„Ein unerreichtes Vorbild“

zeitzeichen: Professor Huber, als Sie Ende der 1950er-Jahre anfingen, sich mit Bonhoeffer zu beschäftigen, war dieser Theologe noch in Teilen der Kirche und der Gesellschaft verschrien als Verräter, weil er aktiv war im Widerstand gegen Hitler, vielleicht sogar als potenzieller Gewalttäter. War das auch Ihre Empfindung damals? Oder haben Sie schon damals gewusst: Doch, der war auf der richtigen Seite?
Wolfgang Huber: Ich war von Anfang an davon überzeugt, dass er auf der richtigen Seite war. Diese Einsicht verdankte ich einem Theologen, der in unserem Gymnasium Religionsunterricht erteilte. Da lernten wir schon, Karl Barth und Bonhoeffer als wichtige Eckpunkte zu verstehen. Bei Bonhoeffer war es das konsequente Leben, das mich faszinierte. Alles, was es in den 1950er-Jahren sonst noch an Ablehnung gab, ging an mir spurlos vorüber, weil dem eine klare Grundorientierung entgegenstand.
Von Ihrem Vater, dem Staatsrechtler und Carl-Schmitt-Schüler Ernst Rudolf Huber, oder seinem Umfeld gab es seinerzeit keine abschätzigen Bemerkungen zu Bonhoeffer?
Wolfgang Huber: Ich kann mich nicht erinnern, damals mit meinem Vater je ein Wort über Bonhoeffer gewechselt zu haben.
Das ist erstaunlich, oder?
Wolfgang Huber: Ja, doch. Aber ich sah nicht ein, warum ich den Anfang machen sollte.
Bonhoeffer war ein Widerstandskämpfer, manche sagen ja auch: ein Märtyrer. War er in gewisser Weise das schlechte Gewissen von vielen Leuten in der Kirche und in der Theologie, die noch die Nazi-Zeit bewusst erlebt und geprägt haben? Denn er hat ja gezeigt: Man hätte Widerstand leisten können. Er hat einen anderen Weg gezeigt, den man nicht gegangen ist, weil man zu feige war.
Wolfgang Huber: Ja, das kann man so sehen. Erst sehr viel später kam ich mit meinem Vater noch einmal auf Bonhoeffer: Ich habe mit ihm eine mehrbändige Dokumentensammlung über Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert herausgegeben, die 1933 aufhört. Ich habe erreicht, dass in dieses Buch Bonhoeffers Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“ aufgenommen wurde, übrigens zusammen mit einem ganz anders gearteten Text des Theologen Walter Künneth.
Warum war Ihnen das so wichtig?
Wolfgang Huber: Für mich war wichtig, dass die Auseinandersetzungen des Jahres 1933 exemplarisch zur Geltung kamen. Mein Vater nahm wahr, wie wichtig es mir war, dass der beginnende Kirchenkampf exemplarisch an der „Judenfrage“ zur Geltung kam. Den Februar 1933 und Bonhoeffers Aufsatz in unsere Sammlung aufzunehmen, war nicht einfach, aber in meinen Augen konsequent. Das Gespräch mit meinem Vater bildete den Abschluss vieler Jahre, in denen wir uns mit diesen staatskirchenrechtlichen Fragen in der deutschen Geschichte beschäftigten. Ich bin heute noch dankbar dafür, dass das möglich war.
Ärgert Sie es, wenn Bonhoeffer auf Kalendersprüche reduziert wird – etwa mit Formeln wie „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist“ oder „Von guten Mächten wunderbar geborgen“?
Wolfgang Huber: Warum sollte es mich ärgern? Bonhoeffer eignet sich ja dafür. Er hatte eine große Begabung im Formulieren knapper Sätze. Und dass die sich auch verselbstständigen, muss man nicht nur als Risiko sehen, sondern auch als Chance. Denn derartige Schlüsselsätze Dietrich Bonhoeffers regen noch heute zum Nachdenken und zur selbstkritischen Prüfung an. Unverkennbar ist damit die Gefahr der Einseitigkeit verbunden. Das merkt man selber, trotzdem zitiert man solche Spitzensätze immer wieder.
Weil doch so viel Wahrheit darin steckt?
Wolfgang Huber: Ja, ich sehe darin nicht so sehr eine Gefahr, sondern eine Leistung, wichtige Dinge sehr knapp zu formulieren. Der Satz „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“ war in dem Augenblick, in dem Bonhoeffer dies gesagt hat, nicht so kalkuliert, dass er eine solche Bedeutung hätte erwarten können. Sondern Bonhoeffer brauchte diese Zuspitzung selber, um für sich Klarheit zu gewinnen.
Gleichzeitig war Bonhoeffer dann spätestens seit den 1980er-Jahren, neben den Theologen Martin Niemöller und Helmut Gollwitzer für manche in der Kirche eine Art Feigenblatt, um sagen zu können: Wir waren im Kirchenkampf, ja im Widerstand!
Wolfgang Huber: Ich habe Bonhoeffer immer stärker als unerreichtes Vorbild und nicht als Feigenblatt verstanden. Ich habe es auch nicht für missbräuchlich angesehen, wenn Schulen oder Gemeindehäuser nach Bonhoeffer benannt wurden. Es war in Ordnung, denn so wird er nicht vergessen. Doch dann muss man sich auch wirklich mit seinem Erbe beschäftigen und fragen, was er getan hat und warum wir uns heute an ihn erinnern.
Aber auch kirchlich Engagierte der jüngeren Generation haben den strahlenden Namen Bonhoeffer viel früher gehört als zum Beispiel die unschöne Geschichte von den Deutschen Christen.
Wolfgang Huber: Das stimmt. Gleichzeitig muss man anerkennend sagen, dass die evangelische Kirche in Deutschland spätestens ab den 1970er-Jahren eine separate Anstrengung unternommen hat, um das aufzuarbeiten, weil man gemerkt hat: Wenn man die Theologen nur sich selber überlässt, dann machen sie um die Geschichte der Deutschen Christen einen großen Bogen. Man kann der evangelischen Kirche deswegen auch nicht vorwerfen, sie hätte sich nur die Rosinen aus der Geschichte der 1930er-Jahre herausgepickt. Merkwürdigerweise heißt die Überschrift über dieser Epoche trotzdem immer noch „Kirchenkampf“, obwohl diese Bezeichnung ja ursprünglich nur auf den Widerstand gegen die NS-Diktatur bezogen war.
Bonhoeffer kam aus einer besonderen, ja einer elitären Familie, in der ein Bewusstsein vorhanden war, dass es selbstverständlich ist, für Gesellschaft und Staat Verantwortung zu übernehmen. Inwieweit war das für ihn prägend?
Wolfgang Huber: Zunächst mal muss man zur Kenntnis nehmen, dass Dietrich Bonhoeffers Familie seinen Weg zur Theologie eher für abwegig hielt. Und ich kann das sogar nachvollziehen. Ich will mich sonst nicht vergleichen, aber als fünfter von fünf Brüdern war ich auch der Einzige in einer Juristenfamilie, der Theologie studierte. Bei Bonhoeffer gab es immerhin die Unterstützung seiner Mutter, die aus einer Theologenfamilie stammte. Bei ihm herrschte eher eine Verpflichtung gegenüber den eigenen Begabungen, und es gab ja durchaus bei ihm die ernsthafte Überlegung, Musiker zu werden, denn seine Fähigkeiten als Pianist waren ganz außergewöhnlich. Die Entscheidung zur Theologie fällte er also im Bewusstsein von Alternativen. Das hat Auswirkungen für die theologische Biografie, es fördert einen anderen Typus von Theologie. Es gibt eine gewisse Freiheit, die man bei ihm deutlich spürt. Sie ist in seinem Weg zur Theologie angelegt und tut seiner Theologie gut.
Bei Bonhoeffer findet man sehr harte inhaltliche Brüche, gerade in den frühen Jahren: Als Vikar in Barcelona hält er noch eine imperialistisch-sozialdarwinistische Rede, dann bekennt er sich in gewisser Weise zu einem radikalen Pazifismus, schließlich nochmal ein Bruch, zum dritten Mal, nämlich mit seinem Weg in den Widerstand, in die Konspiration. Bonhoeffer legitimierte sogar den Tyrannenmord. Wie ist das zu erklären?
Wolfgang Huber: Das ist aus einer Kontinuität heraus zu erklären, die man rückblickend als eine Kontinuität der Verantwortung beschreiben kann. Denn zwischen dem Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“ 1933 und späteren Positionen besteht ja kein Bruch, sondern es ist von 1933 an die bewusste Wahrnehmung dessen, was sich da Gefährliches zusammenbraut und wogegen man sich zur Wehr setzen muss. Es ist eine Auseinandersetzung Bonhoeffers mit seiner Kirche, die ihrer Verantwortung im Moment der beginnenden Diktatur absolut nicht gerecht wird. Denn wer außer Bonhoeffer hat im Raum der Kirche schon im Jahre 1933 gesehen, dass die Kirche Beiträge zur Konspiration leisten müsste?
Bonhoeffer erkannte das erstaunlich früh.
Wolfgang Huber: Ja, da war er schneller und wacher als viele andere, denn er sah den riesigen Bruch in der deutschen Geschichte. Und er war stärker als andere bereit, sich mit diesen Brüchen auseinanderzusetzen. Er hatte den Ersten Weltkrieg noch stark im Blick, da sein Bruder Walter im Krieg ums Leben gekommen war. Ich bin eher zurückhaltend, die Veränderungen bei Bonhoeffer als Brüche zu sehen. Ich sehe doch eher viel Kontinuität.
Bonhoeffer kommt aus einem christlichen Haus. Er studiert Theologie, er promoviert, er habilitiert sich. Er dringt ganz tief in die Bibel ein. Aber dann liest er noch einmal die Bergpredigt, die er wahrscheinlich auswendig kannte, neu und ändert radikal seine ganze Theologie. Wie ist das zu erklären, dass ein ihm so bekanntes Stück aus der Bibel auf einmal so entscheidend wird, dass er das neu hört und es lebensverändernd wird?
Wolfgang Huber: In den 1930er-Jahren war die Behauptung selbstverständlich, dass man mit der Bergpredigt keine Politik machen könne. Aber die Umbrüche in der eigenen Lebenszeit und Lebenswelt waren so groß, dass sie für Bonhoeffer auch eine neue Interpretation zentraler biblischer Texte erforderlich machten. Er hat schon vor 1933, übrigens auch durch den starken Einfluss seiner Zeit in Amerika, eine andere Vorstellung von politischer Ethik entwickelt, als er noch 1928 in Barcelona gezeigt hatte. Ich finde es beeindruckend, dass diese Bewegung bei Bonhoeffer schon vor 1933 so klar zu sehen ist. Es wird oft unterschätzt, welche intellektuelle, ja moralische und ethische Leistung das war.
Ein Pfeiler in Bonhoeffers Theologie ist die Idee eines religionslosen Christentums. Überzeugt Sie dieses Stichwort eigentlich?
Wolfgang Huber: Ich bin davon überzeugt, dass er dabei ein wichtiges Thema traktiert – aber mit einer problematischen Terminologie. Denn wir können unsere Mitchristen nicht motivieren, wenn wir sagen: Was ihr an christlicher Religion in Afrika und in Lateinamerika erlebt, hat mit der wahren Religion nichts zu tun. Das wird überhaupt nicht funktionieren.
Wie hat Bonhoeffer das Stichwort eines religionslosen Christentums dann gemeint?
Wolfgang Huber: Ich glaube, dass Bonhoeffer eine klare Unterscheidung brauchte zwischen der religiösen Ideologie der Deutschen Christen und dem, was er für den echten christlichen Glauben hielt. Von diesem Ausgangspunkt musste man doch 1944 sagen, dass man mit der gegenwärtigen „Religion“ in Deutschland nichts zu tun haben will. Diese Einsicht hat sich später terminologisch verselbstständigt. Sein Reden von Religionslosigkeit kann man nur richtig deuten, wenn man weiß, dass Bonhoeffer eine strenge religiöse Praxis wichtig war, besonders deutlich mit seinen Vikaren in Finkenwalde in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre und auch während seiner Haft seit 1943. Religiöse Praxis war für ihn so wichtig, dass er sie sogar ganz allein im Gefängnis praktizierte. Uns allen würde ich wünschen, dass wir das genauso gut könnten wie er.
Man hat manchmal den Eindruck, Bonhoeffer fordert uns etwa in seinem Buch „Nachfolge“ heraus, dass wir auch Heilige werden, dass es eigentlich kein wohltemperiertes, gemäßigtes Christentum des Alltags geben könne.
Wolfgang Huber: Wirklich? Er hatte großen Respekt für seine Freunde und Verwandten, die Christen im Alltag ihres Lebens waren und die bestimmt nicht jeden Morgen und jeden Abend die Bibel lasen. Ihre christliche Haltung hat er genauso respektiert wie die seiner politischen Mitverschwörer. Es hatte sicher einen gewissen Vorteil, dass er aus einer Familie stammte, die nicht so fest und eng kirchlich gebunden war.
Sprechen wir über das Stichwort Tyrannenmord, also über das „dem Rad in die Speichen fallen“, wie Bonhoeffer es schon 1933 nannte. Wer definiert, wann jemand ein Tyrann ist und wann gewalttätige statt gewaltlose Widerstandsformen angebracht sind?
Wolfgang Huber: Bonhoeffer sah schon 1933 mit voller Klarheit, dass viele auch aus seiner engsten Umgebung und aus der Kirche versuchten, sich der Einsicht zu entziehen, dass das NS-Regime von Grund auf verbrecherisch war. In diese Haltung hinein sagte er: Hier brauchen wir den Mut zu mehr Klarheit! Das hat ja dann die Risiken geprägt, die sein weiteres Leben bestimmten.
Bonhoeffer hat in seinen Notizen in der Haft 1944 geschildert, wie die Kirche nach dem Krieg sein müsste, nach der Diktatur. Er hat sie sich anders vorgestellt als die Volkskirchen, die es nach 1945 gab: mit Kirchenbeamten, mit einer doch starken Bürokratie und so weiter. Träumte er nicht von einer Kirche, die improvisierter war, nicht so stark bürokratisiert, vielleicht inspirierter auch?
Wolfgang Huber: Ja, ohne jeden Zweifel hatte er da weitergehende Vorstellungen gehabt und auch formuliert. Man soll das auch nicht einfach runterspielen und sagen, das mag irgendwie ein Gedankenexperiment sein. Nein, er hat das ernst gemeint. Aber wenn man dies liest, sieht man natürlich aus der Perspektive der Nachgeborenen, dass das nicht funktioniert hätte.
Was hätte nicht funktioniert?
Wolfgang Huber: Die evangelische Kirche, wenn sie 1945 gleich und konsequent diesen organisatorischen Umsturz im Sinne Bonhoeffers vollzogen hätte, hätte nicht mehr die Kraft und den Einfluss gehabt, den Millionen Menschen, vor allem den Geflüchteten, beizustehen, die in diesem Augenblick ihren Beistand brauchten. Hier muss man sagen: Es war die Stärke der Nachkriegskirche in diesen gewaltigen Umbrüchen, dass sie Menschen, die Zuflucht suchten, konkret half und ihre Interessen vertrat. Wenn man stattdessen nach Bonhoeffer gesagt hätte: Jetzt sorgen wir mal dafür, dass alle Pfarrer eine Art Arbeiterpriester werden und noch einem anderen Beruf nachgehen, und wenn sie abends noch Zeit haben, sollen sie noch etwas Frommes tun – all das wäre in der damaligen Lage nach 1945 vollkommen unvorstellbar gewesen. Auf der anderen Seite wissen wir ganz genau, dass nur dann, wenn man es damals gleich im Sinne Bonhoeffers gemacht hätte, es vielleicht eine Chance gegeben hätte, etwas mehr von dem umzusetzen, was er vor Augen hatte.
Wir wollen zum Abschluss ein kleines Gedankenexperiment wagen: Wie sähe Ihrer Meinung nach eine neue Friedensethik für die EKD im Sinne von Bonhoeffer aus angesichts des Krieges in der Ukraine und der offensichtlichen Bedrohung, die Europa durch Putin hat und mit einem seit neuesten höchst unsicheren Verbündeten USA?
Wolfgang Huber: Es ist natürlich hypothetisch, sich auszumalen, was Bonhoeffer in einer solchen Situation getan hätte. Aber er war von Anfang an ein Verantwortungsethiker und hat dabei den Vorrang der Gewaltlosigkeit vor allen Formen der Gewalt bejaht. Zugleich hat er die Grenzsituationen gesehen, in denen es darum geht, dem anderen zu helfen. Deshalb ist es schwer vorstellbar, er würde gleichgültig neben dem stehen, was jetzt in der Ukraine geschieht. Es gibt eben Situationen, in denen die Anwendung von Gewalt, obwohl man sich dadurch mit Schuld identifiziert, trotzdem gewählt werden muss.
Das Gespräch führten Philipp Gessler und Reinhard Mawick am 25. Februar in Berlin.
Wolfgang Huber
Dr. Dr. Wolfgang Huber ist ehemaliger EKD-Ratsvorsitzender, Bischof i. R. und Herausgeber von "Zeitzeichen." Er lebt in Berlin.
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.