Homo digitalis

Gottes Finger und die menschliche KI
Gottes Finger
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Die Digitalisierung ergreift und durchdringt immer mehr Bereich des Menschlichen, so auch im Bereich der Religion und ganz konkret im Gottesdienst. Das Theologenehepaar Gabriele und Peter Scherle macht sich in seinem Text Gedanken, über die neue Rolle des Fingers im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz (KI) und sieht Gefahren durch die überbordende Macht und den wachsenden Hochmut von Elon Musk & Co.

Der homo digitalis, der fingernde Mensch, ist inzwischen allgegenwärtig. Auf den Kacheln der Videokonferenzen sucht der Zeigefinger des 80-jährigen digitalen Newcomers verzweifelt nach einer Taste, um den Ton zuzuschalten. Jugendliche, wo auch immer sie stehen und gehen, lassen dagegen ihre Finger über die Smartphones fliegen. Wenige Tastaturbefehle reichen inzwischen den Kundigen, um mit Hilfe von so genannter „künstlicher Intelligenz“ Texte, Bilder oder Musik generieren zu lassen, als handele es sich um eine Art „deus ex machina“. Und in Gottesdiensten wischen Pfarrerinnen über ihr Tablet als sei es eine uralte liturgische Geste. Fingern, das ist die offensichtlichste Geste der digitalen Welt und eben dieser Geste verdankt die Digitalisierung ihre Bezeichnung. 

Wie wichtig die Finger (der ‚digitus’) und das Tastgefühl (der ‚tactus’) sind, erkannte schon Aristoteles: Im Unterschied zu den anderen Sinnen, ist beim Tastsinn der ganze Körper das wahrnehmende Organ und kann sich dabei auch noch selbst wahrnehmen. Doch eben das Körperliche am Tastsinn, der Zusammenhang mit Erotik und Sexualität, wurde seit dem 13. Jahrhundert im christlichen Abendland zum Problem. Erst im 20. Jahrhundert kam es zur Aufwertung des Tastsinns. Inzwischen wissen wir um die neurophysiologische Bedeutung des Zeigefingers für die Erschließung der Welt und ihres Sinns. 

Was Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle in der „Erschaffung Adams“ ins Bild gesetzt hat, das spiegelt sich heute in der Fähigkeit kleiner Kinder, sich die Welt mit dem Zeigefinger auf dem „Tablet“ zugänglich zu machen. Die Berührung der „touch-screens“ ist inzwischen zu einer zentralen Schnittstelle zwischen Mensch und Welt geworden. Michelangelo malte eine ganz andere Schnittstelle, die zwischen Gott und Mensch. Doch zwischen dem Finger Gottes und dem menschlichen Finger kommt es zu keiner Berührung. Gleichwohl erscheint es, als ob aus Gottes Finger jene Lebensenergie strömt, die nicht nur Adam belebt, sondern das ganze Gewimmel des Lebendigen an der Decke der sixtinischen Kapelle. Durch Adams Finger hindurch strömt das Leben in die sozialen Netze der adamitischen Menschheit und verbindet sie mit allen Lebewesen zu dem großen Netzwerk der bewohnten Erde. Da ist es dann auch konsequent, dass der fingernde Mensch zum Ebenbild des fingernden Gottes wird. Der Mensch ist als Erdverbundener, als ADAM, also seit jeher vernetzt mit der ganzen Schöpfung. Dementsprechend preist David Gott in Psalm 8 für seine Schöpfung: „Wenn ich anschaue deinen Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne“ (Psalm 8,3).

Lebensmacht in rechter Hand

Dass Michelangelo dabei den rechten Zeigefinger Gottes malt, verweist auf die Lebensmacht Gottes, die in seiner rechten Hand liegt. Diese Vorstellung von der digitalen Machtausübung Gottes wird auch vom Jesus der Evangelien in Anspruch genommen. So kann Jesus „durch den Finger Gottes Dämonen austreiben“ (Lukas 11,20–22) oder durch seine Finger heilen, indem er einem Tauben den Finger in die Ohren legt (Markus 7,31-37). Von der Lebensenergie, die aus diesem Finger Gottes fließt, bleibt der Mensch abhängig. ADAM streckt den Zeigefinger der empfänglichen linken Hand dem lebensmächtigen Finger Gottes entgegen. So wird der Mensch ermächtigt mit seinen Fingern und Händen die Schöpfung mitzugestalten. Der Mensch darf an Gottes Welt herum-fingern. Dabei gehört es zu den menschlichen Möglichkeiten, sich selber auch mit Hilfe der Technik weiter zu entwickeln. 

Seit jeher hat der Mensch seine Handlungsmöglichkeiten mit Hilfe von Prothesen ausgeweitet: von einfachsten Werkzeugen bis zu den Hightech-Geräten unserer Zeit reicht das Spektrum der Prothesen, die das menschliche Fingern erweitern. Eine besonders weit reichende Prothese ist die Digitalisierung. Sie verdankt ihren Namen der Möglichkeit, mit den Fingern zu zählen und mit den Zahlen zu rechnen. Aber erst im 20. Jahrhundert ist es gelungen, auch das erzählbare analoge Leben in zählbare Zeichen zu übersetzen, in binäre Daten, mit denen sich – nun ohne die Finger, aber mit Hilfe des elektrischen Stroms – rechnen lässt. So wurde das Fingern des homo digitalis zur Metapher für die Prothese, die wir Digitalisierung nennen.

Wegen der heute vorhandenen technischen Möglichkeiten – von den Rechenleistungen der Computer bis zu Endgeräten, die uns jederzeit und überall an die Datenströme anschließen – hat sich dabei eine neue Form des Animismus entwickelt, also ein neuer Glaube, dass die Dinge der Natur irgendwie beseelt sind. Ja, der digitalen Prothese, in allen ihren technischen und kulturellen Ausformungen, wird dieselbe Macht zugeschrieben, wie einst dem goldenen Kalb: Lebensmacht, Intelligenz und Bewusstsein, ja sogar die Fähigkeit neue Welten hervorzubringen und zu steuern. 

Goldenes Kalb in digital

Anders als in der biblischen Erzählung projizieren wir modernen Menschen uns dabei selbst in die digitalisierte Version des goldenen Kalbs und berauschen uns an unserer gespiegelten Lebensmächtigkeit. Dort, wo Michelangelo sich Gott (mittels analoger Metaphorik) als älteren Herrn vorstellte, die Welt entwerfend und durch den Zeigefinger der rechten Hand hervorbringend, dort malen wir uns heute eine unsichtbare Hand aus, die aus einem endlosen Netzwerk von Computern ohne zentrale Steuerung die Welt berechnet und berechenbar machen soll. 

Nicht zufällig heißt „Computer“ auf Französisch „ordinateur“. Das ist eben jenes Wort, mit dem theologisch das Handeln Gottes in der Welt bezeichnet wird, genauer: das göttliche Handeln, durch das die Welt hervorgebracht und erhalten wird. Anders gesagt: Die Rechner und die Algorithmen treten an die Stelle der göttlichen Vorsehung. Sie versprechen – ähnlich wie das goldene Kalb – die Welt berechenbar und steuerbar zu machen. Aus dem Finger des biblischen Gottes, dem wir Lebensmächtigkeit und Bundestreue zuschreiben, ist allerdings ein Apparat geworden, der nichts als vorgegebene Rechen- und Handlungsvorschriften ausführt. Dieses zombiehafte goldene Kalb des Computerzeitalters mag zwar mit künstlichen neuronalen Netzen ein „Hirn“ simulieren können, ihm fehlt aber das „Herz“, aus dem die göttliche Lebensmächtigkeit und Bundestreue quillt. 

Überspielt wird diese Herzlosigkeit durch die Möglichkeit, das goldene Kalb sprechen zu lassen. So wie Menschen Orientierung durch das geschriebene und gehörte Wort Gottes suchten, fragen Sie nun ihre digitalen Assistentinnen Alexa oder Siri – vorrangig mit der Stimme junger Frauen ausgestattet, die beflissen und dienstbereit antworten. Da ihr abrufbares Wissen und ihre berechnende Einfühlsamkeit mit dem technischen Fortschritt wachsen, erfüllen sie schon heute Funktionen, die einst den Göttern zukamen. Sie sind die moderne Stimme aus dem Dornbusch und üben damit jene Macht aus, die einst Gott zukam: sie erschließen uns die Welt und sagen uns, wo es langgeht. Die Sprachassistentinnen ersetzen zudem den patriarchal geprägten, manchmal zornigen älteren Herrn durch die Stimme der immer dienstbereiten jungen Frau. Sage also keiner, dass sich die Gottesbilder nicht wandeln können. Heute ist das Gottesbild auf die Kund:innen im digitalen Kapitalismus zugeschnitten.

Drohende Oligopole

Wie das goldene Kalb reflektiert dieser digitale Kapitalismus auch in dem, was wir KI nennen, in erster Linie gesellschaftliche Machtverhältnisse, indem er sie verbirgt. Gemeint ist der zugrunde liegende Material- und Energieverbrauch, die Aneignung der Arbeitskraft und der Daten anderer, sowie die Bildung von Oligopolen. „Large Language Models“ etwa (wie beispielsweise ChatGPT) reflektieren, weil die verwendeten Daten keineswegs neutral oder objektiv sind, die Sprachwelten reicher und mächtiger „Sprecher“, sie diskriminieren sozial, geschlechtlich und ethnisch. Gleichzeitig können sie – im menschlichen Sinn – nicht „handeln“ oder „entscheiden“, da sie weder Intentionen noch innere Vorstellungen kennen, die in der menschlichen Erfahrung wurzeln, endlich und verletzlich zu sein. Dementsprechend kennen sie keine „Wahrheit“, sondern (re-)produzieren anhand statistischer Vorgaben Wortfolgen, weshalb sie auch schon als „stochastischer Papagei“ bezeichnet wurden. Sie sind, wie andere KI-Systeme auch, nichts anderes als neuartige, wenn auch mächtige Werkzeuge, die mehr oder weniger sinnvoll benutzt werden können.

Es gibt noch eine weitere, für das theologische Verständnis des Digitalen wichtige Überlieferung. Die Zehn Gebote, so wird erzählt, habe Gott selbst mit seinem Finger auf die Steintafeln geschrieben, die Mose dem Volk vom Berg Sinai mitbringt (2. Mose 31,18 und 34,1; 5. Mose 9,10). Der Finger Gottes wird zum Medium der Offenbarung. Dies ist Ausdruck einer frühen Medienrevolution: neben die Sprache tritt die Schrift und damit die Möglichkeit, dass die Zeichen und das Bezeichnete noch weiter auseinandertreten. Eben das ist die Eigenheit der sprachlichen Zeichen: Sie sind Verweise auf eine Wirklichkeit, die im Zeichen nur virtuell präsent ist. Vom Finger Gottes, der auf Stein sprachliche Zeichen hinterlässt, bis zur kanonischen Bibel als Universum sprachlicher Zeichen ist es ein langer Weg. Im Ergebnis wird dann die Bibel als „semiotische Kathedrale“ (Gerd Theißen) zum Entdeckungsraum der virtuellen Welt Gottes, die in immer neuen Bildern am Horizont unserer Welt aufleuchtet.

Wie wir wissen, spielt auch in der Praxis des Synagogengottesdienstes der Fingerzeig eine Rolle. Die Thora-Rollen, die zur Lesung aufgerollt werden, sind in der heiligen Sprache Hebräisch handgeschrieben und dürfen nicht berührt werden. Deshalb wird zum Lesen der Jad, der Thorafinger, benutzt, um den Text zu verfolgen. Der homo digitalis schafft sich mittels dieses Fingers noch einmal Abstand von der Heiligen Schrift. Diese Praxis ist eine Folge der Entstehung des rabbinischen Judentums in Auseinandersetzung mit dem Christentum. Dieses hatte sich ja die Septuaginta (die griechische Übersetzung des hebräischen Tenach) als Text angeeignet und in ihr Altes Testament transformiert. In der Folge besteht das rabbinische Judentum zum einen auf dem hebräischen Text und verwendet den unpunktierten (ohne Vokale geschriebenen) interpretationsoffenen Text in der Liturgie. 

Zum anderen entwickelte das rabbinische Judentum den hermeneutischen Schlüssel der mündlichen Thora: Im Lesen und der Diskussion kommt Gott ebenso zur Sprache und zur Welt, wie in der schriftlichen Thora. Das Christentum dagegen kam auf einem anderen Weg zur Überzeugung, dass Gottes Gegenwart der medialen Vermittlung durch die Texte der Bibel bedarf. Weil Christus als Ort der Einwohnung Gottes betrachtet wurde, konnte seine Gegenwart nach der Himmelfahrt nur durch das Lesen der auf ihn verweisenden Texte - und ihre Einverleibung im liturgischen Schmecken, Sehen und Hören („Sprich nur das Wort, so wird meine Seele gesund ...“) - erfahren werden. 

Diese Einsicht wird in dem berühmten Grünewald-Bild wiederum mit einem Finger verbunden. Es ist der übergroße Finger Johannes des Täufers auf dem Tafelbild des Isenheimer Altars, der auf den gekreuzigten Jesus verweist. Ein Trostbild war das für die Sterbenden und die Kranken. Dieser homo digitalis, Johannes der Täufer, weist die gepeinigten Menschen an den ausgemergelten und todgeweihten Christus, um bei Gott Trost zu finden. 

Isenheimer Altar von Matthias Grünewald, Musée Unterlinden, Colmar (1512-1516)  Altarbild Schlosskirche
Foto: Gettypictures

Isenheimer Altar von Matthias Grünewald, Musée Unterlinden, Colmar (1512-1516), Altarbild Schlosskirche

Der Finger bei der Thora-Lesung und der Finger Johannes des Täufers – sie eint die Erkenntnis, dass wir Menschen auf Gott nur hinweisen können. Und sie weisen beide auf den lebendigen Gott der Bibel hin, dessen Lebensmächtigkeit die Energie ist, aus der alles Leben kommt. Gott ist kein goldenes Kalb, auch keine Maschine, die nach vorgegebenen Rechen- und Handlungsprogrammen funktioniert, sondern hat ein Herz für das Leben und seine Unberechenbarkeit. Gott kann erkannt werden, wo nicht mit ihm zu rechnen ist, im Leiden seiner Kreatur und in den Texten, die sein Kommen bezeugen. Nicht die Digitalisierung ist die Hoffnung der Welt, sondern der biblische Gott, der allein das Sein aus dem Nichtsein hervorbringt, als „seiner Finger Werk“.

Theologisch betrachtet ist das Problem der Digitalisierung also ihre religiöse Überhöhung. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet einige Tech-Propheten und Oligarchen (wie Elon Musk) jüngst davor warnten, die KI könnte die Menschheit gefährden, während ihr Geschäftsmodell gleichzeitig darauf beruht, das utopische Potential der KI anzupreisen. Dabei ist das goldene Kalb nur eben so mächtig, wie es die Menschen sehen, die es anbeten. Sobald Moses vom Berg herabsteigt und dem Treiben ein Ende bereitet, können die Menschen erkennen, dass es sich um nicht mehr aber auch nicht weniger als Werkzeuge oder Prothesen handelt. Mit ihnen kann dann getrost weitergearbeitet werden, wenn wir uns von ihnen nicht übermächtigen lassen.

Was aber geschieht, wenn nicht auf Mose gehört wird, sondern die Anbetung des goldenen Kalbes weiter geht, wird in der biblischen Geschichte nicht durchgespielt. Heute, da sich eine Tech-Oligarchie nicht nur ökonomische sondern auch politische Macht aneignet, können wir es aber erahnen. Es erscheint möglich, dass das Volk, der demos, beim Tanz um das goldene Kalb in der Wüste zugrunde geht, weil es jeden Sinn für den gemeinsamen Weg verliert. Dann mag im Delirium sogar das Leben auf dem Mars attraktiv erscheinen. Auf der Erde aber wird es nicht weiter gehen. 

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Gabriele Scherle

Gabriele Scherle war Pröpstin für Rhein-Main der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Sie ist Vorstandsvorsitzende der Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt und Mitglied im Vorstand der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.

Foto: privat

Peter Scherle

Peter Scherle, Jhg. 1956, ist Pfarrer i.R. der EKHN. Er war bis 2020  Professor für Kirchentheorie und Kybernetik am Theologischen Seminar Herborn und Visiting Lecturer für Ökumenische Theologie und Sozialethik an der Irish School of Ecumenics (Trinity College Dublin).

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