Herrschaftsmisstrauen sei im Zuge und Nachgang der Covid-19-Pandemie zunehmend „suspekt“ geworden. Seit den Anti-Corona-Protesten der 2020er-Jahre würden nahezu alle Formen von Kritik an oder gar Widerstand gegen bestehende Ordnungen und Obrigkeiten unter dem Generalverdacht stehen, querdenkerisch oder gar verschwörerisch zu sein, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden und allzu schnell in Gewalt abzudriften. So die Diagnose, die Florian Mühlfried in seinem Werk Unherrschaft und Gegenherrschaft formuliert. Er weist darauf hin, dass dies dazu führe, dass der Wert solch kritischer Haltungen und Handlungen sowohl politisch als auch wissenschaftlich zunehmend übersehen werde.
Die mangelnde Wertschätzung und Auseinandersetzung stehen jedoch in einem diametralen Kontrast zur Konjunktur, die kritisch-widerständige Aktionen gegenwärtig erleben. Man denke nur an die Vielzahl an Protesten gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus, Pro-Palästina-Demonstrationen sowie Demonstrationen nach den Wahlerfolgen der AfD, Demonstrationen zum Krieg in der Ukraine sowie die Klima- und Bauernproteste, die im Jahr 2024 stattfanden. Wenn diese Protestkonjunktur eines nahelegt, dann, dass es aktuell nicht weniger, sondern mehr Nachdenken über Widerstand und Kritik benötigt. Schon allein deshalb, um nicht pauschalen Verurteilungen und vereinfachenden Gleichsetzungen – etwa von Klimaprotestierenden als „Terroristen“ – auf den Leim zu gehen, sondern eine Differenzierungs- und Sprachfähigkeit zu bewahren, die es erlaubt, unterschiedliche Phänomene in ihrer Komplexität wahrzunehmen und angemessen zu beurteilen.
Einen wichtigen Schritt in diese Richtung unternehmen Stefan Silber, Sung Kim, Christian Tauchner und Simon Wiesgickl mit ihrem Sammelband Gewalt und Widerstand. In diesem vereinen die Herausgeber 14 Beiträge, die alle um die Titelphänomene kreisen und diese aus verschiedenen disziplinären, aber durchweg befreiungstheologisch orientierten Perspektiven beleuchten. Dabei werden sowohl klassischere Themen diskutiert, etwa Dietrich Bonhoeffers Position zu Gewaltlosigkeit und Tyrannentötung oder das Recht auf Selbstverteidigung im Anschluss an Malcolm X. Hinzu kommen neuere Ansätze, etwa ökofeministische Perspektiven auf Widerstand gegen multidimensionale Gewaltstrukturen, performancetheoretische Deutungen pentekostaler Kirchen als Widerstandsbewegungen oder Überlegungen zu den produktiven Wechselwirkungen zwischen Hip-Hop und theologischen Widerstandsnarrativen.
Zu den anregendsten Denkanstößen des Bandes zählten insbesondere die Beiträge von Chiara Fröhlich, Simon Wiesgickl und Nils Richber. Vor einem missionsgeschichtlichen Hintergrund und angesichts internationaler und machtpolitischer Verstrickungen entwickelt Fröhlich in ihrem Beitrag eine „Befreiungstheologie für den Kulturraum China“, die sie unter das Motto des „Gesichtsgebens“ stellt. Wiesgickl greift das Motiv des Wassers als Widerstandssymbol auf und erkundet, untermalt von popkulturellen und literarischen Streifzügen, fluide Protestformen. Richber setzt sich kritisch mit Formen von „Pseudo-Aktivität“ und „Verdrängungswiderstand“ auseinander, die auf den ersten Blick zwar widerständig erscheinen mögen, sich letztlich aber darin ergehen, bestehende Strukturen des endlosen Endes – versinnbildlicht im Gegenwartsphänomen des so genannten doomscrolling – weiterzuführen; und setzt diesen die Skizze einer apokalyptischen politischen Theologie entgegen.
Aus der Lektüre der vielfältigen Beiträge bleiben vor allem zwei zentrale Erkenntnisse hängen. Erstens eine erhöhte Sensibilität für die Vielfältigkeit und -schichtigkeit von Widerstandsformen und das Bewusstsein, dass jeder dieser Formen in ihrer spezifischen Eigenartigkeit begegnet werden muss. Zweitens eine neue Wertschätzung für solch kritisch-widerständige Ansätze, die – ganz im Sinne Mühlfrieds – nicht zwangsläufig negativ zu beurteilen sind. Statt, wie von Skeptiker:innen häufig befürchtet, unvermeidlich in Gewalt und gesellschaftlicher Spaltung umzuschlagen, können Kritik und Widerstand gerade auch als gegengewaltige Kräfte verstanden werden, die sich gegen herrschende und oft unsichtbare Formen von Gewalt richten und zugleich Zusammenhalt und Solidarität stärken. Für alle, die angesichts der vielfältigen Widerstands- und Protestformen dieser Zeit sprach- und urteilsfähig bleiben wollen, ist dieser Sammelband eine absolute Leseempfehlung.
Max Tretter
Max Tretter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.