Aus der Sackgasse

Religionsloses Christentum – ein folgenreiches Konzept: Anmerkungen zu der späten Theologie von Dietrich Bonhoeffer
Schwerpunkt Dietrich Bonhoeffer
Foto: KI-generiert mit Hilfe von Adobe Firefly – verbum.berlin

Ein wesentlicher Teil des Erfolgs von Dietrich Bonhoeffers Spättheologie gründet sich darin, dass sie dem Protestantismus half, den machtvollen Säkularisierungsschub ab den 1960er-Jahren zu verarbeiten. Gleichzeitig konnten die enorm wachsenden Kirchensteuern in eine „Kirche für andere“ investiert werden. Doch dieser Triumphzug endete in einer Sackgasse, meint Günter Thomas, der Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum lehrt.

Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein“, so schreibt Dietrich Bonhoeffer am 30. April 1944 aus der Tegeler Gefängniszelle programmatisch an seinen Freund Eberhard Bethge. Es sind, so seine Diagnose „nur noch einige ‚letzte‘ Ritter oder ein paar intellektuell Unredliche, bei denen wir ‚religiös‘ landen können“, so nachzulesen in der Dietrich Bonhoeffer Werkausgabe. Dieser Befund lässt ihn intensiv danach suchen, wie das korrespondierende „religionslose Christentum“ aussehen könnte. Christentumskritisch fragt Bonhoeffer: „Wie aber, wenn das Christentum gar keine Religion wäre?“

Es ist diese radikale Umorientierung hin zu einem religionslosen Christentum, die Bonhoeffer mit einer Fülle weiterer Umbauten und mit einem Pathos der intellektuellen Redlichkeit denkerisch zu einem kompakten und pointiert „selbständigen“ Ensemble an Neuorientierungen formt. Dieses Ensemble gilt es, in den Blick zu nehmen.

Ohne Gott

Ein Teil des Ensembles ist die neue Aufgabe, eine „weltliche, nicht-religiöse Interpretation der christlichen Begriffe“ zu entwickeln, wie er schreibt. Für das Gottesverständnis führt dies zu paradoxen Formulierungen: „Wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen – ‚etsi deus non daretur‘. […] Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden“. Und: „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.“

Diese theologischen Umstellungen machen Bonhoeffers Plädoyer für eine lebensbejahende „tiefe Diesseitigkeit“ des Christentums verständlich. Gegenüber einem jenseitsorientierten Auferstehungsglauben insistiert er darauf: „Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig.“ Bonhoeffer betont: Im Kampf „um geschichtliche Erlösung“, das heißt „diesseits der Todesgrenze“, ist der Christ dann „mit Christus gekreuzigt und auferstanden“.

Glaube wie Kirche erfahren in Bonhoeffers Denken einen grundlegenden Umbau. Insofern „Jesus nur ‚für andere da ist“, gilt: „Das ‚Für-andere-Dasein‘ Jesu ist die Transzendenzerfahrung!“ Wenn der Glaube „das Teilnehmen an diesem Sein Jesu“ ist, ist „der jeweils gegebene erreichbare Nächste […] das Transzendente.“ So kommt Bonhoeffer zu seiner weitreichenden These: „Unser Verhältnis zu Gott ist“, so schreibt er, „kein ‚religiöses‘ […], sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ‚Dasein-für-andere‘, in der Teilhabe am Sein Jesu“.

Kritische Spitze

Auf dieser Grundlage kommt Bonhoeffer zu einem seiner bekanntesten Sätze: Für die Kirche bedeutet dies, dass „die Kirche nur Kirche [ist], wenn sie für andere da ist.“ Wohl wissend, „dass es ziemlich ungeheuerlich klingt“, aber doch mit großer innerer Konsequenz und einer offen kritischen Spitze gegen „Seelenheil“ wirft Bonhoeffer im Brief vom 5. Mai 1944 eine folgenreiche Frage auf: „Ist nicht die Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden der Mittelpunkt von allem? […] Nicht um das Jenseits, sondern um diese Welt geht es doch. Was über diese Welt ist, will im Evangelium für diese Welt da sein.“ So kommt er zu dem Schluss: „Das Jenseitige ist nicht das unendliche Ferne, sondern das Nächste.“ Transzendenz ist in der Immanenz und dort konkret in der Zuwendung zum Nächsten zu finden. Metaphysikkritik und ein praktischer A-Theismus werden in Bonhoeffers Sicht zur Tugend. Auch für die Kirche gilt der zu beherzigende Grundsatz „Mit dem Leben ohne Gott fertig werden“.

Es ist diese Spättheologie aus den Gefängnisbriefen, die Dietrich Bonhoeffer zu einem der wichtigsten theologischen Impulsgeber für den deutschen Nachkriegsprotestantismus werden ließ. Ungeachtet dessen, dass Bonhoeffer also bis zuletzt theologisch schillernd bleibt, ist es dieses Ensemble theologischer Motive, das in weiten Teilen der kirchlichen Gegenwart seine Triumphe feiert sowie ganz bewusst das öffentliche evangelische Selbstbild prägt und den „kirchlichen Mainstream“ (Ralf Frisch) der Gegenwart darstellt. All diejenigen, die nicht in diesem Mainstream mitschwimmen, gelten als „letzte Ritter“ oder eben als „intellektuell Unredliche“.

Ein wesentlicher Teil des Erfolgs von Bonhoeffers Spättheologie liegt darin begründet, dass sie dem Protestantismus half, den machtvollen kulturellen Säkularisierungsschub ab den 1960er-Jahren zu verarbeiten und gleichzeitig die mit dem Wirtschaftswachstum enorm wachsenden Kirchensteuern in Sonderstellen für eine „Kirche für andere“ zu investieren. Bonhoeffers Spättheologie gab einer organisatorischen, finanziellen und kulturellen Hinwendung zur Welt in Gestalt von Funktionspfarrämtern und gesellschaftsdiakonischen Diensten motivationale Schubkraft und theologische Legitimation.

Das Programm dieses Ensembles in seiner gelebten Wirklichkeit wurde zu einem Triumphzug, der von unseren Augen in einer Sackgasse endet. Drei Anmerkungen möchte ich machen, eine kultur- und politiktheoretische, eine religionssoziologische und eine theologische.

Kein Instrumentarium

Die Vorstellung eines religionslosen Zeitalters war von Anfang an mit mehr als einem Fragezeichen zu versehen. Mit guten Gründen hat der Philosoph und Politikwissenschaftler Eric Voegelin schon 1938 kurz vor seiner erzwungenen Flucht in die USA in seinem Werk „Die politischen Religionen“ die religiösen Elemente in vermeintlich säkularen totalitären Regierungssystemen beschrieben. Eine um ein religionsloses Christentum bemühte Kirche verfügt daher über keine angemessenen Instrumentarien, um Prozesse der Sakralisierung (Hans Joas) im politischen Raum zu diagnostizieren.

Noch viel weniger vermag sie zu erkennen, wie sie selbst die Verschiebung religiöser Motive und Anliegen in den Raum der Politik befördert. Der politische Raum der kompromissorientierten Aushandlung von Interessen wird so letztlich mit idealisierten und religiösen, als Zeugnis und Bekenntnis stilisierten Erwartungen zerstört. Wird die Grenze zwischen Kirche und Politik nivelliert, wird letztlich die Weltlichkeit der Welt unerträglich. Am Ende steht eine in hohem Ton vorgetragene Kombination aus Dauerempörung über das Elend der Welt, Selbstüberschätzung des eigenen Handelns und metaphysischer Trostlosigkeit.

Die kirchliche Realisierung von Bonhoeffers Spättheologie lebt von finanziellen, organisatorischen, rechtlichen, personellen und spirituellen Voraussetzungen. Es sind Ressourcen, die sie selbst nicht zu regenerieren vermag – und wohl auch nicht für nötig erachtet. In finanzieller Hinsicht ist vielfach ein die Grenzen zum Linkspopulismus austestender Antikapitalismus beobachtbar, der sich glücklich schätzen kann, dass es am Ende auch in finanzieller Hinsicht noch einige „letzte Ritter oder ein paar intellektuell Unredliche“ gibt.

Ökosoziale Gerechtigkeit

Wird der Lückenbüßergott der rationalen Welterklärungslücke ersetzt durch den Lückenbüßergott der öko-sozialen Gerechtigkeitslücke, so findet die Kirche Bündnispartner, aber es bleibt unbeantwortet, wo denn die Zeugen in der Zukunft herkommen. Die ‚Kinder‘ der kirchlichen Kämpferinnen und Kämpfer für ökosoziale Gerechtigkeit sind kaum noch kirchengebunden. Und warum sollten sie es auch sein? Zeigt die Kirche in ihrem öffentlichen Selbstbild, dass man „mit dem Leben ohne Gott fertig werden“ kann und soll, so wird sie selbst zu einer Agentur zur Beförderung der Gottesvergessenheit. Als solche legitimiert sie sich funktional und offeriert sie sich als gesellschaftsnotwendig – mit gelegentlicher dekorativer Pflege der alten Semantik.

Doch wer „braucht“ in einem demokratischen Sozialstaat mit einer lebendigen Kultur-und Kunstszene und zahlreichen NGOs zur Demokratieförderung eine religionslose Kirche? Was die personellen und spirituellen Voraussetzungen und Ressourcen angeht, so lautet die drängende Frage: „Warum sollte es überhaupt mehr Christen geben, und wenn es welche geben sollte, wo kommen die denn her?“ Die Gleichgültigkeit, mit der auf den Spuren Bonhoeffers der demografische Wandel hingenommen wird, ist sprechend.

Durch eine biblisch-theologische Brille betrachtet, bewegt sich Bonhoeffers Spättheologie der lebensgesättigten Diesseitigkeit, ja der diesseitigen Erlösung, diesseits der Krise der Weisheit in der Denk- und Erfahrungsgeschichte Israels. Sie ist überdies frei von jeder apokalyptischen Hoffnung. Sie meint, aus intellektueller Redlichkeit heraus nicht wahrnehmen zu müssen, dass Christen angesichts des Elends, der Gewalt und der Erschlagenen in dieser Welt aus einem wirksamen Versprechen leben, einem Versprechen, das sie niemals selbst einlösen können: Auferstehung der Toten, kommende Gerechtigkeit, neue Schöpfung. Ohne dies zu erhoffen und in der Gottesklage zu erstreiten, fördert die Kirche entweder politische Illusionen, einen alles ausschöpfen wollenden Vitalismus und am Ende doch auch eine eigentümlich selbstzufriedene Schrebergartenreligion – oder eben eine hybride Mischung aus alledem. Was der späte Bonhoeffer annonciert, ist für Paulus einfach nur Elend (1. Korinther 15,18).

Was führt aus der Sackgasse des religionslosen Christentums? 
Drei Anmerkungen:

Erstens: Desakralisierung der Politik. Aus Gottes Versprechen lebend, hat die Kirche die Kraft, zugunsten der Politik an der Säkularisierung der Politik zu arbeiten. Die Kirche schuldet, aus der Zuordnung und Unterscheidung von Gott und Welt her lebend, der Politik Desakralisierung und Religionskritik. Beginnt in der Politik heiliges Territorium da, wo der Witz endet, so ist deutlich: Hier gibt es viel zu tun. Mit diesem Versprechen auf eine Transzendenz, die ein Jenseits menschlicher Möglichkeiten birgt, werden Christen keine moralischen Flaneure. Sie werden vielmehr dazu befreit, hoffnungsvolle Realisten zu sein.

Zweitens: Mehr Nachhaltigkeit im Ressourcenmanagement. Die Kirche lebt von der Geistesgegenwart des menschensuchenden Gottes. Die notwendige Nachhaltigkeit in diesem Ressourcenmanagement ist Gottes Sache. Aber auch eine „Kirche für andere“ benötigt deutlich mehr Nachhaltigkeit in dem uns Menschen anvertrauten Ressourcenmanagement.

Kulturelle Verankerungen, soziale Vernetzungen, prägnante Frömmigkeitsstile, loyale Freundschaften von finanziellen Förderern, Verankerungen in Alltäglichkeiten, Engagement von weltenbauenden Alltagschristen, familiale Frömmigkeitspraktiken und rechtliche Rücksichtnahmen sind Ressourcen, die vor ihrer Erschöpfung wahrgenommen und permanent regeneriert zu werden verdienen.

Zum nachhaltigen Ressourcenmanagement gehört unter anderem das Beenden von prophetischen Amtsanmaßungen. Zur Einsicht, dass die politischen Einlassungen der Präses der EKD wie auch die politische Mehrheitsmeinung des Rates der EKD nicht so einfach die Mehrheitsmeinung von rund 20 Millionen mündigen Protestanten und Protestantinnen repräsentieren, bedarf es weder einer Glaskugel noch einer ausgefeilten Mitgliederbefragung. Ein kluges Ressourcenmanagement wird die theologische und politische innere Vielfalt der Volkskirche mehr als Chance für die sich spaltende Gesellschaft denn als haltungslose Verwässerung des prophetischen Zeugnisses begreifen.

Drittens: Entdeckungsorte pflegen. Dass Demonstrationen als rituelle Orte der gemeinschaftlichen Selbsttranszendenz religionspotent sind, ist religionssoziologisch kaum zu bestreiten (Andreas Pettenkofer). Notwendiger scheint es mir zu sein, gegenläufig zu dem starken Sendungsbewusstsein in Bonhoeffers Ensemble die Orte und Zeiten mutig zu bewahren, experimentoffen zu entwickeln und umsichtig zu pflegen, an denen inmitten von Gottesvergessenheit Menschen so von Gott überrascht werden, dass sie zu Beterinnen und Betern des Vaterunsers werden, Vertrauen in ein großes Versprechen fassen, also religiöse Ankererfahrungen machen. Doch auch dazu darf die Kirche in der Öffentlichkeit tatsächlich das Wort „Gott“ in den Mund nehmen. Sie darf öffentlich „Konfliktgespräche mit Gott“ (Bernd Janowski) führen.

Die Kirche muss den Menschen sagen, dass sie eine Adresse kennt, auf die hin die untragbare Schwere der Welt zur Sprache gebracht werden kann. Sie darf öffentlich sagen, dass niemand „mit dem Leben ohne Gott fertig werden“ muss – gleichgültig, was der Religionsgeigerzähler anzeigt. Und im Übrigen wird die Zukunft zeigen, wer wirklich die „letzten Ritter“ sind. 

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