„Soll ich schießen?“

Er wurde mehr und mehr zum Seelsorger und zum theologischen Gewissen der am militärischen Widerstand gegen das Nazi-Regime Beteiligten. Indem Dietrich Bonhoeffer für die Mitverschworenen nach der theologischen Begründung ihres Tuns fragte, wurde es ihnen möglich, mit gutem Gewissen ihre ganze Kraft in der Konspiration gegen Hitler einzusetzen. Dies erklärt Peter Zimmerling, der bis vor kurzem Praktische Theologie an der Universität Leipzig lehrte.
Bonhoeffers Seelsorge im Raum der Politik wird vor allem an zwei Stellen greifbar: in seinen theologischen Überlegungen zum Widerstand gegen Hitler und in Berichten von Seelsorgegesprächen mit Mitverschwörern.
Die Fragmente seiner „Ethik“, die erst posthum nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht wurden, genauso wie der Rechenschaftsbericht „Nach zehn Jahren“ aus „Widerstand und Ergebung“, verfasst für Eberhard Bethge, Hans von Dohnanyi und Hans Oster an Weihnachten 1942, haben nicht zuletzt seelsorglichen Charakter. Die beiden zuletzt genannten Schriften sind aus dem Bedürfnis heraus entstanden, das Handeln im Widerstand zu legitimieren. Bonhoeffer stellte darin seine theologischen Erkenntnisse in den Dienst der seelsorglichen Begleitung der Mitverschwörer. Neben der politischen Seelsorge auf dem Feld des Denkens sind auch Beispiele überliefert, wie Bonhoeffers politische Seelsorge im konkreten seelsorglichen Einzelgespräch aussah.
„Dem Rad in die Speichen fallen“
Bereits Anfang April 1933 hielt Bonhoeffer in Berlin einen Vortrag zum Thema „Die Kirche vor der Judenfrage“, der Anfang Juni auch als Aufsatz gedruckt wurde. Darin findet sich eine Erkenntnis, die neu war für ein Mitglied der sich gerade formierenden Bekennenden Kirche: dass Christen für Nicht-Christen Verantwortung haben, wenn ihnen durch den Staat Unrecht geschieht. Der Vortrag stellte eine Reaktion auf den am 7. April 1933 verabschiedeten Arierparagraphen dar, der Juden vom Beamtentum ausschloss. Bonhoeffer verteidigt darin nicht nur die Kirchenmitgliedschaft getaufter Juden, sondern ruft zum Einsatz für die bürgerlichen Rechte der Juden im deutschen Staat auf. Drei Möglichkeiten kirchlichen Handelns gegenüber staatlichem Unrecht werden genannt: „erstens [...] die an den Staat gerichtete Frage nach dem legitim staatlichen Charakter seines Handelns, d. h. die Verantwortlichmachung des Staates. Zweitens der Dienst an den Opfern des Staatshandelns. Die Kirche ist den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet, auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören. ‚Tut Gutes an jedermann.‘ [Gal 6,] [...] Die dritte Möglichkeit besteht darin, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.“
Die beiden ersten Möglichkeiten des Widerstands – gegen staatliches Unrecht zu protestieren beziehungsweise den Opfern diakonisch beizustehen – lassen sich noch am ehesten aus der theologischen Tradition heraus erklären. Dass Bonhoeffer aber schon 1933 damit rechnete, dass die Kirche auch politisch in Opposition gegen den Staat treten könnte, versetzt in Erstaunen. Immerhin war es für einen lutherisch geprägten Theologen schwer vorstellbar, weil bisher noch nicht vorgekommen, dass die Regierung eines evangelisch geprägten Staates sich als widergöttliches Regime entpuppte. Seit der Reformation bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918, also fast vier Jahrhunderte lang, hatten in Deutschland die weltlichen Souveräne an der Spitze der evangelischen Kirchen gestanden.
„Sie verbrennen alle Häuser Gottes im Lande“
Bonhoeffer hat in den folgenden Jahren die Kriterien christlichen Handelns gegenüber staatlichem Unrecht weiterentwickelt. Immer klarer erkannte er, dass sich das christliche Engagement nicht auf die eigenen Belange der Kirche beschränken durfte: keine Erneuerung der Kirche ohne deren selbstlosen Einsatz für die Juden!
Wir haben das Glück, dass Bonhoeffers Meditationsbibel erhalten geblieben ist. Es ist ein Exemplar der Lutherbibel von 1911, das ursprünglich seinem im Ersten Weltkrieg gefallenen Bruder Walter gehörte. Auf rund 300 Seiten finden sich angestrichene, unterstrichene oder mit Notizen versehene Bibelstellen. Diese Bibel hat Bonhoeffer bis ins Gefängnis hinein begleitet, so dass sich aus den unterschiedlichsten Lebensphasen Markierungen finden. Allerdings notiert er nur an drei Stellen eine Zeitangabe, davon zweimal eine Kirchenjahresangabe und einmal ein Kalenderdatum. Im Folgenden beschränke ich mich auf die Stelle mit Kalenderdatum. Es handelt sich um Psalm 74,8b: „Sie verbrennen alle Häuser Gottes im Lande.“ Bonhoeffer hat diesen Satz mit Bleistift unterstrichen und zusätzlich durch zwei dünne Seitenstriche hervorgehoben. Daneben steht das Datum: „9.11.38“. Auch die Fortsetzung des Psalms versah er mit Strich und Ausrufungszeichen: „Unsere Zeichen sehen wir nicht, und kein Prophet predigt mehr, und keiner ist bei uns, der weiß wie lange.“
Der 9. November 1938 war das Datum der Reichspogromnacht. Bonhoeffer befand sich an diesem Tag in Groß-Schlönwitz, einem der beiden Quartiere der sogenannten illegalen Sammelvikariate der Bekennenden Kirche in Hinterpommern. Erst an den darauf folgenden Tagen erfuhr er von der Zerstörung der Synagogen überall in Deutschland. Als Bonhoeffer nach Köslin, dem anderen Ort der Sammelvikariate, kam, entzündete sich dort eine heftige Diskussion über die Ereignisse in der Nacht vom 9. zum 10. November. Die Kösliner Synagoge war bis auf die Grundmauern abgebrannt. Einige der Vikare vertraten die Ansicht, dass sich dabei durch die Nazis der Fluch über die Juden erfüllt habe. Das lehnte Bonhoeffer auf das schärfste ab. Hier sei reine Gewalt geschehen. Er meinte: „Wenn heute die Synagogen brennen, dann werden morgen die Kirchen angezündet werden.“ Damit hatte sich für ihn erneut das gottlose Gesicht des Nationalsozialismus gezeigt.
In einem kurz danach abgefassten Brief vom 20. November 1938 weist Bonhoeffer auch die ehemaligen Finkenwalder Vikare auf Psalm 74 hin. Daneben empfiehlt er, Sacharja 2,12 zu bedenken: „Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an“, außerdem Römer 9,4 f. („Die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören, und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen“) und 11,11–15 („So frage ich nun: Sind sie gestrauchelt, damit sie fallen? Das sei ferne! Sondern durch ihren Fall ist den Heiden das Heil widerfahren, damit Israel ihnen nacheifern sollte. Wenn aber schon ihr Fall Reichtum für die Welt ist und ihr Schade Reichtum für die Heiden, wie viel mehr wird es Reichtum sein, wenn ihre Zahl voll wird …“). Mit der letzten Bibelstelle erinnert Bonhoeffer an die bleibende Erwählung Israels.
Dies zeigt: Es ist Bonhoeffer offensichtlich gelungen, politische Ereignisse im Licht von meditierten Bibelversen zu deuten. Aus den dadurch gewonnenen Erkenntnissen hat er zudem Handlungsanweisungen für den Alltag abgeleitet: gegen das Naziregime umso entschiedener Widerstand zu leisten, weil es erneut sein antigöttliches Gesicht gezeigt habe. Bonhoeffers Bibelmeditation blieb also nicht auf die religiöse Innerlichkeit beschränkt, sondern wirkte sich bis in den Bereich des sozialethischen Handelns und der politischen Seelsorge aus.
„Soll ich schießen?“
Nach seiner Rückkehr aus den USA im Sommer 1939 entschloss Bonhoeffer sich zur aktiven Mitarbeit im Widerstand gegen Hitler. Er wurde mehr und mehr zum Seelsorger und zum theologischen Gewissen der am militärischen Widerstand gegen das Nazi-Regime Beteiligten. Indem Bonhoeffer für die Mitverschworenen nach der theologischen Begründung ihres Tuns fragte, wurde es ihnen möglich, mit gutem Gewissen ihre ganze Kraft in der Konspiration gegen Hitler einzusetzen.
Das folgende Beispiel lässt die konkreten Konsequenzen erkennen, die Bonhoeffer aus seinen theologischen Erkenntnissen zu ziehen bereit war. Wolf-Dieter Zimmermann, sein früherer Student und Vikar, berichtet von einem Gespräch zwischen Werner von Haeften und Dietrich Bonhoeffer, das im Sommer 1939 im Pfarrhaus von Zimmermann in Werder bei Berlin stattfand. Haeften hatte als höherer Offizier Zugang zu Hitler und fragte Bonhoeffer direkt: „Soll ich schießen? Ich kann mit der Waffe ins Führerhauptquartier kommen. Ich weiß, wann und wo die Besprechungen stattfinden. Ich kann mir Zutritt verschaffen.“
In einem mehrstündigen Gespräch versuchte Bonhoeffer, Haeften klarzumachen, dass die Beseitigung Hitlers allein nicht genügte, sondern auch das Danach sorgfältig vorbereitet werden musste. Dabei scheint er in psychologischer Hinsicht genau richtig auf Haeften eingegangen zu sein, der von Zimmermann als „etwas weicher Typ, schwärmerisch, idealistisch, aber auch mit Tradition und christlicher Überzeugung“ beschrieben wird. Bonhoeffers Hinweis, dass auch die Konsequenzen des Attentats mitzubedenken waren, traf den wunden Punkt von Haeftens Vorhaben.
Eigenes Risiko
Dieser habe sich jedoch nach Zimmermanns Bericht mit „theoretischen Überlegungen“ nicht zufrieden gegeben. Er wollte konkret wissen, ob er handeln solle beziehungsweise handeln dürfe. „Bonhoeffer antwortete, dass er ihm diese Entscheidung nicht abnehmen könne. Das Risiko habe er selbst und er allein zu tragen. Wenn er schon von Schuld spreche, eine Chance nicht ausgenutzt zu haben, so sei gewiss ebenso viel Schuld dabei, leichtfertig mit der Situation gespielt zu haben. Schuldlos komme man nie aus solch einer Situation heraus, in der er sei. Aber die Schuld sei immer getragene Schuld.“
Durch diese Überlegungen versuchte Dietrich Bonhoeffer, dem Wehrmachtsoffizier Werner von Haeften Freiraum für eine selbst verantwortete Entscheidung zu schaffen. Seelsorge im politischen Horizont bedeutete für ihn also nicht, einem anderen die Entscheidung abzunehmen beziehungsweise ihn in eine bestimmte politische Richtung zu drängen. Vielmehr half Bonhoeffer von Haeften, das ganze Szenarium, unter Einschluss der Folgen der Tat, nüchtern und sachlich ins Auge zu fassen und nicht nur eine Seite zu berücksichtigen, nämlich die Chance, das Attentat durchführen zu können. Seelsorgerlich wichtig ist an Bonhoeffers Gedanken außerdem die theologische Einsicht, dass es in ethischen Entscheidungssituationen kein schuldloses Handeln geben kann. Trotzdem ist immer ein Freiraum für die verantwortliche Tat gegeben, weil Jesus Christus bereits alle Schuld getragen hat. Erst die Hoffnung auf Vergebung macht die verantwortliche Tat möglich.
Information
Peter Zimmerling: ... und ganz gewiss an jedem neuen Tag: Dietrich Bonhoeffers Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. St. Benno Verlag, Leipzig 2025, 48 Seiten, Euro 8,95.
Peter Zimmerling
Peter Zimmerling ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig.