Anschaulich

Chronist der Gegenwart

Auf einem Narrenschiff sind die Narren die Passagiere und die Mannschaft. Christoph Hein bemüht dieses in der literarischen Tradition seit dem ausgehenden Mittelalter bewährte Sinnbild, um die Geschichte der DDR als das konfliktreiche Miteinander von Regierten und Regierenden zu erzählen. Der inzwischen als Chronist gewürdigte Autor projiziert die Metapher des Narrenschiffs auf die poltische und gesellschaftliche Realität des „ersten sozialitischen Staates auf deutschem Boden“ und konzentriert dabei Handlungen, Stimmungsbilder und Reflexionen auf das Leben von fünf miteinander befreundeten Protagonistinnen und Protagonisten, zwei Ehepaaren und einem Single.

Alle fünf Personen gehören zur geistigen Elite, die Männer haben hochrangige Positionen inne. Der eine ist ein weltweit anerkannter Ökonom, aber als Mitglied im Zentralkomitee fast kaltgestellt. Der andere ist eine nur durch seine fachliche Qualifikation einigermaßen abgesicherte Führungskraft in der Metallgewinnung. Er lebt stets im Stress zwischen seinem Ehrgeiz und dem ihm verwehrten weiteren Aufstieg. Der dritte Mann ist ein seine Homosexualität nur sehr begrenzt auslebender angesehener Germanist und Anglist. Er kann sich zwar als Publizist durch seine kritische brillante Feder gesellschaftliche Anerkennung verschaffen, muss aber immer mit dem Argwohn der Nomenklatur rechnen.

Hein erzählt die Geschichte der DDR jeweils an den Schnittstellen von Politik und Privatheit. Er schildert dabei die folgenschwere Umstellung der Schwerindustrie auf die Produktion von Konsumgütern und zeigt, wie sich hinter dieser volkswirtschaftlich fragwürdigen planerischen Maßnahme die Angst der Regierenden vor dem Unmut der Bevölkerung verbirgt.

Die Geschichte zwischen Regierenden und Regierten ist grundsätzlich von anfänglichen Hoffnungen, dann aber bald von gegenseitigem Misstrauen und Einschüchterung geprägt. Die Aufstände um den 17. Juni 1953, die immense Republikflucht gerade der Leistungsträger, der Mauerbau und die zunehmende soziologisch als Nischenkultur zu beschreibende innere Emigration erscheinen bei Hein nicht lediglich als Streiflichter, sondern als Einschnitte zwischen dem politischen und privaten Leben der beiden Ehepaare und deren Freund. Dem Mitglied des Zentralkomitees, das die Stalinschen „Säuberungen“ ab der Mitte der 1930er-Jahre in Moskau noch hautnah erleben musste, drängt sich in der DDR zunehmend die Einsicht auf, dass Treue zu ethischen Überzeugungen keineswegs Linientreue sein kann, wie sie die Partei erzwingen will. Als engagierter Wissenschaftler kommt er sich vor wie auf einem Narrenschiff.

Der Roman blendet bei aller Privatheit aber keineswegs die politischen Rahmenbedingungen, die Großwetterlage für das Narrenschiff im gespaltenen Land und in der geteilten Welt aus. Die Narren bewegen sich in aufgewühlten Gewässern auf einem Kriegsschiff im Kalten Krieg, der erbittert als Glaubenskrieg zwischen den Systemen geführt wird. Der Metallurge versucht stets, den Direktiven der Partei zu folgen, also nach dem Grundsatz, dass die Partei immer recht hat, zu wirken und zu leben. Bis zu seinem Tod bemerkt er nicht, dass er in Wahrheit einer Schlängellinie gefolgt ist. Die Frauen bewegen sich hingegen mehr und mehr in den Freiräumen, die ihnen die unaufhaltsame Liberalisierung eröffnet. Im Leben und Erleben der Kinder und deren Schritten in eine nach der Wende ungesicherte Zukunft werden die Auflösung des Systems und das unvermeidliche Ende anschaulich. Hein führt seinen Roman auf dieses Ende hin, indem er in Skizzen, die gerade als Fragmente bedrängen, vom Sterben der befreundeten drei Männer erzählt. Als Chronist und kritischer Kommentator seiner Gegenwart will er im Übrigen keineswegs auf dem Narrenschiff der Literatur zurückbleiben, sondern mit seinen Leserinnen und Lesern nach Land Ausschau halten.

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