Sollen wir knien?

Wie man das Jubiläum des Konzils von Nicäa feiern kann

Gerade halte ich, wie seit vielen Jahren, Vorlesungen in Jerusalem und wohne daher in einem Studienhaus, das im Garten einer deutschen Benediktinerabtei liegt, genauer der Abtei Dormitio Mariae auf dem Zionsberg, direkt am Abendmahlssaal, vor den Toren der Altstadt, eigentlich im Niemandsland zwischen Israel und Palästina und doch zugleich mittendrin. Da könnte ich natürlich von Friedensdemonstrationen vor der Knesset, Raketenalarm auf dem Handy und Studierenden im Bunkerkeller erzählen, von Ramadan unter Kriegsbedingungen und vielem anderen mehr. 

Aber zur Wirklichkeit Jerusalems gehört auch, dass neben der Politik immer auch die Religionen den Kalender bestimmen. Und die Christenheit feiert nun einmal mitten in diesen politisch so schwierigen Tagen zwischen Waffenstillstand und Krieg im Nahen Osten das Jubiläum des ersten Reichskonzils – eintausendsiebenhundert Jahre Konzil von Nizäa. Und die Zahl muss man ausschreiben – welche Synode unserer Tage wird es schon hinbringen, dass in nächtlichen Arbeitsgruppen zusammengeschusterte und dann am Tage durch die Vollversammlung der Teilnehmenden approbierte Kompromisspapiere nicht in amtlichen Drucksachen verschwinden und von Gemeinden missmutig abgeheftet werden, sondern tatsächlich so viele hundert Jahre sich bewähren und in Ehren gehalten werden?

Aber schon kommen die Bedenken: Es war ja nicht der in Nachtarbeit erstellte, dem Kaiser vorgelegte und schließlich von der Vollversammlung der Bischöfe approbierte Text des Konzils von Nizäa, der zum gottesdienstlichen Bekenntnis avancierte, sondern eine im Umfeld des großen Reichskonzils von Konstantinopel 381 n.Chr. erstellte, deutlich veränderte Version, die dann im folgenden Jahrhundert noch einmal von einem Konzil approbiert wurde. Und kann man heute tatsächlich noch davon sprechen, dass der Text sich in unseren Kirchen und Gemeinden bewährt? Wird er tatsächlich in Ehren gehalten?

Freiwillige Aufgabe

Kommt, so muss man ehrlich sagen, darauf an. Jüngst wollten Verantwortliche für einen festlichen Gottesdienst in Berlin, wie sich’s nach den liturgischen Regeln gehört, das Nicaeno-Constantinopolitanum, also den noch einmal veränderten Text von Nizäa, ins Programm drucken und dann gemeinsam von allen Gemeindegliedern sprechen lassen. Das geht, wie alle wissen, die Gottesdienste leiten, in den meisten evangelischen Gemeinden eigentlich nur gut, wenn die Pfarrperson über das Mikrofon den Text laut vorspricht und so die Gemeinde anleitet. Der Text ist einfach den meisten zu wenig vertraut, als das die Gemeinde von selbst in einen Rhythmus findet. Eigentlich finde ich das nicht schlimm, Ähnliches kann man für manche Kirchenlieder beobachten, da müssen dann Orgel und die, die sie spielen, diese leitende Rolle übernehmen. Aber in dem Fall, an den ich gerade denke, agierte die liturgisch verantwortliche Person (übrigens ein Superintendent) anders. Er riet vom Nicaeno-Constantinopolitanum ab. Die Gemeinde verstehe es nicht, er verwende es nicht mehr.

Solche freiwillige Aufgabe eines traditionsreichen Textes lässt sich gegenwärtig an vielen Stellen beobachten, nicht nur im evangelischen Raum. Da schreiben römisch-katholische Theologieprofessoren Bücher und behaupten, Theologie müsse heute vom Philosophen Kant ausgehen und könne daher unter ganz anderen philosophischen Voraussetzungen antike Texte nicht mehr wörtlich nehmen. Ihre evangelischen Kollegen fragen sich, ob man den Glauben in Formel pressen dürfe und Bekenntnisse unverändert verwenden dürfe, in denen Abschnitte zur Ethik der Feindesliebe Jesu fehlen. Ich für meinen Teil bin weder der Ansicht, dass ich alles in einem Gottesdienst sofort verstehen muss und darin das zentrale Auswahlkriterium für eine Liturgie liegt, noch ist in meiner Theologie der Philosoph Kant eine der Bibel vergleichbare Autorität, über die nichts Größeres gedacht werden kann. Und schließlich wird in meinen Gottesdiensten die Ethik der Feindesliebe Jesu schon allein dadurch präsent, dass jeden Sonntag eine Erzählung über unseren Herrn und Heiland aus dem Evangelium gelesen wird. Aber natürlich ist mir deutlich, dass ich mit diesen Ansichten nur einen Teil der gemeindlichen Wirklichkeit unseres Landes repräsentiere. Im Jubiläumsjahr kann man in der evangelischen Kirche nicht einfach feiern, sondern muss viel erklären, auf Einwände Rücksicht nehmen und die, die Schwierigkeiten haben, abholen (wie es so schön heißt).

Zauberhafte Bibelstelle

Bis vor wenigen Tagen dachte ich, im Jubiläumsjahr des Konzils von Nizäa bestünde meine Aufgabe vor allem darin, Vorträge zu halten. Vorträge auf wissenschaftlichen Kongressen, Vorträge in verschiedensten Gemeinden, immer wieder mal neu zugespitzt, mit einem neuen wissenschaftlichen Fündlein, aber eben vor allem in Vortragsform. Das habe ich nun auch schon fleißig getan, Kongresse zum Thema gibt es seit mindestens drei Jahren – Oxford und Berlin, aber auch online, nächste Woche in Rom, Ende April in Istanbul und Nizäa selbst. Gemeindevorträge halte ich auch schon länger und das alles mit großem Vergnügen. Man kann ja nur von Herzen dankbar sein, wenn das eigene universitäre Fach, die Geschichte des antiken Christentums, mal so gut gefragt ist, auch außerhalb der Universität.

Hier in Jerusalem geschah nun Unerwartetes. Da das Studienhaus, in dem ich gerade wohne und arbeite, im Garten einer Benediktinerabtei liegt, nutze ich die Gelegenheit, durch den Garten zur Abteikirche zu gehen und dort das Stundengebet und die Liturgien mitzufeiern. Am Dienstag war Mariae Verkündigung, neun Monate vor Weihnachten das Fest, was daran erinnert, dass Gott Mensch werden wollte mit Hilfe einer einfachen Frau aus Nazareth. Auch im vorzüglichen Kalender „Kirchenjahr evangelisch“, den verschiedene evangelisch-lutherische Kirchen Deutschlands online anbieten und der biblische Lesungen, Liedvorschläge und allgemeine Informationen zum Tag bietet, findet sich dieses Fest unter der Rubrik „weitere Fest- & Gedenktage“, wird aber, wenn ich recht sehe, im evangelischen Raum eher selten gefeiert. Dabei ist „Ankündigung der Geburt Jesu“ durch den Engel Gabriel und die Antwort von Maria eigentlich eine zauberhafte Bibelstelle, die man ruhig einmal gottesdienstlich feiern kann. 

Loch im Schuh

In der Jerusalemer Abteikirche, deren lateinischer Name daran erinnert, dass Maria der Überlieferung nach in dem, auf dem Zion befindlichen urgemeindlichen Zentrum friedlich im Kreise der Jüngerinnen und Jünger eingeschlafen ist, wird das Marienfest Mariae Verkündigung natürlich gefeiert. Und wie es sich für ein katholisches Hochfest gehört, mit lateinischen Teilen im deutschen Gottesdienst, schließlich kommen, wenn nicht gerade Krieg herrscht, viele Touristen aus aller Herren Länder. Und so fügte es sich, dass in der ersten Messe am Vorabend, also am Montag, das große, für Feste vorgesehene Nicaeno-Constantinopolitanum, lateinisch gesprochen wurde. Text und Melodie stehen im katholischen Gesangbuch, dem Gotteslob, natürlich mit deutscher Übersetzung. Und sie werden im Wechsel zwischen Kantor, Mönchen der Abtei und Gemeinde gesungen. Nach einer, wie ich jedenfalls finde, sehr schwungvollen mittelalterlichen Melodie, die man schnell gelernt hat. Was ich aber zum ersten Mal erlebte (wenn ich mich recht erinnere), war, dass in das Gottesdienstprogramm eingedruckt war bei der Zeile et incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine, et homo factus est (Er „hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden“) „alle knien“. Haben alle gekniet bei der Zeile, wie es im Programm stand?

Mit dem Knien ist das so eine Sache. Als ich konfirmiert wurde, war niemandem aufgefallen und leider auch nicht mir, dass ich in der Sohle des rechten Schuhs ein größeres Loch hatte. So wurde mir ein neuer Anzug gekauft, den ich stolz trug, aber beim Knien am gotischen Altar unserer Berlin-Dahlemer Dorfkirche sah, so dachte ich jedenfalls, jeder mein Loch an der Sohle. Und so war ich ganze Teile des Gottesdienstes damit beschäftigt, mir zu überlegen, wie ich das peinliche Manko wohl würde verdecken können und kniete mich deswegen falsch im Alphabet nieder, was der Pfarrer glücklicherweise rechtzeitig bemerkte und mich nicht unter falschem Namen mit falschen Bibelspruch konfirmierte. Bei Helmut Gollwitzer in der Jesus-Christus-Kirche nebenan kniete man noch während des Abendmahlsempfangs an einer inzwischen entfernten halbhohen Schranke vor dem Altar. Der schon etwas in die Jahre gekommene Professor hatte dann und wann seine redliche Mühe mit dem Kippen des Kelches an die Münder seiner kommunizierenden Gemeinde.

Sprechende Geste

Ob ich im Zuge meiner kirchlichen Trauung, bei meiner Ordination zum evangelischen Pfarrer, bei meiner Einsetzung als Ordensdekan des Johanniterordens gekniet habe, weiß ich nicht einmal mehr. Jedenfalls setzt bei jedem Knien bei mir seit Konfirmandentagen eine Sturzflut von Gedanken ein: Kann ich die Schuhsohlen vorzeigen? Komme ich auch einigermaßen elegant wieder auf die Füße? Und bei römisch-katholischen Gottesdiensten überlege ich auch immer noch einmal: Kann ich das als evangelischer Christenmensch theologisch verantworten? Werden die katholischen Freundinnen und Freunde meine Geste auch richtig verstehen? Wenn alle bei der Wandlung der eucharistischen Elemente knien, bleibe ich meist sitzen. Auch wenn ich von der Gegenwart Jesu Christi in, mit und unter den Elementen des Abendmahls überzeugt bin, möchte ich eigentlich nicht zu Ehren einer Wandlung, der Transsubstantiation, knien. Und trotzdem: Manchmal knie ich doch. Weil ich denke, dass ich sonst als Protestant alle Vorurteile bestätige darüber, dass wir die Elemente im Abendmahl nicht ernst nehmen.

Jetzt, beim et incarnatus im Nicaeno-Constantinopolitanum, war das anders. Da habe ich gern gekniet. Und ganz unbesorgt über Sohlen und das Wieder-auf-die-Füße-kommen. Weil ich dachte: Was für eine schöne, sprechende Geste. Gott wird Mensch und wir danken ihm, dass er in unsere arge Welt gekommen ist, indem wir auf die Knie fallen. Er thront nicht in der Höhe, unerreichbar für uns, sondern begegnet uns in dem Mann aus Nazareth. Wenn die Seele so erhoben wird, darf man ruhig mal dankbar auf die Knie fallen. Es fielen übrigens auch alle auf die Knie, Volontäre, evangelische wie katholische Studierende, die Mönche natürlich sowieso.

Mit Leib und Seele

Unmittelbar nach diesem Erlebnis habe ich im Gemeindesaal der Evangelischen Erlöserkirche in Jerusalem übrigens einen Vortrag über das Konzil von Nizäa gehalten. Aber ich habe ihn anders gehalten. Weil mir nun deutlich ist: Wir müssen das Konzil nicht nur durch Vorträge und Kongresse feiern. Wir können es auch in Gottesdiensten feiern. Wir können vor allem davon lernen, wie andere christliche Konfessionen mit dem Bekenntnis des Konzils umgehen und wie sie ihre Ehrfurcht vor dem Text bezeugen. Natürlich müssen bei uns nicht alle knien und werden vermutlich auch nicht knien. Aber einladen, es einmal auszuprobieren – das kann man ja schon. Sich von den römisch-katholischen Schwestern dazu einladen lassen, es zu tun. Das kann man auch. 

Ich fühle mich herausgefordert, noch einmal in ganz anderer Weise dafür zu sorgen, dass das alte Bekenntnis, der eintausendsiebenhundert Jahre alte Kompromisstext unter uns lebendig wird und lebendig bleibt. Angeregt, dass wir ihn mit dem Verstand zu verstehen suchen, aber uns ihm auch mit Leib und Seele nähern in diesem Jubiläumsjahr. Und durchaus auch mal mit Knien. Und was unsere Schwesterkirchen sonst so anstellen mit dem alten Text. In unseren schwierigen Zeiten von Krieg und Krise, gerade im Nahen Osten, kann man eigentlich nur von Herzen dankbar sein, wenn man einmal regelrecht körperlich abgelenkt wird und auf andere Gedanken kommt. Auch dazu sind Jubiläen schließlich da.

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