Der Komplexität angemessen

Die rechtliche Umgestaltung des Paragrafen 218 muss erst einmal als gescheitert gelten, da das Gesetz im alten Bundestag nicht mehr verabschiedet wurde. Dennoch hoffen die Autor*innen dieses Textes – allesamt Theologinnen an der Universität Hildesheim – dass die gesellschaftliche und kirchlich-theologische Diskussion darüber nicht verebbt.
Nachdem bereits im Oktober 2023 eine Stellungnahme zur Thematik des Schwangerschaftsabbruchs vorgelegt worden war, hat die EKD im Dezember 2024 erneut zwei Dokumente zu diesem Thema veröffentlicht: Eine in sieben Punkte gegliederte Stellungnahme sowie einen dieser Stellungnahme zugrunde liegenden umfangreichen theologisch-ethischen Diskussionsbeitrag.
Obwohl das Thema nun auf der politischen Bühne an Präsenz einbüßen dürfte und eine rechtliche Umgestaltung erst einmal als gescheitert gelten muss, ist zu hoffen, dass die gesellschaftliche und vor allem auch kirchlich-theologische Diskussion, zu denen das EKD-Papier beitragen will, nicht gänzlich verebben. Losgelöst von diesem konkreteren politischen Anlass dürfte sich ein solcher Text wie der nun vorliegende theologisch-ethische Diskussionsbeitrag zum (impliziten) Ziel auch gesetzt haben, zur Orientierung derer beizutragen, die sich einerseits im christlich-religiösen Kontext verorten und andererseits sich im Bezugsrahmen von Schwangerschaftsabbrüchen befinden (sei es durch eine eigene ungewollte Schwangerschaft, eine ungewollte Schwangerschaft im persönlichen Lebensumfeld oder aufgrund der eigenen Profession).
Neben dem Selbstverständnis des Papiers als „Diskussionsbeitrag“ sind dem Papier nun gleich noch zwei Charakteristika zu eigen, die eine kurze Bemerkung wert sind: Einerseits ist es ein „Kompromisspapier“ – was angesichts der evangelischen Perspektiven- und Positionsvielfalt nicht überrascht und an manchen Stellen des Textes stark, an anderen weniger deutlich spürbar ist – und andererseits ist es ein Papier, in dem die Abbruchthematik insgesamt mithilfe eines „konfliktethischen Zugangs“ reflektiert wird. Letzteres meint, dass in einem Schwangerschaftskonflikt für die betroffene schwangere Person ernstzunehmende Pflichten, Güter und Überzeugungen konfligieren, die nicht einfach gegeneinander ausgespielt oder verrechnet werden können. Im Papier finden sich hierfür Konkretionen. Ein so gefasster konfliktethischer Zugriff wirkt einer pauschal pejorisierenden Wahrnehmung des Konflikterlebens aus religiöser Perspektive entgegen und hält dabei zugleich die Einsicht fest, dass es diese Konflikte immer nur als individuelle, d.h. unterschiedlich nuancierte, erlebte und reflektierte Konflikte, aber eben auch unvertretbar auszuhaltende und zu gestaltende Konflikte gibt. Dies ist eine von mehreren Beobachtungen dafür, dass dieses Papier nun materialiter und strukturell einlöst, was bereits 1989 mit „Gott ist ein Freund des Lebens“ formelhaft als Konsens festgehalten worden war: „Mit der Frau, nicht gegen sie.“
Vier Gemeinsamkeiten
Die in dem Papier beschriebene „doppelte Grunderfahrung des Schwangerseins, selbst neuem Leben Raum zu geben und zugleich von diesem neuen Leben als etwas anderem auch bestimmt und in Anspruch genommen zu werden“ deutet zudem angemessen komplexitätssensibel auf die Konkretionsbedarfe der bereits in der Stellungnahme von 2023 festgehaltenen Einsicht in die Schwangerschaft als „Verhältnis sui generis“, denen sich das Papier auch theologisch nähert.
Der Diskussionsbeitrag soll nun daraufhin befragt werden, wie er den Glauben in seiner Rolle bestimmt sowie seine Stärken und Wagnisse in den Blick nimmt. Zu würdigen ist, dass er zwei unterschiedliche und divergierende Weisen von Glauben im Kontext eines (möglichen) Schwangerschaftsabbruchs zu thematisieren vermag. Auf der einen Seite steht die liberale Perspektive, den Glauben als Deutungsrahmen für Erfahrungen zu lozieren und damit schwangere Personen mit ihren je individuellen Kontexten stärker zu fokussieren.
Auf der anderen Seite steht ein offenbarungstheologischer Zugriff, der stärker Gottes Handeln in der Welt (und implizit damit auch im Leben der Schwangeren) ins Zentrum stellt und daraus einen Auftrag für den Schutz des Lebens ableitet (und darin eine deutliche Schlagseite zum Lebensschutz des Ungeborenen erwägt).
Für die unterschiedlichen Ausprägungen des Glaubens werden sodann vier Gemeinsamkeiten skizziert: Erstens erzeugen im Glauben – sei er nun Deutungsrahmen oder Offenbarungsresonanzraum – unterschiedliche und konfligierende Ansprüche eine Spannungssituation in dem Subjekt, das diese Ansprüche lebensweltlich aushalten und austarieren muss. Zweitens teilen beide Glaubenskonfigurationen die Annahme, "dass mit dem Schwangerschaftskonflikt eine ethisch einmalige und letztlich analogielose Situation beschrieben ist". Dies liegt am Verhältnis sui generis der Schwangerschaft: Im Selbstverhältnis der Schwangeren kommt ein mehrfaches Sich-ins-Verhältnis-setzen-müssen zum Tragen. Einerseits zum Embryo bzw. Fetus, andererseits zum eigenen Körper und dann wiederum zu dem unverwechselbaren In- und Beieinander beider. Dieses Sich-ins-Verhältnis-setzen-müssen kann konflikthaft sein, insofern dort Ansprüche auszutarieren sind, die sich unter Umständen für die schwangere Person nicht austarieren lassen. Diese Situation wird – so der Diskussionsbeitrag – drittens im Glauben als Konflikt der Ansprüche bzw. göttlicher Gebote erfahren, der sich ethisch nicht einseitig auflösen lässt und viertens sich ebenso wenig zu einer einfachen Güter- oder Pflichtenabwägung abschwächen lässt.
Glauben als Konfliktort
Die Pflichtenabwägung, die der Text im Folgenden stark in den Blick nimmt und als "Gebots- und Gewissenskonflikt" fasst, bedarf aber lebensweltlich einer Klärung samt Entscheidung. Dafür führt der Diskussionsbeitrag die Dimension des Gewissens ein und vermag so die individuelle Situation der Schwangeren, samt ihrer verantworteten Freiheit und Entscheidungsfähigkeit zu würdigen. Unkommentiert lässt der Diskussionsbeitrag die Fälle, in denen die schwangere Person sich nicht in Sein und Gewissen aufgespannt zwischen verschiedenen Ansprüchen erlebt bzw. die Situation nicht als zu klärende Entscheidung erfährt. Dieses lebensweltliche Phänomen kommt hier nicht zur Sprache und wird folglich theologisch nicht ausgelotet. Für den EKD-Beitrag lässt sich insgesamt feststellen, dass dieser den Glauben – durchaus plausibel – als Ort des erfahrenen Konfliktes zur Diskussion stellt. Die Frage ist nun, ob der Glaube auch anders perspektiviert werden kann.
Diese Frage stellt auch Johannes Fischer in seinem vorgestern auf zeitzeichen.net veröffentlichten Beitrag. Er skizziert ein Szenario, in dem die Glaubensüberzeugung den Entscheidungsboden bereitet, eine ungewollte Schwangerschaft seitens der Schwangeren „als Wende zu verstehen und anzunehmen, die Gott ihrem Leben gibt und mit der er ihnen ein Kind zur Aufgabe macht.“
Fischer perspektiviert den Glauben – ebenfalls plausibel – an dieser Stelle gerade nicht als Austragungsort des Konfliktes unauflösbarer Ansprüche, sondern als eine das Subjekt stützende Lebensperspektive, die den Konflikt kennt, ihn aber eben zu überwinden sucht. Der Glaube erlaubt es hier der schwangeren Person, das nicht frei gewählte Widerfahrnis nicht nur anzunehmen, sondern auch biografisch zu integrieren.
Bringt man den Glauben in dieser lebensbegleitenden Dimension in Anschlag, sollte dies u.E. natürlich auch dann gelten dürfen, wenn eine Schwangerschaft abgebrochen wird. Auch hier bietet der Glaube eine Perspektive und Stütze, sich als Person in der eigenen Fragmentarität verstehen zu können und mit den Abbrüchen und Brüchen innerhalb der eigenen Lebensgeschichte in ein versöhnliches Selbstverhältnis finden zu können. Dazu gehört unter Umständen gerade auch, sie religiös thematisierbar zu halten.
Innere Konflikte
Lohnend erscheint der Blick auf die vom Text angebotenen schrifthermeneutischen Überlegungen. Zu würdigen ist zunächst einmal die Tatsache, dass das Papier ernstnimmt, dass sich Glauben – sei es als Deutungsrahmen oder aber als offenbarungstheologischer Resonanzraum – aus Narrativen und Bildern speist, vor allem auch aus denen der Bibel. In der Vergangenheit wurden die Stellungnahmen der EKD teilweise für die fehlenden theologischen Inhalte kritisiert, diese Leerstelle innerhalb der Debattenlage versucht sich der Text sehr klar anzunehmen, was an vielen Stellen durchaus als gelungen gelten darf. Dennoch ist zu fragen, ob zum Beispiel die Berufungsgeschichten sich an dieser Stelle als geeignete Referenzen biblischer Tradition eignen. Dies ließe sich allein an dem doch empfindlichen Detail konkretisieren, dass hier ausschließlich männliche Protagonisten in den Mittelpunkt gestellt werden (Abraham, Moses, große Propheten, Jünger, Paulus), vielleicht nicht allzu glücklich, wenn es um die besondere Situation der ‚Schwangerschaftskonflikte‘ geht.
Biblische Berufungsgeschichten als Geschichten innerer Konflikte und unbedingter Ansprüche bieten zwar ggf. wertvolle Impulse für die Auseinandersetzung mit der Thematik, es besteht allerdings die Gefahr, dass historische oder narrative Kontexte durch das Herausgreifen einzelner Geschichten vereinfacht oder verkürzt werden können. Und auch die vorhergehend im Text rekonstruierte biblische Sicht auf Kinderlosigkeit, "die zu Scheidung oder Vertreibung der Frau führen konnte" und "in alt- und neutestamentlicher Zeit als Makel oder Schande galt", hätte angesichts des enormen Leidens, das ungewollte Kinderlosigkeit bei vielen Menschen nach sich zieht, noch einen für unsere Gegenwart von solcher Deutung entlastenden Satz gebraucht und irritiert die Stärke der ansonsten umgesetzten seelsorglichen Sorgfaltsansprüche des Textes.
Einen besonderen Stellenwert erhalten in der Stellungnahme die Begriffe ‚Gewissen‘ und ‚Freiheit‘, die im christlichen Glauben tief verwurzelt und hochgeschätzt sind. Das Diskussionspapier beschreibt eine respektvolle Anerkennung auch der Verantwortung, die mit menschlicher Freiheit während einer Schwangerschaftsentscheidung einhergeht. Der Gewissensbegriff, wie er im Papier dargestellt wird, stellt eine individuelle Auseinandersetzung der Schwangeren in den Mittelpunkt. Ein moralisches Urteil von außen findet möglichst nicht statt, stattdessen wird die Freiheit, im Einklang mit dem eigenen Gewissen zu einer verantworteten Entscheidung zu kommen, betont. In diesem Zusammenhang wird ein (liebevolles) Besinnen auf die Gnade Gottes als unterstützende Dimension herausgestellt, dies ermöglicht es, den Zugang des christlichen Glaubens als Ressource in einem solchen Konflikt wahrzunehmen. Grundlegend wird der schwangeren Person die Verantwortungsfähigkeit und Freiheit zugesprochen, ihre Entscheidung im Einklang mit ihrem Gewissen und unter Berücksichtigung ihrer individuellen Lebenssituation zu treffen.
Weiterführende Möglichkeiten
Im Diskussionsbeitrag wird das Gewissen als Teil der Verantwortung der Schwangeren gewahrt und gleichzeitig wird auf die soziale Dimension von Gewissen und Freiheit hingewiesen. Freiheit findet nicht nur in der schwangeren Person statt, sondern Freiheit vollzieht sich auch im „gemeinsame(n) Leben mit Anderen“. Es wird betont, dass das Gewissen durch Glauben, Werte und Leitvorstellungen geprägt ist. Das öffnet die Tür für die aus dem Gewissen entstehende Verantwortung, die sich dann nicht allein auf den Schultern der Schwangeren befindet, obgleich die Entscheidung im Konfliktfall einer Schwangerschaft unvertretbar von ihr getroffen werden darf und muss.
Diese Perspektive erlaubt, das Gewissen als auch sozial formiert zu betrachten, was den Austausch mit Anderen, aber auch eine größere Beachtung von Hilfesystemen aufwertet. Das Diskussionspapier erörtert in praktischer Weise Ideen für weiterführende Möglichkeiten der gesellschaftlichen (und kirchlichen) Hilfsmöglichkeiten, die Schwangeren in Konfliktsituationen zur Seite stehen können. Beispielsweise könnte ein in der allgemeinen Schwangerschaftsvorsorge verankertes Beratungsrecht Stigmatisierungen und Tabuisierungen entgegenwirken.
Der Auftrag, den christliche Gemeinschaft und damit auch christliche Hilfsangebote haben sollten, ist es, als ein Ort verstanden zu werden, an dem Menschen in schwierigen Lebenslagen nicht verurteilt, sondern begleitet werden. Das Papier zeigt sich solidarisch mit der Schwangeren und sieht die Aufgabe auch darin, eine Anwaltschaft für Schwangere in prekären Situationen zu übernehmen. Die Schwangere muss ernst- und wahrgenommen werden sowohl in ihren Nöten und Sorgen, aber auch in ihren Fähigkeiten und Verantwortlichkeiten, das schafft das Papier in weiten Teilen. Die verschiedenen Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen von Schwangeren, die zu einem Schwangerschaftskonflikt führen oder diesen erschweren können, werden mit einem verständnisvollen Blick gesehen.
Eine Schwangerschaftsentscheidung eigenverantwortlich treffen zu dürfen bedeutet nun zugleich, eine Schwangerschaftsentscheidung treffen zu müssen. Es ist zuallererst die Schwangere, die mit dem, was ihre Entscheidung hinterlässt, leben wird. Genau aus diesem Grund ist es unerlässlich, dem Diskussionsbeitrag erstens zuzustimmen, dass niemand der Schwangeren diese Entscheidung abnehmen darf und kann. Zweitens ist den Fragen nach gesellschaftlicher Verantwortung so nachzugehen, dass einerseits ernstgenommen wird, dass mit klaren Unvertretbarkeitssituationen auch die Sozialitäts- und Ressourcenbedarfe steigen, ohne andererseits die Unvertretbarkeit als Zu- und Anspruch an die schwangere Person hinterrücks wieder einzukassieren.
Als kirchlicher Beitrag und konstruktive Anregung einer weiterhin nötigen Debatte sind die Texte zu würdigen: Der Komplexität eines Schwangerschaftskonflikts angemessen, stellen sie im Bezug darauf den christlichen Glauben seinerseits in seiner Komplexität und Auslegungsfähigkeit dar. Dabei rückt - und das ist sehr zu begrüßen - nicht nur der Schwangerschaftskonflikt, sondern auch die Schwangerschaft selbst in den Horizont ethisch-theologischer Sprachfähigkeitserweiterung.
Maren Bienert
Maren Bienert ist Professorin für Systematische Theologie an der Stiftung Universität Hildesheim.
Tamara Hübner
Tamara Hübner ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Evangelische Theologie an der Universität Hildesheim.
Sonja Thomaier
Sonja Thomaier ist Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in an der Universität Hildesheim mit einem Promotionsprojekt im Themenfeld „Queere Theologien“. Zudem ist Sonja Thomaier Pfarrperson im Ehrenamt mit einem Auftrag für die Queersensible Seelsorge Hannover.