologisch diskutiert werden kann – in einer Atmosphäre wirklichen Respekts vor Vertretern anderer Positionen anstelle von Emotionalisierung, Moralisierung und Radikalisierung“. Insbesondere hoffe er darauf, dass das Forum einen Beitrag zur Wiederentdeckung des transmoralischen Kerns der Rechtfertigungslehre und damit der Aktualität und Relevanz der christlichen Botschaft leiste.

Hier ist zumindest zwischen den Zeilen deutlich zu lesen, dass sowohl der politische Kurs wie auch die angebliche theologische Verflachung und überzogene Moralisierung der EKD den meisten der in diesem Forum Versammelten ein Dorn im Auge sind.

Aber: Haben diese Stimmen Recht, oder reiten sie nur auf der alten konservativen Welle, alles, was an politischer Positionierung von der EKD kommt, als „links-grün“ zu diskreditieren?

Kristin Jahn ist seit 2021 Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, der zu Beginn dieses Monats in Hannover stattfindet und spätestens seit den 1970er-Jahren zu einem Kristallisationspunkt des politischen Protestantismus geworden ist. Die Friedensdiskussion der 1980er-Jahre, die Asyldebatte der 1990er-Jahre und zuletzt die Klimapolitik und das Agieren der „Letzten Generation“ prägten die Treffen.

Kritische Selbstbefragung

Doch parteipolitische Kategorien taugen zur Beschreibung der Lage nicht, meint Jahn. „Für mich sind es weniger konservative, linke oder Mitte-Positionen, in denen Kirche sich selbst zu definieren hat. Das sind doch auch gar nicht die Kategorien theologischen Denkens oder Sprachmuster, in denen Kirche wirken sollte“, erklärt Jahn auf zeitzeichen-Anfrage. „Dass die Welt kirchliches Handeln in solchen Kategorien anschaut, ist ja das eine, aber Kirche selbst hat doch im besten Falle nur die Agenda: Mitmenschlichkeit.“

Hierauf, so die thüringische Pfarrerin und promovierte Literaturwissenschaftlerin Jahn, sollten sich Kirche und Theologie konzentrieren, denn hier hätten sie eine wichtige Aufgabe für jedwede Gesellschaft, und es sei Zeit, das wiederzuentdecken. „Das geht einher mit dem Mut, von Gott zu reden, anstatt Richtungen vorzugeben oder zu bewerten.“ Kirche sei eben gerade nicht in erster Linie eine Moralinstanz. Theologie führe Menschen dazu, sich selbst kritisch zu befragen, und schreibe deshalb den Politikern oder dem Nachbarn „nicht das Hausaufgabenheft voll“. Sie habe „die Kraft, den Einzelnen mit seiner Freiheit zu konfrontieren.“

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Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 

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