Nicht zu instrumentalisieren

Dietrich Bonhoeffers Vermächtnis entzieht sich jeder Vereinnahmung. Er fordert dazu auf, stets in der Verantwortung vor Christus zu entscheiden, was notwendig ist. Sein Leben und Werk zeigen, dass solche Entscheidungen auch einen Friedensethiker in den Widerstand treiben können. Das erklärt Nadine Hamilton, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.
In diesen Tagen jährt sich der Todestag Dietrich Bonhoeffers zum 80. Mal. Angesichts dieser Erinnerung stellt sich die Frage, wie sich sein Erbe in der Gegenwart angemessen verstehen lässt. Bonhoeffer bleibt eine zentrale Figur des öffentlichen Diskurses, und sein Leben und Werk werden in unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Kontexten vereinnahmt. Während viele seine Beiträge zur Theologie und seine Haltung zu Ethik und Widerstand schätzen, wird sein Name häufig für ideologische Zwecke genutzt.
Bonhoeffer wird immer wieder als „Vorbild“ zitiert, jedoch ohne die Komplexität und die Entwicklung seines Denkens zu berücksichtigen. Ein aktuelles Beispiel für diese Vereinnahmung ist die politische Instrumentalisierung Bonhoeffers sowohl durch Gegner als auch Befürworter von Donald Trump. Während die einen ihn als Vorbild im Widerstand gegen Ungerechtigkeit anführen und dabei auf seine berühmten Worte verweisen: „We are not to simply bandage wounds of victims beneath the wheel of injustice, we are to drive a spoke into the wheel itself“, um Wahlkampf gegen Trump zu machen, stilisieren andere ihn als Helden im Kampf gegen ein vermeintlich liberales Amerika.
Polarisiertes Klima
Ein markantes Beispiel dieser Instrumentalisierung bietet die evangelikale Produktionsfirma Angel Studios, die das Biopic Bonhoeffer: Pastor. Spy. Assassin von Todd Komarnicki mit einer Kampagne bewarb, die Bonhoeffer als Widerstandskämpfer gegen ein angeblich überbordendes liberales Amerika inszenierte. Auf dem Filmplakat wird er mit einer Waffe in der Hand gezeigt, begleitet von dem provokanten Slogan: „Wie weit wirst du gehen, um für das Richtige einzutreten?“
Diese Botschaft ruft besonders im aktuellen, stark polarisierten politischen Klima Besorgnis hervor, wie auch Expert:innen, darunter die deutschsprachige Bonhoeffer-Gesellschaft, in einem Statement zur US-Wahl warnten. Mitte März 2025 lief der Film unter dem Titel „Bonhoeffer“ in deutschen Kinos an, wobei die deutsche Vermarktung zumindest den Film gegen eine rechtsnationale Vereinnahmung abgrenzt – ein Schritt, der durchaus zu begrüßen ist und zeigt, wie umkämpft das Vermächtnis Bonhoeffers auch heute noch bleibt.
Bonhoeffer bleibt eine Projektionsfläche für eine Vielzahl politischer Strömungen, sowohl progressiver als auch konservativer Natur. Sein Leben und Werk sind bis heute von ungebrochener Aktualität, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass jeder genau zu wissen glaubt, was Widerstand im Sinne Bonhoeffers bedeutet. Doch eine genauere Auseinandersetzung mit seiner Theologie offenbart die Komplexität seines Denkens und warnt davor, sein Widerstandsverständnis ohne fundiertes Wissen um sein theologisches Erbe für eigene Zwecke zu instrumentalisieren.
Ein besonders aufschlussreiches Beispiel hierfür ist Bonhoeffers 1933 verfasster Text „Die Kirche vor der Judenfrage“, aus dem auch das Zitat „dem Rad in die Speichen fallen“ stammt. In diesem Text nimmt Bonhoeffer Stellung zum Arierparagraphen, irritiert aber zugleich durch seine anfängliche Zurückhaltung gegenüber staatlichem Unrecht, durch antijudaistische Motive und die Fokussierung auf die innerkirchliche Situation. Tatsächlich spielt der Widerstand gegen den NS-Staat aufgrund der Judenverfolgung hier noch eine untergeordnete Rolle. Für Bonhoeffer steht zu diesem Zeitpunkt vor allem die Frage im Vordergrund, wie sich die Kirche gegenüber der Diskriminierung von Christen jüdischer Herkunft verhalten soll. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus als Ganzes wird zu diesem Zeitpunkt noch nicht thematisiert.
Theologisches Ringen
Obwohl der Text „Die Kirche vor der Judenfrage“ in seiner Zeit verhaftet bleibt, stellt er einen wichtigen Meilenstein in Bonhoeffers Auseinandersetzung mit der Verbindung von Theologie und Widerstand dar. Bonhoeffer erkennt darin, dass die „Judenfrage“ nicht nur eine politische, sondern auch eine innerkirchliche Herausforderung ist, die die Kirche dazu aufruft, ihre Zugehörigkeit zum Glauben unabhängig von ethnischen oder rassischen Kriterien zu definieren. Der Text markiert somit den Beginn einer tiefergehenden theologischen Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich Christen im Angesicht von politischem Unrecht und der Verfolgung von Minderheiten verhalten sollen.
Daran anschließend entwickelt Bonhoeffer im Laufe der Jahre eine Theologie der Stellvertretung, die ihn zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus führt. Bonhoeffer wird heute oft mit Begriffen wie „Verantwortung“ und „Schuldübernahme“ verbunden, die aus diesem theologischen Ringen hervorgehen. Die Auseinandersetzung mit der „Judenfrage“ wird so zu einem Prüfstein für das Kirchenverständnis, das Bonhoeffer bis zuletzt weiterentwickelt. Für heutige Leser:innen bleibt diese Auseinandersetzung zentral, um zu verstehen, wie sich das Wesen der Kirche an der Verantwortung in Zeiten des Unrechts entscheidet.
Bonhoeffers Text „Die Kirche vor der Judenfrage“ besteht aus zwei Teilen, die erst allmählich aufgrund der politischen Situation zusammengewachsen sind. Bereits die uneinheitliche Struktur dieses Aufsatzes zeigt, worauf unter anderem Wolfgang Huber hinweist: Es handelt sich hier nicht um „Theologie nach, sondern in der Entscheidung“. Bonhoeffer beginnt mit einer Reflexion über das Verhältnis von Staat und Kirche. Nach reformatorischer Tradition erkennt er den Staat als göttliche Ordnung an, die für Recht und Ordnung zu sorgen hat. Dabei betont er, dass die reformatorische Kirche nicht angehalten sei, „dem Staat in sein spezifisch politisches Handeln hineinzureden“. Im Gegenteil, weil die Kirche den Staat als „Erhaltungsordnung Gottes in der gottlosen Welt“ bejaht, habe sie das staatliche „Ordnungschaffen“ als „in dem erhaltenden Willen Gottes mitten in der chaotischen Gottlosigkeit der Welt“ begründet anzuerkennen und zu verstehen. Angesichts der neuen Gesetzgebung des NS-Staates entwickelt Bonhoeffer drei mögliche Reaktionsweisen der Kirche: 1. Sie muss den Staat an seine Verantwortung für Recht und Ordnung erinnern, 2. den Opfern staatlichen Unrechts beistehen und im Extremfall 3. „dem Rad in die Speichen fallen“, wenn der Staat seine eigene Legitimität zerstört.
Zur Zeit der Abfassung des Textes erkennt Bonhoeffer zwar die Problematik, dass der NS-Staat jüdische Mitbürger:innen „unabhängig von [ihrer] Religionszugehörigkeit“ unter Sonderrecht gestellt habe. Er erkennt aus dieser politischen Maßnahme des Staates zunächst aber vor allem das Problem für die Kirche: „Wie beurteilt die Kirche dies staatliche Handeln und welche Aufgabe erwächst ihr daraus?“ Und: „Was ergibt sich für die Stellung der Kirche zu den getauften Juden in den Gemeinden?“ Bonhoeffer engt damit das weite Gebiet des kirchlichen Umgangs mit staatlichem Handeln bezüglich der Juden und Jüdinnen weiter ein auf die Frage des Handelns der Kirche mit ihren, wie Bonhoeffer sie bezeichnet, „eigenen“ Juden, also den zum Christentum konvertierten Juden und Jüdinnen. Beide Fragen versteht er getrennt voneinander, aber vereint durch „einen rechten Kirchenbegriff“.
Ekklesiologische Herausforderung
Das Ziel, das Bonhoeffer in seinem Aufsatz verfolgt, liegt also nicht vordergründig in einer Auseinandersetzung um die Rechte jüdischer Mitbürger:innen. Vielmehr geht es um den im Angesicht der nationalsozialistischen Gesetzgebung infrage gestellten Kirchenbegriff. Die eigentliche Problemstellung sieht er deshalb in der nationalsozialistischen Gesetzgebung gegen Juden und Jüdinnen als ekklesiologische Herausforderung, nämlich in der theologisch kontrovers diskutierten Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Volk Israel als Frage nach der wahren Kirche Gottes. Entsprechend kritisiert er die staatliche Judenpolitik zunächst nur vorsichtig und entfaltet eine theologische Argumentation, die auf das Selbstverständnis der Kirche zielt. Die Frage nach der Zugehörigkeit zur Kirche ist für ihn nicht abstrakt, sondern stellt sich in einer Zeit, in der rassistische Kriterien zum Maßstab für kirchliche Mitgliedschaft werden sollen. So entwickelt er eine Argumentation, die sich gegen eine solche Verfälschung der Kirche richtet.
Diese Einsicht verändert sein Denken grundlegend, weil er die „Judenfrage“ als eine existenzielle Bewährungsprobe für die Kirche wahrnimmt. In seiner Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Gesetzgebung entwickelt sich deshalb eine theologische Argumentation, die vor allem die Frage nach der Identität der Kirche thematisiert. Eine Kirche, die in der Zeit des Unrechts schweigt oder sich gar an rassistische Ideologien anpasst, verfehlt ihre Berufung. Während Bonhoeffer die ersten beiden Aufgaben bereits 1933 als verpflichtend ansieht, bleibt das unmittelbare politische Handeln der Kirche gegenüber dem Staat zunächst allein theoretisch. Doch seine Überlegungen deuten bereits die spätere Entwicklung seines Denkens an, die letztlich in seinen kirchlichen und politischen Widerstand gegen den NS-Staat münden wird.
Während Bonhoeffer 1933 noch innerhalb des klassischen lutherischen Rahmens argumentiert, entwickelt sich mit der Zeit ein dynamischeres Verständnis von Kirche. Diese kann sich nicht nur mit sich selbst beschäftigen, sondern muss sich in der Welt bewähren. Diese Erkenntnis führt ihn in seiner Ethik zu der Überzeugung, dass verantwortliches Handeln nicht an starren Prinzipien ausgerichtet sein kann, sondern die konkrete Realität und die Person Jesu Christi berücksichtigen muss. Christliche Ethik ist demnach nicht lediglich eine Frage nach dem „Tun des Guten“, sondern vielmehr der Teilhabe am „erfüllten Willen Gottes“.
Menschliche Schuld
Diese Orientierung mündet in einem tiefgehenden Verständnis von Verantwortung, das auch die Bereitschaft zur Schuldübernahme umfasst. „Weil Jesus Christus in die menschliche Schuld eingetreten ist, kann Verantwortung auch bedeuten, aus Liebe zum Nächsten schuldig zu werden.“ Schuldübernahme ist für Bonhoeffer demnach kein moralischer Freifahrtschein, sondern der Ausdruck einer im Blick auf Christus getroffenen Entscheidung im Angesicht unvollkommener Handlungsmöglichkeiten im Vorletzten.
Bonhoeffers Gedanken zur Schuldübernahme begleiteten ihn bis zuletzt. In „Widerstand und Ergebung“ formuliert er für die Kirche: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ Dieser Satz pointiert sein gereiftes theologisches Verständnis, das eine Forderung einholt, die er schon in der „Kirche vor der Judenfrage“ formuliert: Kirche existiert nicht für sich selbst, sondern „ist den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet, auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören.“ Diese Haltung wird für Bonhoeffer zu einer fundamentalen ethischen Frage: Wie lebt der Christ in einer Welt, die von Ungerechtigkeit geprägt ist? Wie kann die Kirche in einer Welt, die von politischen Ideologien und Ungerechtigkeit beherrscht wird, ihrer Verantwortung gerecht werden?
Vorgefertigte Agenda
Bonhoeffers Denken bleibt auch heute eine Herausforderung. Wer sich auf ihn beruft, muss sich der Komplexität seines Denkens stellen und sich fragen lassen, ob er ihn nicht für eine vorgefertigte Agenda instrumentalisiert. Denn Bonhoeffers Vermächtnis entzieht sich jeder Vereinnahmung. Er fordert dazu auf, stets vor Christus zu entscheiden, was notwendig ist. Bonhoeffers Leben und Werk zeigen, dass solche Entscheidungen auch einen Friedensethiker in den Widerstand treiben können. Das macht ihn nicht zu einem Heiligen, der für jede politische Agenda vereinnahmt werden kann, sondern zu einem Zeugen der Wirklichkeit Christi.
Bonhoeffer gehört niemandem, aber er fordert heraus, seinen Weg der Verantwortungsübernahme neu zu gehen – jenseits von Ideologien. Er provoziert zur Auseinandersetzung mit der Gegenwart und stellt die Frage, wie christlicher Glaube heute gelebt werden kann. Bonhoeffers Überzeugung, dass die Kirche Anwältin der Entrechteten sein muss, bleibt aktuell. Denn auch heute steht die Kirche vor der Herausforderung, nicht nur zu mahnen, sondern auch zu handeln – in sozialer Gerechtigkeit, in Friedensarbeit und in der kritischen Reflexion ihrer Rolle.
Nadine Hamilton
Dr. Nadine Hamilton ist Privatdozentin und Akademische Rätin an der Universität Erlangen-Nürnberg.