Immer wieder Bonhoeffer

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer gilt vielen als Glaubensvorbild, moralische Autorität und großer Impulsgeber für die Theologie. In diesen drei Rollen ist der Widerstandskämpfer gegen die NS-Diktatur auch heute noch präsent. Die Historikerin Claudia Lepp, Leiterin der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte in München, zeichnet wesentliche Züge seines Lebens, seines Werks und seiner Wirkungsgeschichte nach.
Dietrich Bonhoeffer ist nicht nur eine Figur der Vergangenheit, an die anlässlich des 80. Todestages im kirchlichen Raum erinnert wird. Sein Leben und Werk sind auch abseits des ritualisierten Gedenkens präsent. Dies zeigt sich deutlich in seiner Instrumentalisierung durch die US-amerikanische (religiöse) Rechte und durch die AfD für ihren Kampf gegen den liberalen Staat. Offenkundig wird dies auch, wenn der Theologe in deutschen Debatten über Waffenlieferungen an die Ukraine von deren Befürwortern und Gegnern zitiert wird. Und es wird erkennbar im Rückgriff auf seine Gedanken in der aktuellen Krisenstimmung in der Bundesrepublik. Hier sind es seine Ausführungen zum Optimismus, die zum Beispiel die Schriftstellerin Thea Dorn als einen Bezugstext für ihr Plädoyer für mehr Zuversicht nutzt.
Weiter bedeutsam
Wer aber war Dietrich Bonhoeffer, was macht sein Denken und Handeln auch für die heutige Zeit bedeutsam? Bonhoeffer war, so zeigt sein Lebensweg, kein Vertreter des Mehrheitsprotestantismus seiner Zeit. Am 4. Februar 1906 geboren, wuchs er in einer liberalen, großbürgerlichen Familie in Breslau und Berlin auf. Nach dem Abitur 1923 begann er in Tübingen sein Studium der Evangelischen Theologie. Eine Romreise im Frühjahr 1924 weckte sein Interesse für das Wesen der Kirche. Im selben Jahr wechselte der junge Student nach Berlin. Beeindruckt zeigte er sich dort von dem liberalen Kirchenhistoriker Adolf von Harnack; beim Lutherforscher Karl Holl besuchte er mehrere Seminare. Früh schon interessierte er sich auch für die Dialektische Theologie von Karl Barth, mit dem er später persönlich im Austausch stand. 1927 wurde Bonhoeffer bei Reinhold Seeberg promoviert; 1928 legte er das Erste und, nach einem Auslandsvikariat in Barcelona 1930, das Zweite Theologische Examen ab. Im selben Jahr habilitierte er sich mit nur 24 Jahren.
Bei einem Studienaufenthalt am liberalen Union Theological Seminary in New York lernte Bonhoeffer die Social-Gospel-Bewegung sowie den christlichen Pazifismus kennen. Begeistert zeigte er sich von der Spiritualität der Abyssinian Baptist Church
in Harlem. Nun folgte die „Wendung des Theologen zum Christen“, wie es sein enger Freund Eberhard Bethge ausdrückte. Zurück in Berlin, engagierte sich Bonhoeffer in der ökumenischen Jugendarbeit, nahm eine Privatdozentur für Systematische Theologie wahr, wirkte nach der Ordination als Studentenpfarrer sowie als Hilfsprediger in einem sozialen Problembezirk.
Schon früh stand Dietrich Bonhoeffer – wie auch seine Familie – dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber. Auf den staatlichen „Arierparagraphen“ vom 7. April 1933 reagierte er mit dem Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“. Darin nannte er drei gestaffelte Möglichkeiten kirchlichen Handelns: 1. Die Kirche müsse den Staat nach der Legitimität seines Handelns befragen; 2. Die Kirche müsse sich zum Dienst an allen Opfern des Staatshandelns verpflichtet wissen; 3. Die Kirche müsse – wenn der Staat in seiner Recht und Ordnung schaffenden Funktion versage – „nicht nur die Opfer unter dem Rad […] verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen […] fallen“, das heißt, im Ausnahmefall und nach der Entscheidung eines evangelischen Konzils unmittelbar politisch handeln.
Engagierter Kampf
Vor den Kirchenwahlen 1933 kämpfte Bonhoeffer engagiert mit der „Jungreformatorischen Bewegung“ gegen die nationalsozialistischen „Deutschen Christen“. Gemeinsam mit Martin Niemöller gründete er im September 1933 in Reaktion auf die Einführung des Arierparagraphen durch die altpreußische Generalsynode den „Pfarrernotbund“. Denn für Bonhoeffer war der Bekenntnisfall (status confessionis) eingetreten. Seine Enttäuschung über das zögerliche Verhalten vieler Pfarrer und der Kirchenleitung in der „Judenfrage“ und gegenüber den „Deutschen Christen“ führte ihn im Oktober 1933 als Auslandspfarrer nach London. Dort trennten sich später fast alle deutschen evangelischen Gemeinden von der Reichskirche und schlossen sich der Bekennenden Kirche an.
Bonhoeffer bemühte sich darum, mit Unterstützung von Bischof George Bell von Chichester auch die ökumenische Bewegung dafür zu gewinnen, die Bekennende Kirche als die legitime evangelische Kirche in Deutschland anzuerkennen. Im August 1934 nahm er an einer ökumenischen Tagung auf der dänischen Nordseeinsel Fanø teil. Dort erklärte er in seinem Vortrag „Kirche und Völkerwelt“, dass es keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit gebe; Friede müsse vielmehr gewagt werden. Das ökumenische Konzil solle zum Frieden aufrufen und die christliche Kirche „ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand“ nehmen.
Entschiedene Christusnachfolge
Im April 1935 kehrte Bonhoeffer nach Deutschland zurück und übernahm die Leitung des neugegründeten Berlin-Brandenburgischen Predigerseminars in Pommern, in dem die Bekennende Kirche Vikare auf den Pfarrdienst vorbereitete. Aus seinen Vorlesungen entstand die 1937 publizierte Schrift „Nachfolge“, in der er zu entschiedener Christusnachfolge in Glaube und Gehorsam aufforderte. Auf die konkrete historische Situation bezogen, hatte Bonhoeffer bereits 1936 in seinem Aufsatz „Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft“ formuliert, wer sich wissentlich von der Bekennenden Kirche trenne, trenne sich vom Heil. 1939 erschien seine Schrift „Gemeinsames Leben“, in der er die in Finkenwalde gelebte Spiritualität erläuterte, deren Mitte die Schriftmeditation bildete. Nach der Schließung des Seminars durch die Gestapo 1937 wurden die Kurse noch bis März 1940 heimlich in hinterpommerschen Landgemeinden fortgeführt.
Politische Konspiration
Von 1936 an wurde Bonhoeffer zunehmend Opfer staatlicher Repressionen: Er verlor seine Lehrerlaubnis an der Universität und erhielt 1938 ein Aufenthaltsverbot für Berlin. Um seine Einberufung zur Wehrmacht, der er sich verweigert hätte, zu verhindern, reiste er im Juni 1939 nach New York, um eine Dozententätigkeit wahrzunehmen. Doch schon kurze Zeit später kehrte der Theologe nach Deutschland zurück und vollzog eine zweite Lebenswende: nun vom „Christen zum Zeitgenossen“ (Bethge), der Verantwortung für die Welt übernahm.
Bonhoeffer wagte den Schritt zur politischen Konspiration. Über familiäre Kontakte zum Widerstand kam er im Oktober 1940 zur militärischen Abwehr und informierte fortan unter dem Deckmantel kriegsnotwendiger Spionage seine ökumenischen Kontakte in der Schweiz, Norwegen und Schweden über den deutschen Widerstand und seine Umsturzpläne. Auch bereitete er eine Kanzelabkündigung für den Fall des Umsturzes vor. Daneben arbeitete er trotz Schreibverbots an seiner „Ethik“ weiter. Seine dortigen Ausführungen zur „Struktur des verantwortlichen Lebens“ enthalten die Aussage, dass verantwortliches Leben im Glauben an die Vergebung Gottes auch die „Bereitschaft zur Schuldübernahme“ einschließen müsse.
Im Januar 1943 verlobte sich Bonhoeffer mit der jungen Maria von Wedemeyer. Schon wenige Wochen danach, am 5. April, wurde er unter dem Vorwurf der Wehrkraftzersetzung verhaftet. Während seiner Zeit im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Tegel konnte er seine theologische Arbeit fortsetzen. Hier entwickelte er seine Gedanken zu einem „religionslosen Christentum“, zur „mündig gewordenen Welt“ und zur Kirche, die „für andere da ist“. Erst nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 konnte die Gestapo Bonhoeffer eine Widerstandstätigkeit nachweisen. Kurz vor Kriegsende wurde er am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet.
Die kirchliche Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer als christlichen Märtyrer setzte schon kurz nach Kriegsende ein. Ihre frühen Protagonisten waren vor allem Bell und Bethge. Letzterer publizierte bereits 1946 Gedichte Bonhoeffers aus seiner Haftzeit; 1949 brachte er Fragmente der „Ethik“ heraus; 1951 veröffentlichte er Briefe und Aufzeichnungen Bonhoeffers aus der Haftzeit. In den 1950er-Jahren entstanden mit der Domkrypta in Brandenburg an der Havel und der Gedenktafel in der Dorfkirche in Flossenbürg zwei Gedenkorte, die Bonhoeffer als einen „Blutzeugen“ der Bekennenden Kirche würdigten. Denn bis Anfang der 1960er-Jahre war die evangelische Widerstandserinnerung stark von der Idee des Martyriums für Christus geprägt, wie der Kirchenhistoriker Tim Lorentzen gezeigt hat.
Internationale Rezeption
Danach wurden Bonhoeffer und seine Theologie verstärkt für die Auseinandersetzung mit ethischen Gegenwartsfragen herangezogen; in Deutschland insbesondere für die Friedensthematik. Diese Tendenz zeigte sich auch international: Die Rezeption Bonhoeffers reichte nun bis nach Südkorea und in den dortigen Kampf von Christen gegen die Militärdiktatur sowie in die südafrikanische Anti-Apartheid-Bewegung hinein. Zugleich avancierte Bonhoeffer in der Bundesrepublik zu einer zentralen Gestalt im staatlichen Gedenken an den Widerstand vom 20. Juli. Bei einer Veranstaltung in Flossenbürg zu seinem 40. Todestag prallten dann militärisches und pazifistisches Bonhoeffer-Gedenken aufeinander.
In der DDR war die Bandbreite der Bonhoeffer-Rezeption besonders groß: Sie reichte von seiner staatlichen Ehrung als „antifaschistischer Widerstandskämpfer“ über die Bezugnahme auf seine Theologie in disparaten Deutungen des Kircheseins in der „realsozialistischen“ Gesellschaft bis hin zur Ermutigung der Opposition im Kontext des Konziliaren Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Die Jahre nach 1990 lassen sich als Phase der „Sanktifizierung“ (Lorentzen) Bonhoeffers bezeichnen. Dies gilt für den deutschsprachigen wie für den englischsprachigen Raum. Bonhoeffer wurde zum individuellen Glaubensvorbild. Auch wurde er trivialisiert und verkitscht, Zitate wurden aus dem Zusammenhang gerissen und als erbauliche Sprüche verwendet; auf seinen „Spuren“ wurden Reisen unternommen. Gleichwohl wurde seine moralische Autorität auch weiterhin in politischen Debatten genutzt, etwa bei der Forderung nach Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen.
Die erste Forschung zum theologischem Werk Bonhoeffers, das zum Teil nur in Fragmenten vorliegt, wurde von seinen Zeitgenossen betrieben. Hauptpromotor war auch hier Eberhard Bethge. Während der 1950er-Jahre beschäftigte sich die Wissenschaft vor allem mit Bonhoeffers später Theologie. Auch im angelsächsischen Raum fand früh eine Rezeption seiner Texte statt; in den 1960er-Jahren nahm hier dann die „Gott-ist-tot“-Theologie auf ihn Bezug. Ebenso griffen die nordamerikanische Black Theology und die lateinamerikanische Befreiungstheologie auf ihn zurück. Und auch katholische Autoren beschäftigten sich intensiv mit ihm.
Konservative Elemente
Seit den 1980er-Jahren kamen kritische Stimmen zu den konservativen Elementen in Bonhoeffers Denken auf. Als Themen der aktuellen Forschung gelten, so der Systematiker Ralf K. Wüstenberg, die Fragen nach Zäsuren und Kontinuität in Bonhoeffers Werk, nach der Konsistenz seiner Theologie, nach seiner politischen Theologie sowie nach der Säkularisationsthematik. Seit der Jahrtausendwende, darauf verweist Christiane Tietz, ist nun international eine dritte Wissenschaftsgeneration am Werke. Ihr ist es mit historischer Distanz möglich, Bonhoeffer selbst, etwa sein Politikverständnis oder sein Geschlechterverständnis, aber auch die mitunter eklektische Bonhoeffer-Rezeption in Gesellschaft, Kirche und Theologie kritisch zu beleuchten.
Bonhoeffer, das Glaubensvorbild – Bonhoeffer, die moralische Autorität –, Bonhoeffer, der „große Impulsgeber“ (Wüstenberg) für die Theologie: In diesen drei Rollen ist Bonhoeffer auch heute noch präsent. Auffällig dabei ist, dass von sehr diversen theologischen und politischen Richtungen her auf ihn Bezug genommen wird. Dass dabei die Lesarten nicht willkürlich werden und Vereinnahmungen nicht unwidersprochen bleiben, ist eine ständige Herausforderung auch für Theologie und Geschichtswissenschaft. Sie müssen immer wieder die Komplexität seiner Theologie und den spezifischen historischen Kontext seines Handelns deutlich machen.
Claudia Lepp
Dr. Claudia Lepp ist Professorin an der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte an der Universität München.