Es gibt eine Grundregel im Journalismus, und die heißt: Vorsicht mit Superlativen! Im vorliegenden Fall aber ist es gestattet, ja vielleicht sogar geboten, diese Regel zu durchbrechen. Denn das, was der 1958 geborene Heinz (so das Pseudonym, das die Buchautorin Christiane Florin ihm gegeben hat) in seinen Jahren im Kinderheim erlebt hat, gehört sicher zum Schlimmsten, was Erwachsene Kindern antun können. Es ist so schrecklich, dass sich die Finger sträuben, die geschilderten Gewalttaten in die Computertastatur zu tippen. Darum nur so viel: Der Alltag von Heinz in einer katholischen Einrichtung im Ruhrgebiet in den 1960er-Jahren – das waren regelmäßige Vergewaltigungen, Schläge mit schwersten Verletzungsfolgen, entwürdigende Bestrafungen, Medikamentenversuche. „Ich habe neues Fleisch für dich, er hat keine Eltern, und wir brauchen nicht aufzupassen.“ Dieser eine Satz von Schwester Ilse, zitiert auf der ersten Seite des Buches, lässt Fürchterliches ahnen …
Und dieses Fürchterliche ist bis heute nicht abgeschlossen. Heinz leidet schwer nicht nur an den seelischen Folgen der Misshandlungen („Ja, man kann sagen, dass ich ein gebrochener Mensch bin“), er leidet darunter, wie mühsam es war, finanzielle Entschädigung für sein Leiden zu erkämpfen. Dieser Kampf hat Heinz zum zweiten Mal der Institution Kirche ausgeliefert, ihn zum zweiten Mal zum Opfer gemacht.
Mit dem Argument, erlittenes Unrecht lasse sich nicht mit Geld rückgängig machen, so beklagt Christiane Florin zu Recht, rechneten Hierarchen „Schmerzensgeld zu Almosen klein“ und behielten ihre Machtposition der Zuteilung. Aber Geld, so die Autorin, sei eben wichtig, denn es vermittele den Opfern „messbar Selbstbestimmung“ und es helfe gegen das Ohnmachtsgefühl.
Heinz hat einen Teil seiner Geschichte selbst aufgeschrieben. Christiane Florin, Ressortleiterin Kultur beim Deutschlandfunk und lange Zeit Religionsredakteurin ebenfalls beim Deutschlandfunk, hat weiter recherchiert: Wie stellen sich katholische Kirche und Caritas zu den Verbrechen? Wie das Jugendamt? Will man es kurz zusammenfassen, lässt sich das dazu sagen: Die Aktenlage ist mangelhaft, und die Bereitschaft zu einer ehrlichen und umfassenden Aufarbeitung ebenso.
Im Blick auf seine Familie (der Vater von Heinz hat sich am Neujahrstag 1965 das Leben genommen und anderthalb Jahre später starb seine Mutter) und das Ausmaß der erfahrenen Gewalt ist die Lebensgeschichte von Heinz eine ganz besonders tragische. Aber ein Einzelfall ist sie nicht. Sie ist ein Keinzelfall, wie das Buch von Christiane Florin betitelt ist. Die Heimerfahrung selbst und der spätere Kampf um Anerkennung verbindet viele Opfer. Beide Kirchen und ihre Sozialwerke tun sich weiterhin schwer damit, sich der Vergehen, die unter ihrem Dach und in ihrem Namen verübt wurden, zu stellen. Aufarbeitung, Entschuldigung und Entschädigung verlaufen trotz eingeleiteter Maßnahmen schleppend, nicht nur im Fall von Heinz, der in einer katholischen Einrichtung gelitten hat. Da ist sicherlich auch im evangelischen Bereich noch reichlich Nachholbedarf.
Ganz besonders schwierig ist Florin zufolge dabei die Situation ehemaliger Heimkinder. Sie, die Zuwendung und Liebe gebraucht hätten, mussten auch in kirchlichen Häusern schon früh die Erfahrung machen, in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten zu stehen. Und diese Erfahrung setze sich fort, wenn sie als Erwachsene um Anerkennung ihres Leids ringen.
Christiane Florins Buch über das Leben des Heimkindes Heinz ist ein erneuter Weckruf an alle Institutionen, unter deren Dach Gewalt und Missbrauch geschehen (sind), den Opfern zuzuhören, erlittenes Unrecht anzuerkennen und Schadenersatz zu leisten. Ganz besonders aber ist er ein Weckruf an die Kirchen und ihre Sozialwerke, sich ihrer christlichen Verpflichtung nicht zu entziehen.
Annemarie Heibrock
Annemarie Heibrock ist Journalistin. Sie lebt in Bielefeld.