Auf der Suche nach einem inspirierenden Ort für einen Klausurtag mit einem kleinen Team der Diakonie Deutschland fiel unsere Wahl neulich auf die Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus in der Marienburger Allee im Berliner Westend. Ab 1935 lebte Dietrich Bonhoeffer dort bei seinen Eltern Paula und Klaus und seiner Großmutter, wenn er in Berlin war. Betritt man das bürgerliche Wohnhaus, erahnt man, wie sehr das liberale Elternhaus, wie sehr humanistische und naturwissenschaftliche Bildung, wie sehr die Erziehung zu einer verantwortungsbewussten Haltung und der Familienverbund Bonhoeffer geprägt haben. Nicht zuletzt in der Geborgenheit dieser Familie entwickelten sich Zivilcourage und der Widerstand gegen das NS-Regime. Der besonderen Atmosphäre des Studierzimmers Bonhoeffers im Dachgeschoß kann sich kaum jemand entziehen, dem Bonhoeffers Theologie und sein mutiges Zeugnis etwas bedeuten.
Umgeben von einer etwas in die Jahre gekommenen, aber immer noch sehenswerten Fotoausstellung zu Leben und Werk des Theologen konnten wir uns im Tagungsraum der Erinnerungsstätte Themen zuwenden, die uns in der Diakonie beschäftigen: die gesellschaftliche Polarisierung, die Gefährdung von Demokratie und Rechtsstaat, Anerkennung und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, ungelöste sozial- und gesundheitspolitische Probleme und die Frage, wie die Diakonie ihren Auftrag, für Menschen in Not mit Unterstützungs- und Betreuungsbedarf da zu sein, heute bestmöglich erfüllen kann.
Nein, wir haben nicht erwartet, bei Bonhoeffer konkrete Antworten auf diese Fragen zu finden. Jede Zeit braucht ihre eigenen Antworten. Doch das theologische Nachdenken Bonhoeffers kann uns in unserer Arbeit inspirieren und orientieren – auch für inhaltliche Weichenstellungen in der Diakonie. Es ermutigt, sich couragiert für die Menschenwürde einzusetzen, nicht zu schweigen, wenn Unrecht geschieht und Menschen herabgewürdigt werden. Es ermahnt uns, die Welt aus der Perspektive „der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden“ (Widerstand und Ergebung, DBW, Band 8, Seite 38) zu sehen und im Leiden des Nächsten Christus zu erkennen. Bonhoeffer macht deutlich, dass eine Kirche – und damit auch die Diakonie – nur Kirche ist, wenn sie für andere und mit anderen da ist, wenn sie Menschen in Not und Angst zur Seite steht, wenn sie Partei nimmt für Mitmenschlichkeit, für Recht und Gerechtigkeit.
Es ist ein Segen, dass das Bonhoeffer-Haus als Erinnerungsort erhalten, genutzt und weiterentwickelt wird, dass in diesem geschichtsträchtigen Haus an das Versagen unserer Kirche in der NS-Zeit, an den Mut und die Zivilcourage Einzelner und an das Erbe Bonhoeffers erinnert wird. Der Vereinnahmung dieses Erbes durch nationalistische und rechtsextreme Kreise und der ideologischen Instrumentalisierung durch religiöse Fanatiker treten die hier engagierten Menschen entschieden entgegen. Auch das verdient großen Respekt. Über die erinnerungskulturelle Arbeit hinaus ist es ein wunderbarer Ort für ein vertieftes Nachdenken über das, was uns in unserer diakonischen Arbeit leitet. Ein Besuch lohnt, unbedingt.
Rüdiger Schuch
Pfarrer Rüdiger Schuch ist Präsident der Diakonie Deutschland in Berlin und Herausgeber von zeitzeichen.