Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Jürgen Wandel. Er ist Mitarbeiter von zeitzeichen.
Ambivalenter Tag
PALMSONNTAG, 13. APRIL
Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften … Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. (Jesaja 50,6–7)
Der Palmsonntag ist ambivalent wie das Leben. Auf der einen Seite wirkt er heiter und vermittelt Zuversicht. Vor allem in den katholischen Gegenden des Südens bietet sich ein prächtiges Bild, das sich noch verstärkt, wenn die Sonne scheint: Die Priester tragen blutrote Gewänder, Ministranten wedeln mit Palmen, Weihrauch steigt auf und verbreitet seinen Duft. Und wenn ein richtiger Esel die Prozession begleitet, freuen sich nicht nur Kinder.
Aber noch ist Passionszeit. Und ihr Höhepunkt, die Karwoche, beginnt am Palmsonntag. Das kräftige Rot der Altartücher und der auch von evangelischen Geistlichen getragenen Stolen erinnert an das von Mitmenschen vergossene Blut Jesu und der Märtyrer, die ihn bezeugt haben. In den Lesungen des Gottesdienstes wirft das Leiden und Sterben Jesu seinen Schatten voraus. Und wer den Abschnitt aus dem Johannesevangelium hört, der den Einzug Jesu in Jerusalem schildert, weiß: Dieselben Leute, die Jesus „Hosianna!“ zurufen, werden wenig später „Kreuzige ihn!“ brüllen.
Der Abschnitt aus dem Jesajabuch, der an diesem Tag in den landeskirchlichen Gottesdiensten ausgelegt wird, erzählt vom Leiden eines Gottesknechtes. Damit kann ein Einzelner gemeint sein oder das Volk Israel (siehe Jesaja 49). Christen beziehen den Abschnitt auf Jesus. Und er passt in seiner Ambivalenz zum Palmsonntag: Auf der einen Seite wird beschrieben, was Mitmenschen dem Gottesknecht angetan haben. Aber auf der anderen Seite vertraut er darauf, dass er – Gott sei Dank – „nicht zuschanden“ wird. Und beide Erfahrungen lassen sich mit der Kreuzigung Jesu und seiner Auferweckung durch Gott verbinden.
Ostern schimmert schon in der Erzählung von Jesu Einzug in Jerusalem durch. Und das spiegelt sich auch bei den Palmsonntagsprozessionen. Denn Palmen sind ein Siegessymbol.
Zutiefst menschlich
KARFREITAG, 18. APRIL
Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. (Johannes 19,26–27)
Jesus wird zu Unrecht verurteilt, und er wird gefoltert, verspottet, seiner Kleidung beraubt, gedemütigt und ans Kreuz genagelt. Aber inmitten dieser Unmenschlichkeit findet sich in der Erzählung des Johannes eine Szene, die zutiefst menschlich ist und zu Tränen rührt. Jesus relativiert die Blutsbande, die Familien zusammenschweißen, aber sie von Außenstehenden absetzen und abgrenzen. Man kann die Aufforderung Jesu an den Lieblingsjünger, sich um seine alleinstehende Mutter zu kümmern, auch als Ausdruck sozialer Fürsorge deuten. Aber wichtiger ist, dass Jesus die beiden zu einer Familie verbindet, die sich nicht auf ein Verwandtschaftsverhältnis beschränkt. So lässt sie sich als Vorbild für die Kirche verstehen, in der Menschen zusammenkommen, die trotz ihrer Unterschiede und Gegensätze die Aufforderung Jesu an seine Jünger beherzigen, „dass ihr einander liebt, wie ich euch liebe“ (Johannes 15,12). Und es ist kein Zufall, dass Jesus in der Passionserzählung des Johannes mit den Worten stirbt: „Es ist vollbracht.“ Das heißt, er hat seinen Auftrag erfüllt, so dass Menschen „die Wahrheit erkennen“ können, die sie „frei machen“ wird (Johannes 8,32).
Gottes Gerechtigkeit
OSTERMONTAG, 21. APRIL
Er wird den Tod verschlingen auf ewig. (Jesaja 25,8)
Was kommt nach dem Tod? Wo sind die Toten? Und wird man sie wiedersehen? Solche Fragen stellen sich Menschen, wenn sie bedenken, dass ihr Leben endlich ist. Diese Fragen bedrängen Menschen, wenn Mitmenschen sterben, die sie gekannt oder gar geliebt haben. Und diese Fragen werden gerade auch in der Passionszeit und zu Ostern wach. Mit ihnen hatten sich schon die alten Israeliten auseinandergesetzt. Aber für sie ging es zunächst nicht um das Weiterleben nach dem Tod, sondern um die Gerechtigkeit Gottes. In den ältesten Schichten des Alten Testaments findet sich noch die Auffassung, dass Gott im Diesseits die guten Menschen belohnt und die bösen leer ausgehen. Aber davon war damals so wenig zu sehen wie heute. So klagt der Verfasser des 73. Psalms: „Ich sah, dass es den Frevlern gut ging. Denn für sie gibt es keine Qualen, gesund und feist ist ihr Leib“ (4–5). Und der Psalmist fragt und klagt. „Soll es denn umsonst sein, dass ich mein Herz rein hielt … ? Ich bin täglich geplagt, und meine Züchtigung ist alle Morgen da“ (13–14). Solche Erfahrungen lassen an der Gerechtigkeit Gottes zweifeln. Daher entwickelt sich im Judentum ab dem 8. Jahrhundert vor Christus immer stärker die Hoffnung, dass Gott die Toten auferweckt und dann Recht spricht.
Wer an die Auferstehung glaubt, vertraut also darauf, dass der gerechte Gott das letzte Wort behält. Und dazu gehört die Hoffnung, dass am Ende auch denen Gerechtigkeit widerfährt, die im Laufe der Geschichte Unrecht erfahren haben: die Unterdrückten und Ausgebeuteten, die Gefolterten und Ermordeten. Die Erwartung des Jüngsten Gerichts hat der konfessionslose Philosoph Max Horkheimer als „Ausdruck einer Sehnsucht“ bezeichnet, „dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge“.
Lob des Zweifels
SONNTAG QUASIMODOGENITI, 27. APRIL
Da sagten die anderen Jünger zu ihm (Thomas): Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nagelmale sehe und lege meine Hand in seine Seite, kann ich’s nicht glauben. (Johannes 20,25)
Thomas hätte es sich einfach machen können. Er hätte nur der Mehrheit folgen müssen nach dem Motto: Wenn elf Leute sagen: „Wir haben den Herrn gesehen“, wird es schon stimmen. Aber Thomas gibt sich nicht mit dem zufrieden, was andere behaupten. Er folgt nicht unbesehen dem, was die Mehrheit für richtig hält. Er ordnet sich nicht blind Autoritäten unter. Thomas macht sich vielmehr einen eigenen Kopf. Er sagt seinen Gefährten, was er denkt, egal was diese dann von ihm denken werden.
Und ein Zweites ist genauso bemerkenswert: Thomas hält seine Zweifel aus – acht Tage lang, heißt es im Johannesevangelium. Ja, die Schwester des Zweifels ist die Geduld. Wer zweifelt, darf nicht zu Schnellschüssen neigen. Er muss warten können, bis sich ein Problem löst, acht Tage, acht Jahre, ja vielleicht sogar ein ganzes Leben lang.
Thomas trifft den Auferstandenen nach acht Tagen. Und dieser hält Thomas keine Predigt. Er droht auch nicht mit dem Ausschluss aus dem Kreis der Jünger. Sicher – Jesus ermahnt Thomas: „Sei nicht ungläubig, sondern gläubig.“ Aber er nimmt den Zweifel des Thomas ernst. Jesus nimmt den Zweifler ernst. Und das hat Folgen. Thomas antwortet mit einem gewaltigen Bekenntnis: „Mein Herr und mein Gott“.
Übersetzt heißt das: „Auf Dich, Christus, setze ich von nun ab mein ganzes Vertrauen. Du sollst mein Leben bestimmen. Von Dir lasse ich mich leiten bei dem, was ich denke und tue. Mit Dir will ich leben. Und mit Dir will ich sterben.“
Thomas lässt sich also von Christus in seiner ganzen Existenz treffen. Er plappert nicht einfach ein Glaubensbekenntnis nach, das andere formuliert haben. Das Glaubensbekenntnis des Thomas kommt vielmehr aus seinem und aus vollem Herzen. Es ist ein persönliches, ein wahrhaftiges, ein authentisches Bekenntnis. Und das ist nur möglich geworden, weil Thomas zuvor gezweifelt hat, statt kritiklos zu übernehmen, was andere gesagt haben.
„Zweifel ist der Weisheit Anfang“, hat der Philosoph René Descartes gesagt. Und ich möchte ergänzen: „Zweifel ist des Glaubens Anfang.“ Oder etwas zurückhaltender ausgedrückt: Der Zweifel muss nicht das Ende des Glaubens bedeuten. Der Zweifel kann vielmehr die Möglichkeit eröffnen, den Glauben zu vertiefen.
Gerechter Krieg?
MISERICORDIAS DOMINI, 4. Mai
Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich … Meine Schafe hören meine Stimme, … und sie folgen mir. (Johannes 10,14+27)
Die Stimme des guten Hirten, die Aufforderung Jesu zu Feindesliebe und Gewaltlosigkeit ist immer wieder überhört worden. Kirchenleute legitimierten den Kriegsdienst von Christen mit dem Hinweis auf den römischen Hauptmann Cornelius, der Christ wurde (Apostelgeschichte 10). Und 1914 überhöhten deutsche Geistliche und Universitätstheologen den Krieg religiös. So findet sich auf vielen Kriegerdenkmälern der Spruch aus Johannes 15,13: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ Diese Verdrehung der christlichen Botschaft und die Schrecken des Zweiten Weltkriegs (die zum Teil ihre Väter schilderten) haben pazifistische Kirchenleute im Hinterkopf, die Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnen.
Aber damit vergessen oder verdrängen sie einen anderen wichtigen Aspekt der (Kirchen-)Geschichte. In der Nacht zum 30. September 1938 unterschrieben die Regierungschefs von Großbritannien und Frankreich das Münchner Abkommen. Es zwang die Tschechoslowakei, die Sudetengebiete an Hitlerdeutschland abzutreten. Wie andernorts feierten die Kirchen in Großbritannien Dankgottesdienste für die Abwendung eines Krieges. Und Bischöfe priesen Premierminister Neville Chamberlain als Friedenstifter.
Der Basler Theologieprofessor Karl Barth war dagegen hellsichtig. Am 19. September 1938 forderte er in einem Brief an seinen Prager Kollegen Josef Hromadka die Tschechen zur militärischen Verteidigung ihres Landes auf. Barth schrieb, es seien „merkwürdige Zeiten, lieber Herr Kollege, in denen man bei gesunden Sinnen unmöglich etwas Anderes sagen kann, als daß es um des Glaubens willen geboten ist, die Furcht vor der Gewalt und die Liebe zum Frieden entschlossen an die zweite und die Furcht vor dem Unrecht, die Liebe zur Freiheit ebenso entschlossen an die erste Stelle zu rücken!“
Das Münchner Abkommen führte bekanntlich zu einem Scheinfrieden. Und es machte den Staatsstreich hinfällig, den Wehrmachtsoffiziere um Admiral Wilhelm Canaris für den Fall eines Krieges geplant hatten.
Zwei Jahre zuvor, am 7. März 1936, hatte Hitler das entmilitarisierte Rheinland besetzen lassen. Frankreichs Armee, die der deutschen Wehrmacht überlegen war, hätte zurückschlagen können. Aber wäre das christlich gewesen?
Jürgen Wandel
Jürgen Wandel ist Pfarrer, Journalist und ständiger Mitarbeiter der "zeitzeichen".