Die jüngsten Opfer des Vietnamkrieges

Noch immer sorgt das Gift Agent Orange für Kinder mit schweren Behinderungen
Tanzende Kinder
Foto: Jörg Böthling

Im Vietnamkrieg haben die USA und ihre Verbündeten Millionen Liter hochgiftiger Substanzen über dem Land versprüht, darunter das dioxinhaltige Entlaubungsmittel Agent Orange. 50 Jahre nach Kriegsende kommen deshalb noch immer Kinder mit schwersten Behinderungen zur Welt. Im „Dorf der Freundschaft“ in Hanoi finden Opfer von Agent Orange Anerkennung, Rehabilitation und Fürsorge.

Auf diesen Tag hat Pham Ti Lu ein halbes Jahrhundert gewartet. Nach einer unruhigen Nacht ist sie am frühen Morgen in ihre tannengrüne Ehrenuniform mit den breiten, goldgelben Schulterklappen geschlüpft. Andächtig hat sie ihre vier Orden über der linken Brust angesteckt, die schwarzen Haare mit den silbergrauen Strähnen in einem Zopf zurückgebunden, die Kette mit den hellgrünen Jadesteinen um den Hals gelegt. Jetzt tritt sie aus dem imposanten Gebäude auf dem Paradeplatz Ba Dinh im Zentrum von Hanoi heraus, eine kleine, ernsthafte Frau, keine eineinhalb Meter groß, aber stolz und aufrecht wie eine frisch gekrönte Königin. „Ich habe ihn gesehen“, flüstert die 75-jährige Kriegsveteranin. „Endlich.“ Hinter ihr ragt das Ho-Chi-Minh-Mausoleum in den strahlend blauen Hauptstadthimmel der Sozialistischen Republik Vietnam.

Pham Ti Lu kämpfte als junge Frau freiwillig im Vietnamkrieg und kam in Kontakt mit Agent Orange. Ihre Kinder kamen mehrfach behindert zur Welt.
Foto: Jörg Böthling

Pham Ti Lu kämpfte als junge Frau freiwillig im Vietnamkrieg und kam in Kontakt mit Agent Orange. Ihre Kinder kamen mehrfach behindert zur Welt.

Die Bauerntochter Pham Ti Lu meldete sich mit 17 Jahren freiwillig bei der nordvietnamesischen Volksarmee. „Wir jungen Mädchen wollten unser Land gegen die Amerikaner verteidigen“, sagt sie bei einer Trinkpause im Park der Gedenkstätte zu Ehren des Nationalhelden Ho Chi Minh. „Onkel Ho“, wie er im Volksmund genannt wird, rief 1945 auf dem Ba-Dinh-Platz die Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Vietnam aus. 20 Jahre später trat Pham Ti Lu ihren Freiwilligendienst im Krieg gegen die USA und ihre Verbündeten an. Neun Jahre lang sanierte sie die zerbombten Straßen und Wege des Ho-Chi-Minh-Pfades, der die nordvietnamesischen Truppen im Schutz hoher Urwaldbäume mit Nachschub versorgte. Ihre Einheit räumte Minen, Bomben- und Granatsplitter, schleppte tonnenschwere Munition und Baumaterial heran, schützte sich in Erdlöchern und Bunkern und ernährte sich von dem, was die Bauern brachten oder was auf den Feldern wuchs.

Pham Ti Lu
Foto: Jörg Böthling

„Wir tranken das Wasser aus Flüssen und Bächen und aßen, was wir finden konnten“, flüstert Pham Ti Lu. Dass die Bäume keine Blätter mehr trugen und viele Pflanzen verdorrt waren, als sie 1973 an die hart umkämpfte Front in der Provinz Quang Tri versetzt wurde, wunderte die junge Frau zwar, aber sie dachte nicht weiter darüber nach. „Wir waren mit dem Krieg beschäftigt.“

Kurz darauf wurde Lu schwanger. Ihre Tochter kam 1974 zur Welt. Dass sie „irgendwie anders“ war, hinterfragte die Mutter nicht. Auch nicht, dass ihr Mann, ein Soldat, den sie in Quang Tri kennengelernt hatte, zwei Jahre nach Kriegsende an unbekannter Ursache starb, sie selbst schwer erkrankt mit ihrer dreijährigen Tochter zurück in ihr Heimatdorf ging, dort zwei weitere Kinder mit schweren Behinderungen gebar und ihr neuer Mann, ebenfalls Kriegsveteran, starb, brachte sie nie mit den verdorrten Bäumen in Verbindung.

Installation aus Kriegsbeute

„Wir dachten, beim nächsten Kind wird alles besser“, murmelt Pham Ti Lu auf dem Weg in die Kantine des militähistorischen Museums, der vorbeiführt an ehemaligen Kampfflugzeugen, Helikoptern, Panzern und einer Installation aus dem Rumpf eines abgeschossenen B-52-Bombers und anderen Beutestücken der US-Armee. Beim offiziellen Mittagessen sind die Veteraninnen und Veteranen ihrer Heimatprovinz Ninh Binh heute Ehrengäste.

Als Spielzeug oder im Tourismus – der Vietnamkrieg ist in Hanoi noch immer präsent.
Foto: Jörg Böthling

Als Spielzeug oder im Tourismus – der Vietnamkrieg ist in Hanoi noch immer präsent.

„Meine jüngere Tochter wäre jetzt 37“, sagt Pham Ti Lu mit zittriger Stimme. Die Kleine lernte aber nie gehen oder sprechen. Mit sechs Jahren starb sie an einer schweren Hirnhautentzündung und hohem Fieber. Die ältere Tochter ist heute 49 und mental stark eingeschränkt. Mit vier Jahren hatte sie einen Schlaganfall. Im vergangenen Jahr wurde sie am Gehirn operiert. Ihr Sohn, heute 41, leidet seit seiner Geburt an Haut-, Nasen- und Auffassungsproblemen. Als Kleinkind wurde ihm ein Darmtumor entfernt. Ihre einzige Enkeltochter ist ebenfalls mehrfach behindert.

„Wir hatten keine Ahnung, was mit uns passierte“, sagt Pham Ti Lu am Nachmittag in ihrem Drei-Bett-Zimmer im Reha- und Versöhnungszentrum Dorf der Freundschaft. Mit ihrer Kriegsveteranengruppe aus Ninh Binh, rund 100 Kilometer südöstlich von Hanoi, verbringt sie hier drei Wochen zur Erholung. Pham Ti Lu holt ein Foto aus ihrem Spind, darauf sechs junge Frauen, kurz bevor sie an die Front gingen, ganz links die junge Lu. „Ich habe mir im Krieg ein Bein gebrochen und einige Zähne verloren“, sagt sie. „Ich dachte, ich hätte Glück gehabt. Die anderen sind bei Bombenangriffen ums Leben gekommen oder später gestorben.“ Frau Lu wischt sich Tränen aus den Augen. „Ich habe nie an mögliche Kriegsfolgen gedacht. Ich dachte, meine Kinder seien einfach krank. Ich brachte das nicht zusammen. Von dem Gift haben wir nichts gewusst.“

Millionen Liter

Bei dem Gift handelt es sich um das hochtoxische Herbizid Agent Orange. Im Vietnamkrieg versprühten die USA und ihre Verbündeten zehn Jahre lang tonnenweise krankheitserregende Entlaubungsmittel über Wäldern, Feldern und Dörfern, um den Feind zu erkennen und seine Versorgungswege, Verstecke und Ernährungsgrundlagen zu zerstören. In mehr als 6 000 Einsätzen ließen sie mindestens 70 Millionen Liter aus dem Himmel regnen, darunter mehr als 45 Millionen Liter Agent Orange. Der Name stammt von den orangefarbenen Banderolen der Fässer, deren Inhalt Tetrachlordibenzodioxin enthielt. Nach Angaben der Vietnamesischen Vereinigung für Opfer von Agent Orange und Dioxin leiden aktuell drei Millionen Vietnamesinnen und Vietnamesen an den Folgen des giftigsten Dioxins überhaupt. Laut vietnamesischem Roten Kreuz sind dadurch mehr als 100 000 Kinder mit Behinderungen zur Welt gekommen, inzwischen die Urenkel der Kriegsgeneration. Die meisten Opfer gehören zu den Ärmsten des Landes. 70 Prozent leben unter der Armutsgrenze, 90 Prozent sind arbeitslos, 22 Prozent der Familien haben drei oder mehr Betroffene. All diese Statistiken treffen auf Frau Lu zu.

Im Dorf der Freundschaft erhält die mittellose Frau zum ersten Mal in ihrem Leben täglich medizinische Betreuung, Physiotherapie, drei gesunde Mahlzeiten am Tag und so viel frisches Wasser zum Trinken oder Duschen, wie sie möchte. Während die Männer Tischtennis spielen oder rauchen, gießt Frau Lu in der sinkenden Nachmittagssonne die Blumenbeete. „Es ist so schön und friedlich hier“, sagt sie. „Ich bin dankbar, dass ich hier sein darf, da will ich etwas zurückgeben.“ Ihre Zimmerkolleginnen zupfen Unkraut, andere radeln in der Eingangshalle des Veteranenhauses auf Hometrainern und unterhalten sich. Zwischendurch schauen alle den Kindern auf dem Platz beim Spielen zu.

Mit dem Kinderrad fährt die 33-jährige Bin Thi Hoa täglich durch das Dorf zu ihrem Arbeitsplatz an der Nähmaschine.
Foto: Jörg Böthling

Mit dem Kinderrad fährt die 33-jährige Bin Thi Hoa täglich durch das Dorf zu ihrem Arbeitsplatz an der Nähmaschine.

ie „Kinder“ sind 120 Jugendliche und junge Erwachsene mit verschiedenen Behinderungen. Ihre Eltern oder Großeltern kamen im Vietnamkrieg mit Agent Orange in Berührung. Viele Nachkommen sind kleinwüchsig, haben verdrehte Füße und Gelenke, Wasserköpfe und verschiedenste Fehlbildungen, das Down-Syndrom oder andere genetische Veränderungen. Sie leiden an Depressionen, Lungenproblemen, Hyperaktivität, Krebs, mentalen Einschränkungen und vielem mehr. Zu Hause in ihren Dörfern sind sie oft ausgestoßen, gelten als Irre oder Opfer von Dämonen. Im Dorf der Freundschaft finden sie einen Ort der Anerkennung, Rehabilitation und Fürsorge.

Bin Thi Hoa
Foto: Jörg Böthling

„Ich bin dankbar, hier zu sein“, sagt Bin Thi Hoa. Die 33-Jährige fährt auf einem pinkfarbenen Kinderrad mit Stützrädern und Lenkerkörbchen durch das Dorf und grüßt jede und jeden mit einem strahlenden Lächeln und einer winkenden Hand. „Ich bin hier die Älteste“, kichert sie. „Alle nennen mich Superoma!“ Normalerweise bleiben die „Kinder“ zwei bis sechs Jahre im Internat. Sie lernen in sonderpädagogischen Schulklassen und Ausbildungskursen fürs Leben, bekommen Reha, Ergotherapie, Massage und psychosoziale Unterstützung. Es gibt Computer- und Kochkurse, Sport und Tanzangebote, eine Schneiderwerkstatt, Webstühle, ein Atelier für künstliche Blumengestecke und einen Gemüsegarten. Die meisten verlassen das Zentrum, wenn sie so weit sind, dass sie halbwegs selbstbestimmt leben können. In Ausnahmefällen bleiben sie auch länger. Wie Bin Thi Hoa.

Krabbelnd voran

„Ich möchte nicht zurück in mein Dorf“, sagt die kleinwüchsige blitzgescheite Frau auf ihrem Zimmer, das sie sich mit zwei anderen teilt. „Für meine Familie bin ich nur eine Last, denn ich kann dort nichts machen.“ Ihr Dorf Quang Xuan liegt 450 Kilometer südlich von Hanoi, 100 Kilometer entfernt von der ehemaligen dioxinverseuchten Frontlinie Quang Tri. „Mein Vater kämpfte zwölf Jahre“, erzählt Frau Hoa, während sie sich ihre halblangen Haare vor einem kleinen Tischspiegel bürstet. Ihr Fahrrad steht unten im Flur, die Treppe hat sie sich mühsam heraufgezogen. Frau Hoa kann nicht gehen. Nur krabbelnd kommt sie voran. „Zum Glück hat mir jemand das Fahrrad geschenkt“, sagt sie. „Ich kam mit verkrüppelten Händen und Füßen zur Welt. Später bekam ich einen Buckel, schwere Arthritis und hörte mit einem Meter zehn auf zu wachsen“, erzählt sie mit einer hohen, krächzenden Stimme. „Die Leute haben mich angestarrt, als sei ich eine Außerirdische. Ich habe mich fürchterlich geschämt und meistens versteckt.“

Hanoi
Foto: Jörg Böthling

Nach der Grundschule blieb Hoa im Haus und flocht Strohhüte. Ihre Eltern waren einfache Reisbauern und hatten kein Geld, die weiterführende Schule oder Therapien zu bezahlen. „Mein Selbstbewusstsein lag bei null. Ich war einsam und depressiv.“ Wie die Kriegsveteranin Pham Ti Lu erfuhren auch ihre Eltern erst im Jahr 2000 die Wahrheit. Das Wissen über die schweren Folgen des massiven US-Dioxin-Einsatzes in Vietnam entwickelte sich in der Sozialistischen Republik nur langsam. Nach der wirtschaftlichen und politischen Öffnung Anfang der 1990er-Jahre kamen immer mehr Informationen und US-Veteranen ins Land, die Versöhnungsarbeit leisten wollten. George Mizo, US-Veteran und Friedensaktivist, eröffnete 1998 im Westen Hanois sein Dorf der Freundschaft für Opfer von Agent Orange. Vier Jahre später starb er selbst an den Folgen seiner Flugzeugeinsätze. Heute wird das Dorf von Vietnams Veteranenverband und einem internationalen Netzwerk mit Unterstützergruppen in Deutschland, Frankreich, Japan, den USA und Kanada getragen, dem George Mizos Witwe vorsteht.

Hersteller verklagt

2004 verklagte die Vietnamesische Vereinigung für Opfer von Agent Orange und Dioxin 37 Herbizidhersteller, darunter Dow Chemical und Monsanto, aber die US-Richter urteilten, dass Agent Orange nach internationalem Recht kein Gift sei. „Keine US-amerikanische Regierung hat bisher offiziell Verantwortung für die menschliche und ökologische Katastrophe übernommen“, kritisiert US-Veteran Chuck Searcy, der mit seinem Projekt „Renew“ großflächig Landminen und Bomben entschärfen lässt, durch die noch 50 Jahre nach Kriegsende Kinder und Erwachsene ums Leben kommen. Agent Orange hat ganze Landstriche und Gewässer hochgradig verseucht, aber die beteiligten Firmen wehren sich erfolgreich gegen jede Verantwortung. Immerhin bewilligte der US-Kongress in Washington mehrere Millionen Dollar für die Sanierung von dioxinbelasteten Hotspots und für Gesundheitsdienste an der betroffenen Bevölkerung.

Anerkanntes Opfer

Bin Thi Hoa gilt inzwischen als anerkanntes Opfer von Agent Orange. 2010 kam sie ins Dorf der Freundschaft. Seitdem ist sie aufgeblüht, aber ihre Schmerzen nehmen zu. Um nachts halbwegs schlafen zu können, stützt sie ihren geschundenen Körper mit Kissen und Stofftieren ab. „Im Dorf der Freundschaft fühle ich mich wohl“, sagt die Assistenzlehrerin an ihrem Arbeitsplatz in der Schneiderei. Ihre Füße reichen kaum an die Pedale der elektrischen Nähmaschine. Trotzdem näht sie flink Stofftaschen mit Applikationen zusammen, womit sie sich ein kleines Zubrot verdient.

Postkarte
Foto: Jörg Böthling

„Hier habe ich eine Aufgabe und bin von allen anerkannt.“ Nach ihrer täglichen Reha-Stunde fährt die „Superoma“ mit ihrem Kinderrad an Frau Lu vorbei. „Hallo“, ruft sie und winkt vergnügt mit ihrer kleinen, verkrüppelten Hand. Die Kriegsveteranin hebt ebenfalls den Arm. Ein schmerzhaftes Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Wenn ich diese Kinder sehe, bin ich einfach nur traurig“, sagt sie. „Ich habe für mein Land gekämpft und habe es nie bereut. Jetzt sehe ich die Folgen und das macht mich unendlich traurig.“ Immerhin ist auch sie inzwischen offiziell Opfer von Agent Orange. Der Staat zahlt ihr eine Rente von 2,61 Millionen Dong, knapp 100 Euro. „Immerhin“, sagt sie kurz vor dem Abendessen, „trage ich keine Schuld.“ 

Informationen: www.dorfderfreundschaft.de

US-Veteran Chuck Searcy lässt mit seinem Projekt „Renew“ in Vietnam großflächig Landminen und Bomben entschärfen.
Foto: Jörg Böthling

US-Veteran Chuck Searcy lässtmit seinem Projekt „Renew“ in Vietnam großflächig Landminen und Bomben entschärfen.

 

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Jörg Böthling

Jörg Böthling begann 1985 als Seemann auf Fahrten nach Afrika und Asien zu fotografieren. Er studierte Fotografie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und arbeitet als Freelancer. 

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