Die vorliegende Aufsatzsammlung trägt einen Titel, der weiter kaum gespannt sein könnte. Ihr Autor, Neutestamentler in Tübingen, nimmt darin die Schrift (beider Testamente) als die maßgebliche Bezugsgröße kirchlicher Wirklichkeit in den Blick – vor einem ökumenischen Horizont und angesichts der globalen Herausforderungen unserer Zeit. Kardinal Walter Kasper hat dafür ein Geleitwort geschrieben, in dem er Gemeinsamkeiten würdigt: Tradition „ist ursprungsorientiert und entdeckt eben dadurch immer wieder überraschende Zukunftspotentiale“.
Der Band versammelt elf Beiträge aus der Zeit zwischen 2018 und 2023. Ihr Markenzeichen sind gediegene Exegesen, klar strukturiert und lebensnah vermittelt. Die Entstehungskontexte verdanken sich der Arbeit kirchlicher Gremien sowie Fragestellungen biblischer Theologie im Raum kirchlich-kultureller Diskurse. Gewichtige Themen wie Schriftverständnis, Bund oder Amt tragen den Ton.
Der Band gliedert sich in drei Teile. Am Anfang steht, gleichsam grundlegend, das Thema Schrift. Hier geht es vor allem um das Beziehungsgefüge von Begriffen wie Bibel, Heilige Schrift oder Wort Gottes sowie um die damit verbundenen Zuschreibungen und Funktionen. Ein kleiner Beitrag reflektiert im Kontext der Ausstellung „Die Bibel in Bildern” die Relation von Sehen und Glauben in ihrem biblisch-theologischen Spannungsverhältnis. Das größte Gewicht kommt schließlich dem Dual „Alter und neuer Bund” zu, der im Zusammenhang des christlich-jüdischen Gesprächs vor besondere Herausforderungen stellt. Eine sorgfältige Aufarbeitung aller Aussagen zwischen Corpus Paulinum und Hebräerbrief bestätigt die Vermutung: Kontinuität und Diskontinuität neutestamentlicher Bundestheologien lassen sich nicht in einem stringenten System auflösen, sondern halten die gemeinsame Geschichte von Juden und Christen offen.
Den größten Umfang beansprucht der zweite Teil zum Thema „Kirche und Ökumene”. Hier werden die Begriffe „Heiden, Völker und Nationen” evaluiert sowie die klassischen Einheitsaussagen in Epheser 2 und 4 (die sieben Kennzeichen für die Einheit der Kirche) oder in Johannes 17,21 (dass alle eins seien) als Verpflichtung und Hoffnung gleichermaßen profiliert. Die kontroverstheologisch belastete Frage nach Amt und Ämtern setzt neutestamentlich bei der Diakonia an, die das entscheidende Leitbild für die Übernahme von dauerhafter, geordneter Verantwortung in der Kirche vorgibt. Zwei Beiträge zur Predigt im Neuen Testament und zu Luthers Kirchenverständnis schließen diesen Teil ab.
Gesellschaftspolitische Relevanz haben die beiden Beiträge des letzten Teils. Auf die Klimakrise zielt eine profunde Auseinandersetzung mit dem Hymnus in Kolosser 1,15–20 (einem „der stärksten Schöpfungstexte der Bibel”). Hier erhält Schöpfungstheologie ein christologisches Format, das zugleich Fragen aufwirft: Wie hängen Schöpfung und Erlösung zusammen, und wie lässt sich menschliche Verantwortung bestimmen, wenn Gott zugleich Schöpfer und Vollender ist? Die Antwort setzt bei der paränetischen Einbettung des Hymnus im Kolosserbrief an: „Der Glaube an die Schöpfung und Bewahrung, Erlösung und Vollendung durch Gott in Christus rechtfertigt nicht Trott und Tatenlosigkeit, sondern führt zu einem aktiven Abtöten und Ablegen alter Gewohnheiten, zum Anziehen des neuen Menschen, zum Anpacken neuer Aktivitäten, zur Erneuerung des Lebensstils, zu einer veränderten Lebenspraxis aus dem Bewusstsein der Dankbarkeit.”
Acht „Thesen zur Krise im Reden von Gottes Handeln in der Neuzeit” schließen den Band ab, dessen detaillierte exegetische Argumentationen durch ein Verzeichnis von Bibelstellen und Sachbegriffen noch einmal hilfreich erschlossen werden.
Wissenschaftliche Exegese und kirchliche Arbeit sitzen in einem Boot, ziehen am selben Strang, befruchten sich gegenseitig – oder wie auch immer man ihre ansonsten eher als kriselnd wahrgenommene Beziehung beschreiben will. Das macht der vorliegende Band auf mustergültige Weise sichtbar und regt dazu an, den biblischen Text nicht nur als nachträgliche Bestätigung eingespielter Traditionen, sondern als Inspirationsquelle und Impulsgeber wahrzunehmen.
Christfried Böttrich
Dr. Christfried Böttrich ist Professor am Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Greifswald.