Transgender-Debatte ernsthaft führen

Theologin reagiert auf die Kritik ihres Plädoyers für das Zwei-Geschlechter-Modell
Nierop
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Im November 2024 veröffentlichte die Theologin Jantine Nierop in zeitzeichen einen Artikel über Vorfälle um ihre ehemalige Pfarrstelle an der Studierendengemeinde in Heidelberg, in dem sie betont, dass an transidentifizierenden Kindern und Jugendlichen keine körperverändernden Maßnahmen durchgeführt werden sollten. Daraufhin wurde sie – ebenfalls in zeitzeichen – heftig kritisiert. Hier antwortet sie ihren Kritiker:innen Alexander Maßmann und Jasmin Mannschatz.

Mit einer ‚naturwissenschaftlichen Perspektive‘ hat Alexander Maßmann auf meinen Beitrag „Streit um die Queer-Theorie“ in "zeitzeichen" 11/24 reagiert. Er wirft mir in seiner Reaktion „Etikettenschwindel“ und sogar „Desinformation“ vor. Die Kritik bezieht sich auf meine Aussage, eine Studie aus England (Cass-Review) hätte ergeben, dass ein hoher Prozentsatz transidentifizierenden Kinder tatsächlich homosexuell sei. Mit dem Cass-Review ist der 2024 veröffentlichte wissenschaftliche Bericht über die Gesundheitsversorgung transidentifizierender Minderjähriger der britischen Kinderärztin Hilary Cass gemeint.[1]

Mein Artikel war biographischer Art und ging auf ein Interview mit einer niederländischen Zeitung zurück. Dort hatte ich nur allgemein auf eine englische Untersuchung hingewiesen. Für meinen Zeitzeichen-Beitrag habe ich dann in Klammern „Cass-Review“ hinzugefügt. Tatsächlich hätte ein anderer Titel noch besser gepasst, nämlich „Time to Think. The Inside Story of the Collapse of the Tavistock's Gender Service for Children“(2023) der renommierten britischen Investigativ-Journalistin Hannah Barnes (bekannt von BBC Newsnight). Bevor ich das näher entfalte, lege ich dar, warum der Hinweis auf Cass nicht falsch ist und ganz sicher keine Desinformation darstellt. Um ihn zu verstehen, braucht man allerdings schon Detailkenntnisse in der Thematik. 

Es geht bei diesem Vorwissen im Kern um zwei Dinge. Erstens soll man im Review nicht nach dem Stichwort Homosexualität suchen, sondern nach „same sex attracted“, sonst findet man die entscheidende Stelle nicht. Der Begriff Homosexualität wirkt im Transgender-Kontext oft unklar, weil man nicht genau weiß, welche Anziehung nun gemeint ist, weshalb „same sex attraction“ in wissenschaftlichen Publikationen häufig vorgezogen wird. Zweitens braucht man Vorkenntnisse über die Geschichte der medizinischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie. 

Methodologische Schwäche

Insbesondere muss man die große Bedeutung des sogenannten „Dutch Protocols“ kennen, um das Gewicht der von mir gemeinten Passage einschätzen zu können. Dazu hilft allerdings auch das Vorwort des Reviews. Hier bringt Cass großes Befremden darüber zum Ausdruck, wie schnell sich die Praxis, transidentifizierende Kinder mit Hormonen zu behandeln, über die Welt verbreitet hat, „ausgehend von einer einzigen niederländischen Studie, die nahelegt, dass Pubertätsblocker psychisches Wohlbefinden bei einer eng definierten Gruppe von Kindern mit Genderinkongruenz verbessern könnte“ (13, Übersetzung JN). 

Das Review kritisiert diese Studie anschließend in verschiedener Hinsicht. Nicht alle Teilnehmer füllten die Fragebögen nach der Behandlung aus. Aufgrund dieser methodologischen Schwäche ist es heikel, Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen zu ziehen. Des Weiteren waren alle Patienten in der niederländischen Einrichtung parallel zu der Behandlung mit Pubertätsblockern in psychologischer Behandlung, „so dass es schwierig ist, die therapeutische Wirkung dieser Sitzungen von der Rolle der Pubertätsblocker zu trennen“ (68). Außerdem fügt Cass an dieser Stelle folgende Daten hinzu: Von den 70 Patienten waren 89 % homosexuell orientiert [same sex attracted to their birth-registered sex]. Die meisten der übrigen waren bisexuell. Nur ein Patient war ausschließlich heterosexuell. Diese Information hat es in sich. 70 Überwiegend homo- oder bisexuelle Jugendliche stehen an der Basis einer weltweiten Praxis, transidentifizierende Kinder mit Pubertätsblockern zu behandeln. In den allermeisten Fällen folgt danach eine weitere Behandlung mit sogenannten Cross-Sex-Hormonen, um männlicher bzw. weiblicher auszusehen. 

Gleichgeschlechtliche Orientierung kommt als Thema noch an einer weiteren Stelle im Cass-Review vor, nämlich bei der folgenden Angabe: „Das Review erhielt mehrere Berichte von Eltern weiblicher Kinder [birth-registered females], dass ihr Kind eine Phase der Transidentifikation durchgemacht hatte, bevor es erkannte, dass es sich gleichgeschlechtlich angezogen fühlte [cisgender same sex attracted]“ (119). Maßmann hat natürlich Recht, dass dies keine Ergebnisse der Studie sind. Es sind allerdings darin enthaltene Informationen - und meines Erachtens sehr wichtige.

Stark überrepräsentiert

Dass ein großer Teil transidentifizierender Jugendlicher eine gleichgeschlechtliche Orientierung hat, geht ebenfalls hervor aus Zahlen des „Gender Identity Development Service“ (GIDS) der auch von Maßmann erwähnten Londoner Tavistock-Klinik. Die britische LGB-Alliance fasst die Datenlage und das Problem auf ihrer Website pointiert zusammen: „Im Jahr 2015 stellte der Tavistock GIDS fest, dass sich 30 % der männlichen Jugendlichen zu Jungs und 30 % sowohl zu Jungs als auch zu Mädchen hingezogen fühlten (d. h. 60 % waren homosexuell oder bisexuell). Nur 30 % gaben an, dass sie sich ausschließlich zu Mädchen hingezogen fühlten. Von den weiblichen Teilnehmern fühlten sich über 50 % zu anderen Mädchen hingezogen, 20 % sowohl zu Jungs als auch zu Mädchen (d. h. 70 % waren homosexuell oder bisexuell). Nur 30 % fühlten sich ausschließlich zu Jungs hingezogen. Bedenken wir, dass laut der Volkszählung 2021 im Vereinigten Königreich nur 3,3 % der Bevölkerung lesbisch, schwul oder bisexuell sind. Wenn es kein Problem gäbe, würden wir erwarten, dass eine ähnlich geringe Anzahl von GIDS-Patienten LGB ist. Stattdessen ist festzustellen, dass LGB-Personen unter den jungen Menschen, die eine GIDS Klinik besuchen, stark überrepräsentiert sind. GIDS hat inzwischen die Veröffentlichung von Daten über die sexuelle Orientierung seiner Patienten eingestellt.“[2] Diese und weitere beunruhigenden Zahlen der Tavistock-Klinik bespricht die oben genannte Journalistin Barnes in ihrem Buch „Time to Think“ ausführlich. Sehr detailliert beschreibt sie die Anfänge und die problematische Entwicklung der Klinik, die letztes Jahr vom britischen Gesundheitswesen endgültig geschlossen wurde und deren Missstände den Anlass dafür bildeten, die Kinderärztin Cass mit einem wissenschaftlichen Bericht zu beauftragen. Dabei zitiert Barnes auch den ehemaligen Klinikarzt Matt Bristow, der rückblickend von einer ‚conversion therapy for gay kids‘ spricht.[3]

Gilt dies alles vielleicht nur für England und hat mit der deutschen Situation nichts zu tun? Das bezweifle ich. Auch der deutsche Kinder- und Jugendpsychiater Alexander Korte (Leitender Oberarzt am Universitätsklinikum München) nennt - neben pubertären Entwicklungskrisen, Unbehagen mit Geschlechtsrollenerwartungen, Autismus und Trauma - eine abgewehrte oder verdrängte Homosexualität als häufigste Ursache einer jugendlichen Geschlechtsdysphorie. [4] ‚Transing the gay away‘ ist ein reales Risko und sollte hierzulande von der evangelischen Medizinethik zur Kenntnis genommen werden.

Kenntnisnahme dringend angesagt

Ebenso ist eine Kenntnisnahme von evangelisch-ethischer Seite der ausgesprochen kritischen „Gemeinsamen Kommentierung“ von vierzehn deutschen Professoren für Kinder- und Jugendpsychiatrie dringend angesagt. Die Kommentierung bezieht sich auf die von der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung im Entwurf vorgestellte und trotz gegenläufiger Entwicklungen im Ausland weiterhin ‚transaffirmative‘ neue Behandlungsleitlinie. Veröffentlicht wurde die Kommentierung im Frühjahr 2024 auf der Website des renommierten Mannheimer Instituts für Seelische Gesundheit, das eng mit der Universität Heidelberg zusammenarbeitet. In der Kommentierung finden sich die auf einer aktuellen finnischen Studie basierenden Aussagen „die Suizidalität ist bei betroffenen Individuen nicht signifikant erhöht, wenn für eine ggfs. vorliegende psychiatrische Diagnose adjustiert wird“ und „die Gabe von Pubertätsblockern oder Cross-Sex-Hormonen trägt nicht zu einer Verminderung der Suizidalität bei Betroffenen vorteilhaft bei“[5].

Auch was dies angeht – das Suizidrisiko von Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie nach einer Hormonbehandlung – hat mich Maßmann kritisiert. Er hielt meine Aussage, dass eine Hormonbehandlung das Suizidrisiko nicht senkt, für einen „Irrtum“. Er meinte wohl, dass meine Aussage auf Cass zurückgeht. Dabei stand die Kommentierung der vierzehn Lehrstuhlinhaber als Quellenangabe unter meinem Beitrag. Sowohl die Wucht als auch die Qualität von Maßmanns Kritik sind befremdlich.

Zum Schluss noch einige Worte zur Replik von Jasmin Mannschatz, die ein sogenanntes ‚Hirngeschlecht‘ voraussetzt, also von der Idee ausgeht, dass das Gehirn eines Menschen eine geschlechtliche Prägung hat und diese Prägung das eigentliche Geschlecht eines Menschen bestimmt. Dieses ‚Hirngeschlecht‘ spielt über die Broschüre „Zum Bilde Gottes geschaffen. Transsexualität in der Kirche“, im Jahr 2018 von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau herausgegeben, eine große Rolle in der kirchlichen Auseinandersetzung mit dem Transgenderthema.

Nichts eindeutig belegt

Selbstverständlich begrüße ich alle Forschungsprojekte in dieser Richtung. Allerdings ist bisher nichts in dieser Richtung eindeutig belegt worden. Alexander Korte schreibt: „Die neurowissenschaftlich-genetische Forschung hat bislang keine wirklich überzeugenden Nachweise einer vorrangig oder gar ausschließlich genetisch bzw. hormonell bedingten Ätiologie einer persistierenden Trans-Identifizierung erbringen können.“[6]

Manche Wissenschaftler sehen dies anders. Korte bespricht ihre Ansätze in seinem Buch und geht mit ihnen kritisch ins Gespräch - auch mit dem von Mannschatz ins Feld geführten niederländischen Neurobiologen Dick Swaab. Kortes Kritik an der Qualität der Hirnstudien betrifft vor allem die Tatsache, dass die sexuelle Orientierung der Probanden als mögliche und vermutlich entscheidende Einflussgröße konsequent unberücksichtigt blieb. Schließlich ist seit langem bekannt, dass es zwischen homosexuellen und heterosexuellen Männern messbare hirnanatomische Unterschiede gibt.[7] Kortes Buch empfehle ich ebenfalls als Grundlage einer weiterführenden Diskussion im kirchlichen Bereich.

Übrigens hat just letzten Monat ein Mitglied der World Professional Association for Transgender Health, nämlich die britische ‚transaffirmative‘ Psychologin Amaya Deakins, mitgeteilt, dass der Prozentsatz derjenigen, die ihre Transition bereuen, gegenwärtig „um die 30 %“ liegt. [8] Das wäre weit entfernt von der 0-2 %-Rate, die Mannschatz nennt – und zwar dramatisch.

Kurzum: Lasst uns endlich dieses Thema aufnehmen auf der Basis aller zur Verfügung stehenden naturwissenschaftlichen Daten. Denn es geht um Kinder und Jugendliche bzw. ihre körperliche und seelische Unversehrtheit. Eine ernsthafte und seriöse Debatte in Kirche und Theologie sind wir den Betroffenen schuldig.


 

[1] https://cass.independent-review.uk/home/publications/final-report/

[2] https://lgballiance.org.uk/conversion-practices-bill-blog/

[3] Hannah Barnes: Timo to Think. The Inside Story of the Collapse of the Tavistock's Gender Service for Children, Swift Press London 2023, 161. 

[4] Alexander Korte: Hinter dem Regenbogen. Entwicklungspsychiatrische, sexual- und kulturwissenschaftliche Überlegungen zur Genderdebatte und zum Phänomen der Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen, Kohlhammer Stuttgart 2024, 210.

[5] https://www.zi-mannheim.de/fileadmin/user_upload/downloads/forschung/KJP_downloads/Gemeinsame_Kommentierung_Leitlinienentwurf_S2k-240521.pdf, 36.

[6] Korte: Hinter dem Regenbogen, 214.

[7] Ebd. 220.

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Jantine Nierop

PD Dr. Jantine Nierop ist Pfarrerin in Mannheim und Privatdozentin an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg.

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