In jüngerer Zeit veröffentlicht er mit erhöhter Frequenz. Ob Jürgen Theobaldy aber auch im erhöhten Maß Erzählungen und Gedichte schreibt, ist nicht klar. Auf die Novelle Mein Schützling (2023) folgte im Frühjahr 2024, aus Anlass seines 80. Geburtstages, die Lyrik-Anthologie Nun wird es hell und du gehst raus; jetzt ist ein neuer Band mit Erzählungen unter dem Titel Bis es passt erschienen. Und erneut wirken Texte des Autors, der seit langem in der Schweiz lebt, stellenweise so, als ob sie nicht vor Kurzem geschrieben worden seien. Sie wirken überzeitlich fast, verankert noch in der Gegenwart, aber auch schon darüber hinaus.
Die Gegenwartsliteratur prägt und bereichert Theobaldy seit einem halben Jahrhundert, vom Rand her freilich, denn zu den allerersten deutschen Autoren wurde er nie gerechnet. Und wahrscheinlich wäre ihm eine Position im Rampenlicht unangenehm. Festlegen lässt er sich nicht gerne – und nicht leicht. So schreibt er fort, wortgewandt und stilistisch erlesen, mal ironisch gebrochen, dann ganz ernst. Längst hat er den Sozialrealismus seines frühen Romans Sonntags Kino hinter sich gelassen, aber zeitgeschichtlich verankert blieb sein Schreiben doch, egal ob er nun von Paarbeziehungen oder Einzelgängern erzählt.
Der Band führt ebenso die stilistische und thematische Bandbreite Theobaldys wie sein feines Sprachempfinden und die Lust am Sprachspiel vor Augen. Ganz wirklichkeitsnah erinnert sich da ein melancholisch gestimmter Ich-Erzähler an eine Jugendliebe oder wird von einem Paar erzählt, das erfahren genug ist, um zu wissen: „Es sollte nicht zu lange still bleiben zwischen ihnen.“ Sie stellen auch grundsätzliche Fragen wie diese: „Weiß man, wovon man spricht, wenn man das Wort Natur ausspricht?“ Um Natur und Prinzipielles kümmerte sich auch Albert Einstein. Die Erzählung Einstein getroffen ist eine Hommage an die Zeit, als er beim Schweizer Patentamt in Bern arbeitete und Grundlagen seiner Relativitätstheorie entwickelte. Der Erzählfluss ist schnell, entsprechend der Gangart der Figuren und der Geschwindigkeit, mit der sie Gedanken austauschen.
Ein Kind ihrer Zeit ist die Hauptfigur der surreal angehauchten Erzählung Ein Glücksfall. Heller heißt sie und betreibt eine Agentur für Werbegrafik. Als Heller einen extravaganten Pullover kauft, kommt Bewegung in sein Dasein. Die Erzählung streift fortan alle Lebensstationen der Hauptfigur, wobei der seltsam die Farbe ändernde Pullover Hellers Selbstbilder repräsentiert – und ihn mit der Frage konfrontiert, ob er wirklich das Leben führt, das ihm gemäß ist.
Überhaupt das Leben: Verständlich wird es vielfach erst vom Ende her, wie Heller registriert. Und dieses Ende bildet erst recht in der fantastisch anmutenden Erzählung Aus der Mitte von Irgendwo ein Zentrum. In einer „Kaschemme" berichtet dem Erzähler ein Gast von einem seltsamen Friedhof, wo Verstorbene noch aus der Erde ragen und sich aus ihren Reden ein Begriff vom Jenseits ergeben soll. Wie wirklichkeitsnah ist das noch? Es ist eher eine Kopfgeburt – so wie das, was der Text Wie es mich durchströmt entfaltet. Man liest den inneren Monolog eines Sonderlings, der sich politisch radikalisiert hat oder psychotisch wurde.
Dass solches in der Schwebe bleibt, macht den Reiz des an Kafka, Beckett oder Bernhard erinnernden Erzählstücks aus. Oft geht es bei Theobaldy um die Kunst – darum, was sie ist und unverwechselbar macht, wo doch alles naturwissenschaftlich erklärbar scheint. Nicht nur die Zeit verrinnt und vergeht doch nicht. Dasselbe gilt für die Literatur. Die Dauer der Lektüre ist messbar, ihr Wert und ihre Bedeutung aber kaum. Wie alle echte Kunst widersetzt sich dieses Buch der Vergänglichkeit und zeigt: Etwas bleibt ja doch.
Thomas Groß
Thomas Groß ist Kulturredakteur des Mannheimer Morgen.