Die Barmherzigkeit neu entdecken

Wie ein Jesaja-Vers meine Fastenzeit prägt
Morgenröte in Bayern, April 2025
Foto: picture alliance
Morgenröte in Bayern, April 2025

Kurz vor dem Ende der Fastenzeit liefert der Theologe und Literaturkenner Hans-Jürgen Benedict nochmal einen spannenden biblischen Impuls. Er fordert keinen Verzicht auf Süßes oder Alkohol, sondern Handeln aus dem Geiste der Barmherzigkeit. 

Eine meine Lieblingsstellen in der Bibel steht im Buch des Propheten Jesaja, oder genauer gesagt der Propheten, deren Texte hier zusammengestellt wurden, im 58.Kapitel. Es passt gut in die nun zu Ende gehende Fastenzeit, weil sie etwas zu dem rechten Fasten sagt. 

Gott möchte kein Fasten, spricht der Prophet, an dem man sich kasteit, den Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche geht. Ein Fasten, an dem Gott gefallen hat, wäre vielmehr: „Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast. Laß ledig, auf die du das Joch gelegt hast. Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg.“ Und dann der wunderschöne zarte Satz vom Erbarmen: „Brich dem Hungrigen dein Brot und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut.“

Ich liebe diesen Text, weil er die Barmherzigkeitsethik der Hebräischen Bibel poetisch auf den Begriff bringt. All das, was im Bundesbuch und im Deuteronomium über die Aufforderung zum Erbarmen mit den Schwachen, Armen, Fremden und anderen Benachteiligten zum Teil apodiktisch, zum Teil kasuistisch nüchtern knapp und rechtlich gefordert ist, wird hier aufs schönste gesagt, ja, ich möchte sagen – theopoetisch besungen: Also keinen Aschermittwoch mit Aschekreuz und langem Gebet, sondern ein Handeln aus dem Geiste der Barmherzigkeit an den Armen und Schwachen . 

Diese direkte Barmherzigkeit von Mensch zu Mensch ist heute weitgehend abgelöst durch die Verweisung der Menschen in Not an die zuständigen Stellen – wenn ich also einen Wohnungslosen sehe, dem es schlecht zu gehen scheint, die Wohnungslosenhilfe oder das Winternotprogramm der Kirchen anrufen. Die richtige Verweisung entbindet mich aber nicht immer von dem direkten Eingreifen, wenn ich einen Leidenden sehe. So haben viele Deutsche nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine Flüchtlinge aus der Ukraine in ihre Wohnung aufgenommen. Eine Mutter mit ihrer sechsjährigen Tochter wohnte ein halbes Jahr bei uns. Durch diese Jesaja-Stelle werde ich daran erinnert: Jeder muss einmal die Erfahrung des Barmherzigen Samariters machen, sagte mir ein Diakoniepastor im dänischen Aarhus, danach kann er delegieren.

„ … wie die Morgenröte“

Und dann die schöne Verheißung – wenn du den Elenden sättigst, „dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte“. Ich finde diese Worte auch realisiert in den vielfältigen zivilgesellschaftlichen diakonischen Initiativen – den Tafeln, den Kirchenküchen, dem Winternotprogramm und anderen. Es ist toll, dass es sie gibt, und es ist doch ein Skandal, dass es sie immer noch geben muss, rund zwanzig Jahre nach ihrer Gründung. Mitten in unserem Wohlstands- und Sozialstaat gibt es doch noch weiter die Notwendigkeit so einzugreifen –  ich sehe es täglich, wenn ich in die Stadt fahre. Ich habe ein schlechtes Gewissen, gebe einen Euro an den in der U -Bahn Bettelnden, kaufe ein Obdachlosen-Magazin, spende für das Hamburger Spendenparlament oder ähnliches. Aber das ist es dann auch. 

Schön aber, dass es diese Jesaja-Stelle gibt. Sie ermuntert poetisch zur Barmherzigkeit. Johann Peter Hebel hat vor 200 Jahren von dieser Barmherzigkeit berichtet, als er in seiner Kalendergeschichte Einer Edelfrau schlaflose Nacht von dem Sinneswandel einer Edelfrau erzählte, die nachts wegen ihrer Zahnschmerzen nicht schlafen konnte. Sie steht auf und bekommt mit, wie ihr Bedienstetenpaar nachts sich in der Küche zu schaffen macht. Schon regt sich ihr Zorn, doch dann sieht sie, dass sie ein neugeborenes vierteljähriges Kind versorgen, das sie aus Angst vor Strafe in einem Verschlag verborgen gehalten hatten. Am nächsten Morgen ruft sie die Bediensteten zu sich und fragt: „Wo habt ihr euer Kind?“ Die Bediensteten befürchten das Schlimmste. Doch da sagt die Edelfrau: „Ich will euch den Kummer versüßen, den ihr getragen habt. Ich will euch die Barmherzigkeit vergelten, die ihr an eurem Kinde getan habt.“

Daraufhin fällt Hebel sich selber ins Wort: „Meint man nicht, man höre den lieben Herr Gott reden in den Propheten und Psalmen? Ein Gemüt, das zum Guten bewegt ist und sich der Elenden annimmt, zieht nämlich das Ebenbild Gottes und fällt in seine Sprache“ – ja, genau, in die Sprache der Barmherzigkeit. 

Und wie geht es bei Hebel weiter? Die Edelfrau lässt die beiden Leibeigenen frei, dass sie heiraten können und sorgt sich um die Erziehung des Kindes. Genauso ergeht es mir mit dieser poetisch ausdrucksvollen Jesaja-Stelle, die übrigens mit einem wunderbaren Bild endet: „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte(…) und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen und die Herrlichkeit des Herren wird deinen Zug beschließen.“ Gottes Gegenwart im Zug der Barmherzigkeit!

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Hans-Jürgen Benedict

Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich  der Literaturtheologie.

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