Der „Ton vom Ostermorgen“ (Karl Barth) als „die Quelle und die Lebensorientierung des Glaubens“; Kirchengemeinschaft als „eine im Handeln des dreieinigen Gottes gründende Beziehungsgemeinschaft“; Das Verhältnis der Kirche zu Israel als „die eigentliche ökumenische Frage“. Diese Stichworte umreißen die Ökumenische Existenz heute, eine (reformiert) reformatorische Ekklesiologie, die der emeritierte Theologieprofessor Michael Weinrich als Sammelband vorlegt. Weinrich treibt Theologie nicht ohne langjährige Erfahrung als Ökumeniker im universitären Kontext und als Reisender in kirchendiplomatischer Verständigung, insbesondere für die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK) und die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE).
In „der unmittelbaren Nähe zu dem Hauptstrom der realexistierenden Ökumene, wie sie sich im 20. Jahrhundert herausgebildet hat“, habe er die Texte (2004 – 2024) verfasst, schreibt Weinrich selbst. Doch seine Theologie wird über den Anfang des 21. Jahrhunderts hinaus ihre Kraft erweisen, wie auch ihre Quellen über den jeweils zeitgenössischen Kontext hinaus weiterwirken.
Kreativ entwickelt Weinrich seine Lehre von der Kirche auf Grundlage der Wort-Gottes-Theologie, der Israel- und der Erwählungslehre Karl Barths, der Soli-Deo-gloria-Theologie Johannes Calvins und der theologischen Vielfalt im Neuen Testament. Dem Kern des Überlieferten bleibt der Systematische Theologe treu: Die Anrede des lebendigen Gottes geht der menschlichen Antwort voran und diese Antwort ist „aus den jeweiligen Traditionen heraus der Freiheit der aktuellen Verantwortung verpflichtet“. Für die ökumenische Vision der Kirche bedeutet das, sich auszurichten an der Sendung der Kirche und die Perspektive zu richten auf „die aktuelle Bewährung der Kirche“, sprich: die „Herausforderungen der Gegenwart“. Diese Perspektive steht im Hoffnungshorizont, in welchem die Kirche mit dem Judentum verbunden ist.
Die „Einheit der Kirche“, nicht zu verwechseln mit der Einheitlichkeit, ist eine „Gabe“ des Gottes, von dem das Neue Testament in seiner Vielfalt erzählt. So verbietet es sich, das „Wirken Gottes“ beziehungsweise die „Gegenwart“ seines Geistes „einfach mit der eigenen Kirche zu verbinden, ohne sich von seiner Präsenz in den anderen Kirchen tatsächlich berühren zu lassen, um vom Wirken Gottes in seiner Schöpfung auch außerhalb der Kirche einmal ganz zu schweigen“.
Institutionell verfasste Kirchen seien frei, im interkonfessionellen wie im interreligiösen Gespräch nicht um die Wahrheit des eigenen Bekenntnisses oder Glaubens zu ringen. Denn über das Geheimnis der Wahrheit Gottes zu verfügen, liege über den unvollkommenen menschlichen Möglichkeiten. Zugleich werden Glaubende auf das verwiesen, was in ihrer Verantwortung liegt: das Menschliche, der praktisch-ethische Vollzug kirchlichen Lebens.
Neben expliziter Ekklesiologie durchziehen den Band Gedanken zu dogmatischen Topoi wie unter anderen die Trinität Gottes, die Erwählungslehre, die Israellehre auf der Basis von Römer 9–11. Auch der im reformierten Bekenntnis zentrale „Trost“ wird geboten: „Das Reich Gottes kommt nicht da, wo wir für Gott eintreten, sondern eben da, wo Gott für uns eintritt“, ohne dass wir von Gott „gleichsam in die Arbeitslosigkeit“ versetzt werden.Es gibt viel zu tun, zum Beispiel solange „das harte Urteil, dass für die Ökumene das Verhältnis der Kirche zu Israel keine Frage sei“, sich bestätigt und der Mainstream Israel/das Judentum vergisst.
Nach dem 7. Oktober 2023 ist es nötiger denn je, Weinrichs Ekklesiologie zu praktizieren, und das heißt in einem ersten Schritt, das anzuerkennen, was wir in der Kirche wie in der Ökumene einander schuldig geblieben sind.
Barbara Schenck
Barbara Schenck ist Social Media Pastorin beim Landeskirchenamt der Evangelisch-reformierten Kirche in Leer.