Zeiten der Wüste

Mit dem heutigen Aschermittwoch beginnt die Passionszeit: Sieben Wochen, in denen der christliche Glaube in der Fastenzeit sich dem Leiden und Sterben Jesu Christi annähert. Der Theologe Dietrich Bauer, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Sachsen und die Juristin Viola Vogel, Konsistorialpräsidentin der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, umreißen in ihrem Essay theologische und ekklesiologische Erfahrungen und Hoffnungen in unsicheren Zeiten.
Die säkulare Erzählung unserer Tage hält weder Wüste noch Leere aus. Aber bei aller „Gott-ist-tot-Rhetorik“ der Spätmoderne reißt diese – metaphorisch gesprochen - nicht nur Kathedralen ein. Sondern sie baut auch neue auf. Eine dieser nichtreligiösen Kathedralen säkularer Selbstvergewisserung ist neben der Suggestion eines angeblich bestehenden permanenten wissenschaftlich-technischen Fortschritts die mediale Neuerschaffung der Welt. Und diese kreiert, um Wüste und Leere des Individuums aushaltbar zu machen, ein dauerndes, die Seele ertränkendes, emotionales Untergangsszenario apokalyptischen Ausmaßes um das Individuum herum: Die Dauerberichterstattung über Krieg, Klimabedrohung, Gewalt, Verzweiflung, Verluste von Erfahrungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts mit immer unsichereren demokratischen Mehrheitsverhältnissen in westlichen Demokratien, kurz: allesamt Zukunftsbedrohungen für die Menschheit, für uns.
Eine andauernde Wüstenerfahrung also, die es intellektuell und psychisch als Individuum zu beherrschen gilt. Allerdings liefern die Medien lediglich die Furchtbarkeiten in die digitalisierten Wohnzimmer, aber nicht die Mittel, diese seelisch in lebensbejahender Weise zu bewältigen. Damit bleibt das hochtechnisierte, iPhone-besitzende, mit seinen elektrisch programmierten und sprechenden Haushaltsgeräten ausgestattete Individuum allein. Die Folge: Einsamkeit, Identitätsverluste, Apathie, Lethargie, Gleichgültigkeit, Zynismus. Schlimmstenfalls das Sich-Einüben in eine Abhärtung der Seele, Menschenfeindlichkeit und Hartherzigkeit trotz eines beträchtlichen gesellschaftlichen Wohlstands im deutschen sozialen Staat der Marktwirtschaft.
Glaube als „Spezialgebilde“
Vor der Schwelle zur Spätmoderne hat Antoine de Saint-Exupéry sich mit realen Wüstenerfahrungen als Berufspilot literarisch auseinandergesetzt. Ihm ist die Wüste Metapher für die Situation des von Sinnleere bedrohten, europäischen Menschen, Inbegriff des nahezu leeren Raumes und Ort des Findens der „eigenen“ inneren Quellen. Für sein Flugzeug, das Mittel, Instrument und Werkzeug, um die Wüste zu überwinden, findet er eine inspirierende Definition für Vollkommenheit: „Vollkommenheit entsteht offensichtlich nicht dadurch, dass man nichts mehr hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.“ [1] Könnte also der christliche Glaube gerade für den bereits säkularisierten oder von Säkularisierung bedrohten Menschen der Spätmoderne geeignet sein, Wüste und Leere auszuhalten, ja ihnen gar Schönes und Erfüllendes abzugewinnen?
Dem Soziologen Andreas Reckwitz zu Folge ist der christliche Glaube ein „Spezialgebilde“ einer nötigen gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, Wege und Mittel zu finden, die Verluste der Moderne sowohl mental als auch emotional zu verarbeiten, damit deren kulturellen Gewinne für die Zukunft erhalten bleiben [2].
Nun ist nicht zu erwarten, dass es in naher Zukunft eine Rückkehr der Religion im alten Stil gäbe. Aber man kann doch damit rechnen, dass - wenn die Säkularisierung des leeren Himmels ihre eigenen Kinder frisst, zum Beispiel der Glaube an den unbegrenzten Fortschritt an seine Grenzen kommt– die metaphysische Frage als nichtmaterielle Alternative zu neuem Leben erwacht. Dies muss nicht die christliche Variante sein, aber die Suche nach Resilienz stärkenden „Resonanzen“ [3] oder lebensdienlichen „Sphären“ [4] hat längst begonnen, und sie bezieht sich explizit auch auf religiöse oder gar theologische Erfahrungsgestalten und Denkfiguren.
Resonanzraum für resilientes Leben
Die Bibel jedenfalls setzt als große Erzählung des Findens, Verlierens und Wiederfindens von Glück, Gemeinschaft und Sinn mit der Metapher der Wüste und Leere ein: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“ 1. Mose 1 – die Schöpfung der Welt setzt wüste Leere also geradezu voraus. Noch bevor der Mensch als Bild Gottes wird, schwebt der Geist Gottes über Wüste und Leere. Beides ist Vorbedingung allen Lebens, verstanden als eine ganz eigene Art absoluter Vollkommenheit im St. Exupéry’schen Sinne. Und diese Vollkommenheit im Nichts durch wüste Leere kann unter bestimmten Bedingungen – so paradox es klingt – zu Mutterboden und Resonanzraum für neues, resilientes Leben und neue Lebensmöglichkeiten werden.[5] Für die Schöpfungserzählung der Bibel jedenfalls ist der schwebende Geist Gottes wesentlich.
Wenn die Wüste nun nicht nur als negative Leere zu verstehen ist, sondern als ein besonderer Resonanzraum für das (Sich-)Wiederfinden, dann – ja, dann kann ggf. selbst die säkulare Spätmoderne aus christlicher Perspektive als Chance begriffen werden.
Im Folgenden wollen wir uns deshalb den Fragen annähern, was diese andere Form der „Vollkommenheit im Nichts“ für Jesus selbst (I.), für ein Leben in der Spätmoderne in Jesu Nachfolge für uns Menschen (II.) und für die Kirche als Institution (III.) heißen und was daraus konkret (IV.) folgen könnte.
Die Wüste für Jesus – Der Stresstest des leeren Himmels
Aus der Perspektive Jesu ist die Wüste ein Ort der extremen körperlichen und geistigen Prüfung, aber auch des Verlierens und Wiederfindens. Vom Geist wird Jesus in die Wüste geführt, auf dass er von dem Teufel verflucht würde (Matthäus 4, 1). Alles, was er bis dahin traditionell religiös gelernt und verinnerlicht hat, wird einem extremen Stresstest ausgesetzt. Unsere jährlichen paarwöchigen Pilger- und Fastenversuche zu Ostern und Weihnachten mit selbst gewählten Verzichtsaufgaben auf Widerruf sind ein Anklang an diese jesuanische Wüstenerfahrung.
Eine erste, wesentliche Pointe der Erzählung ist, dass der Teufel im Auftrag des Geistes, also im Auftrag Gottes, Jesus in die Wüste führt. Der Teufel verrichtet sein Werk also – der Hioberzählung nicht unähnlich – im Auftrag Gottes. Jesus besteht die Prüfung. Was es ihn gekostet haben muss, innerlich und äußerlich, davon berichtet die Bibel nicht. Es wird nur gesagt: Ihn dürstet, ihn hungert nach vierzigtägigem Fasten. Es gilt sich also zu vergegenwärtigen, dass Gott in lebensfeindliche Verhältnisse führen kann, um dem Menschen zu ermöglichen, ein Leben auf einer höheren Ebene wiederzufinden. Dies ist kein Automatismus.
Aber schon die Schöpfung lehrt, dass die Wüste in ihrer Konzentration nicht nur Überlebensstrategien fördert, sondern auch Schönheit hervorbringt. Die Tiere, die dort leben, haben Überlebensstrategien entwickelt, sie können die Wüste „lesen“: Kamele können erstaunliche Zeiträume ohne Flüssigkeit überleben, Skorpione ohne Nahrung, Schlangen, Echsen etc. nehmen Flüssigkeit über ihre Nahrung auf etc. pp. Dem vergleichbar hat Jesus in der Wüste im Geistigen sein Leben und Gott zu „lesen“ gesucht und Überlebensstrategien herausgebildet. Wenn Jesus vom Geist in die Wüste geführt wird, um vom Teufel versucht zu werden, dann heißt dies, dass der individuelle Glaube als Vertrauens- und Hoffnungshorizont durch seine eigene Verneinung hindurch muss, um den inneren Dialog zwischen dem Menschlichen und Himmlischen im eigenen Herzen und Denken als real erprobt zu erfahren und dadurch in der Zukunft getragen zu sein.
Tragend im extremen Stress
Die zweite, wesentliche Pointe der Wüstenerzählung ist, dass der Teufel Jesus darin versucht, seine göttliche Allmacht als Sohn Gottes zu nutzen, um dem Stress der Wüste zu entfliehen. Das Teuflische besteht darin, dass Jesus, hätte er der Versuchung des Diabolos nachgegeben, seine Menschlichkeit in doppelter Weise verraten hätte. Zum einen hinsichtlich seiner eigenen Verletzbarkeit und Zweifel (Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Markus 15,14). Zum anderen im Blick auf das Ende der Versuchungsgeschichte selbst. Nach der Konfrontation mit der Negation Gottes – mythisch der Begegnung mit dem „Durcheinanderwerfer“, was Diabolos übersetzt heißt – öffnet sich ihm der Himmel neu: „Und siehe, da traten Engel herzu und dienten ihm“ (Matthäus 4,11). Dies wiederum war ihm möglich, weil er das Wort Gottes in der Weise auslegte, dass es nicht den eigenen Narzissmus bediente, sondern Gott die Ehre gab. Seit der Wüstenerfahrung Jesu kann das biblische Wort also als tragend in extremen Stresssituationen geglaubt werden. Es gibt keine gottlosen Zeiten und Orte, sondern allein Wüsten und Leeren, in denen sich individuell und als Gemeinschaft Gott in seiner Wirksamkeit neu erschließt.
Für den Rückgewinn von Vertrauen und Sinn in der Spätmoderne ihrer Verlusterfahrungen und gesellschaftlichen Verwerfungen, liegt hier ein Weg durch die „Wüste“ vor unseren Füßen: Finde Raum und Zeit, Dich Deinen Ängsten, Geprägtheiten, Vorurteilen und Begrenzungen zu stellen und stelle Dich der Stille und dem Geist.
II. Die Wüste für uns Menschen - Das Zimmer und der Traum
Die Wüste innen – sie steht als Metapher für das große Nichts, die Leere und scheinende Sinnlosigkeit des Seins, die Wüste im Innern unserer Seele. Viel Zeit unseres Lebens unter den Bedingungen der real existierenden Spätmoderne verbringen wir damit, alles zu tun, um es in unserer Seele nur nicht „Wüste“ werden zu lassen. Nur nicht zu viel Leere, Nichts und Stille um uns zu haben. Wir verstopfen unsere Augen und Ohren dauerhaft mit Konsumerfahrungen. Mit nicht enden wollenden Bildern, Geräuschen, Nachrichten und Konsumgütern der digitalen Glitzerwelt, um nur ja nicht „mit sich in einem Zimmer allein sein zu müssen“[6], wie Virginia Woolf einmal ihren unbedingten Wunsch nach Ruhe zum Schreiben treffend ausdrückte. Alleine-Sein mit sich in einem Zimmer, womöglich noch ohne Fernseher und Handy. Es bewusst still werden lassen um sich herum. Um zu hören, was innen ist, wenn nichts außen ist. Was für Virginia Woolf Traum war, ist für viele in unserer dauerdigitalen Zeit zum Alptraum geworden:
Notwendige Vorbedingung
Dabei ist das Herstellen eines solchen Zustandes der Stille geradezu die Vorbedingung, es in der Seele „Wüste“ werden zu lassen und empfangsbereit zu werden für die vollkommene Leere, die am Anfang aller Schöpfung Gottes stand und die sich in der Erfahrung Jesu individuell ereignet. Wüste ist also gleichbedeutend mit Neuanfang. Besinnung auf innere „Wüste und Leere“ ist notwendige Vorbedingung, um die Seele atmen und weit werden zu lassen und das wirklich Notwendige, was wir zum Leben benötigen, überhaupt wieder zu spüren. Wüste als eigengeartete Vollkommenheitsorte des Nichts, innen wie außen, als notwendige Vorbedingung zur reiferen Menschwerdung.
Aber es muss ja nicht immer sofort die Wüste in ihrer ganzen Totalität sein. Ausreichend sind oft schon Wüstenerfahrungen. Hier wird jede und jeder seine eigenen, ganz subjektiven Erfahrungen haben mit der inneren wie äußeren Wüste. Ein glücklicher Mensch, wer sich der Wüste Schritt für Schritt, in seinem eigenen Tempo, immer mal in zu verkraftbaren Häppchen, nähern und ihr nachspüren kann. Was aber, wenn die Wüste nun nicht wartet, bis sie von dem nach Sinn suchenden Individuum unserer Zeit in aller Ruhe gefunden wird? Was, wenn sich die Wüste selbst aufmacht und zu uns Menschen kommt?
Für den Gott liebenden, der Institution Kirche zugeneigten Menschen unserer Zeit ist die fortschreitende Säkularisierung, insbesondere in Europa und im Osten Deutschlands eine dieser Wüstenerfahrungen, die nicht selbst gewählt, sondern der wir ausgesetzt sind. Säkularisierung, demographische Entwicklung, Individualisierung [7] im Sinne digitaler Vereinsamung, die voranschreitende Gott- und Wertelosigkeit unserer westlichen Konsumgesellschaften – das sind „immaterielle Werte-Wüsten“, die sich als soziologische Metaphänomene der Moderne scheinbar von selbst auf den Weg zu uns machen, die uns Rahmenbedingungen aufzwingen und zu Veränderungen nötigen, für die wir noch gar nicht bereit sind oder sein wollen; die wir uns jedenfalls nicht selbst gesucht haben.
„… bis ins dritte und vierte Glied“
Denn zusätzlich zu allen säkularen Anmutungen wissen wir als Kirche und Diakonie spätestens seit der von der EKD, den Gliedkirchen und der Diakonie in Auftrag gegebenen FORUM-Studie, was es heißt, dass Gott „die Missetaten der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied“ (2.Mose 20, 5). Die sexualisierte Gewalt, die Frauen, Kindern und Jugendlichen zumeist durch männliche Täter in Pfarrhäusern, Rüstzeitheimen, Kindergärten und diakonischen Einrichtungen der Pflege und Behindertenhilfe von Diakonie und Kirche angetan wurde und wird, zerstört Leben und schreit zum Himmel. Diese Gewalttaten haben das bestehende Vertrauen in die Institutionen von Kirche wie Diakonie zutiefst erschüttert. Das wiegt umso schwerer, als gerade Kirche und Diakonie als Institutionen dafürstehen, Schutzräume und Vertrauen zu bieten. Auch dieser so wichtige und notwendige Prozess, den wir als Leitende in Diakonie und Kirche mit der FORUM-Studie angestoßen haben, mit den Betroffenen gemeinsam aufarbeiten und in Prävention investieren, um unsere Institutionen sicherer zu machen – auch dieser Prozess ist eine Wüstenerfahrung für jede und jeden, der seine und ihre Kirche und Diakonie liebt – für die Betroffenen zuallererst, denen tiefer Respekt gebührt. Denn neben diesen tiefen Schatten geschieht auch so viel Licht – in Diakonie wie in der Kirche.
Das Bild der Wüste ist also für den Menschen im Ergebnis doppelt konnotiert: Denn die biblische Erzählung wendet das Bild der Wüste weg von einem lebensfeindlichen Ort hin zu einem Ort immenser Kraft und Erneuerung, der Hoffnung und Verheißung: Wer in die Wüste gerät und sie überlebt, so die jesuanische Aussage, sieht sich und die Welt anders und wird im Besten Sinne „neu“.
III. Die Wüste für die evangelische Kirche als Institution
Wie ist das Bild der Wüste nun zu wenden für die evangelische Kirche als Institution? Ein wenig scheint es zu sein wie mit des Pharaos Traum der sieben fetten und sieben mageren Kühe und Ähren (1 Mose 41), die kommen werden über Ägyptenland und die mageren Kühe werden die fetten Kühe „fressen“ (1. Mose 41, 4) gleich wie die mageren Ähren die fetten Ähren „verschlingen“ werden (1. Mose 41,7). Auch diese Weissagung suchte sich Pharao nicht aus – es war eine Wüstenerfahrung - auch für ihn. Der Rat des Josef? Pharao solle „alle Speise der guten Jahre“ sammeln, die in den fetten Jahren kommen werde, „auf dass man Speise verordnet finde dem Lande in den sieben teuren Jahren, die über Ägyptenland kommen werden, dass nicht das Land vor Hunger verderbe“ (1 Mose 41, 35 f.). Und Pharao versteht. Er vertraut Josef, lässt ihn die Speise sammeln in den guten Jahren, und Ägypten überstand die kommende Hungersnot.
Dritte Orte schaffen
Nun ist die Speise und das Korn zu sammeln im physischen Sinne für die Institution Kirche natürlich erst einmal einfach. Es heißt schlicht: fortentwickeln , was bereits in allen evangelischen Landeskirchen getan wird: protestantische Mehrheiten finden in Synoden, Kirchenleitungen und Konsistorien für die behutsame Umnutzung und Neujustierung der kirchlichen Gebäude und Kirchen; effiziente, einheitliche und schlanke Verwaltungsstrukturen schaffen und prozessorientiert die Digitalisierung besser heute als morgen endlich voranbringen ,,verantwortliches Wirtschaften mit den anvertrauten finanziellen Mitteln, theologisches Personal so gut als möglich von Verwaltungsaufgaben entlasten, rechtliche Ermöglichungsstrukturen für theologische Erprobungsräume und dritte Orte schaffen, die Glauben neu erfahrbar machen und die ethisch-geistliche Perspektive evangelischer Wortverkündigung in den öffentlichen Diskurs der Zivilgesellschaft wie in diakonischer Perspektive dauerhaft einbringen durch Beratungs- und Pflegedienste wie auch bspw. In der Krankenhaus-, Militär- und Gefängnisseelsorge. Daneben fragt sich, was mit „Speise“ im psychischen, immateriellen und theologischen Sinne gemeint ist und wie hier eine für nachfolgende Generationen substantielle Rücklage für magere Jahre der fortschreitenden Säkularisierung gelingen kann, ohne dass es sich um ein reines „Haschen nach Wind“ (Pred 1, 14) handelt. An dieser Stelle ist ein Hören auf die mit 40 langen Jahren Erfahrung des Evangelisch-Seins in einer „Kirche im Sozialismus“[8] ausgestatteten ostdeutschen Landeskirchen von unschätzbarem Wert.
Denn hier liegen Schätze vergraben, die erzählen von spezifisch protestantischer theologisch-geistlicher Resilienz, Wehr- und Standhaftigkeit, Leiden und Widerstand. Es sind Schätze, die die ostdeutschen evangelischen Landeskirchen gemeinsam im Bund evangelischer Kirchen in der DDR dem als übermächtig erlebten, sich klar als atheistisch, weil marxistisch-leninistisch verstehenden Weltanschauungsstaat in jedem Jahr des Bestehens der DDR abgerungen haben. Es sind auch deshalb und für uns heute Schätze, weil hier 40 Jahre lang erprobt werden konnte, was theologisch und kirchenrechtlich trägt, wenn um die evangelische Kirche und Diakonie der Wüstenwind stark weht. Ob diese Wüste nun atheistischer sozialistischer Weltanschauungsstaat des Marxismus-Leninismus in der DDR heißt oder schlicht Säkularisierung und Gleichgültigkeit der Spätmoderne, kommt dann fast auf dasselbe heraus.
Evangelisches Kirchenrecht kommt hier zu schönster Blüte: Denn hier, in den Verfassungen der jeweiligen evangelischen Landeskirchen, ist grundgelegt und hat den Sozialismus marxistisch-leninistischer Prägung als Freiheitsversprechen 40 Jahre überdauert und bewahrt, was evangelische Kirche im Innersten zusammenhält: Nach lutherischen Kirchenverständnis ist das Wesen der Kirche allein von ihrer Funktion bestimmt, im Sinne der Confessio Augustana (CA 7) ist Kirche dort, wo „das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente gemäß dem Evangelium gereicht werden“ [9]. Dazu kommen Priestertum aller Gläubigen und – damit das Sich-Berufen-Fühlen aller Glaubenden nicht zu kirchenrechtlichem Chaos führt – die ordnungsgemäße Berufung des Verkündigungsdienstes durch geordnete Sakramentsverwaltung und Ausbildung einer gut funktionierenden kirchlichen Verwaltung. [10] Dazu kommt in der reformierten Ekklesiologie das Gemeindeprinzip als maßgebliches Rechts- und Gestaltungsprinzip der reformierten Kirchen, welches von dem Kollegialorgan des Presbyteriums alle kirchenleitenden Funktionen und Ämter ableitet. Alle Dienste, ob in Verkündigung oder Lehre, in Diakonie oder Kirchenmusik, in der Leitung oder der Verwaltung, sind Entfaltungen des einen Amtes, die in Christus geschehene Versöhnung Gottes mit der Welt zu bezeugen und zur Versöhnung mit Gott zu rufen, so sagt es bspw. die Grundordnung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische-Oberlausitz .[11]
Minimum an Zentralisierung
Evangelisches Kirchenrecht [12], metaphorisch verstanden, trägt also, den wüstentauglichen Tragesystemen einer Karawane gleich, praktiziertes Christentum mit hindurch durch alle Arten von Wüstenerfahrungen – sofern es gemeinschaftlich gesetzt, überlegt und die Kenntnis desselben unter allen Mitarbeitenden in Diakonie und Kirche akzeptiert, verbreitet und gelebt wird.
Aufgabe kirchlicher Verwaltung und kirchenrechtlicher Leitung ist es, Rahmenbedingungen guten Arbeitens für Haupt- und Ehrenamt zu schaffen und die Parameter transparent zu machen, unter denen sich diese Rahmenbedingungen vollziehen. Das dient dem Ziel, Pfarrerinnen und Pfarrern so weit wie möglich von Verwaltungsaufgaben zu entlasten, damit diese geistlich wirken können. Das setzt ein Minimum an Zentralisierung und Durchgriffsrechten der obersten Verwaltungsbehörde voraus sowie die innerevangelische Rückbesinnung auf die Einsicht, dass eine auf Vertrauen gegründete Arbeitsteilung zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen in der Kirche Tätigen eine gute Sache ist.
Die Institutionen Kirche und Diakonie müssen die Säkularisierungstendenzen der Gesellschaft, denen die Glaubenden wie die Nichtglaubenden ausgesetzt sind, anerkennen ohne sie nur blind bekämpfen zu wollen: Wer in der momentanen Säkularisierungswüste geistlich überleben will, hat seinen Hegel, Feuerbach, Karl Marx, Nietzsche und ggf. Freud gelesen und verdaut. Gott als Fata Morgana der eigenen Wünsche, des unterdrückten Aggressions- und Lustpotentials, der menschlichen Unfähigkeit und Angst vor der eigenen Sterblichkeit. Es sind notwendige intellektuelle und emotionale Wüstenerfahrungen, Gott-ist-tot-Erfahrungen, denen man sich aussetzen muss, bevor Gott wieder lebendig werden kann im eigenen Herzen.
Expedition in die Wüste
Ob und in welcher Form Gott erwacht, ist eine (Neu-)schöpfung des Geistes aus dem Nichts. Andere Menschen und die Institutionen Kirche und Diakonie können nur helfen, des Geistes Sprache und Spuren lesen zu lernen. Dies kann ein langer Weg sein, aber er muss in Freiheit und im jeweiligen Tempo jedes einzelnen Glaubenden gegangen werden. Gerade deshalb, weil glauben im spätmodernen, säkularisierten Europa heute eher einer Expedition in die Wüste gleicht als dem Wohlgefühl, mit Gott an der Seite die höchstmögliche Versicherung des Lebens abgeschlossen zu haben.
IV. Konkretionen
1. Aufgabe der Institution Kirche wie des Kirchenrechtes ist es, gute Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich all das geistlich an Bewegung vollziehen kann, was wir brauchen, um unsere geistlichen Speicher zu füllen für die Zukunft der wüsten Zeiten in der Kirche. Dazu ist eine leistungsfähige kirchliche Verwaltung auf allen Ebenen unverzichtbar. Daher gilt theologisch zwar: Soviel Einheit wie nötig, soviel Vielfalt wie möglich. Kirchenverwaltungsrechtlich gilt jedoch das Gegenteil: Soviel Einheit wie möglich, soviel Vielfalt wie nötig. Das eine schließt das andere nicht aus, sondern befruchtet sich gegenseitig.
2. Kirche und Diakonie können und müssen sich erlauben, weiter groß von Gott zu denken: Religion ist mehr als individuelle Krisenbewältigung und Vertreibung der Angst vor dem eigenen Tod. Vielmehr geht es um aufgeklärte, wüstenerprobte Gotteserfahrung. Das heißt, sich in Gemeinschaft üben, in Kirchengemeinde wie in der Welt, wider die (digitale) Einsamkeit. Glaubhaft sein als Kirche und Glaubwürdigkeit ihrer Repräsentanten sind dafür Voraussetzung. Die Bibel als „Heilige Schrift“ zerrieselt zu Sand, der durch die Finger rinnt, wenn die Heiligkeit der Schrift sich nicht in der eigenen Erfahrung zur Welt widerspiegelt und als praktisches Wissen vom Leben ins eigene Leben kommt. Glauben ist reale Erfahrung, die auch (notwendiger) kritischer Reflexion standhält. So sollte auch gepredigt und sich gesellschaftlich engagiert werden.
3. Gottes Sprache und Spuren lesen zu lernen, sollte von Pfarrerinnen und Pfarrern begleitet werden, die sich selbst den Verlusten der Spätmoderne auseinandergesetzt haben und die die Zeit finden, sich solchen – oft langwierigen geistigen Begleitprozessen von suchenden Menschen - zur Verfügung zu stellen. Zukünftig wird es weniger um parochiale Abgrenzungen gehen als darum, dass es geistliche Resilienzorte und Persönlichkeiten gibt, denen sich anvertraut werden kann, weil sie Näheerfahrungen, die in solchen Prozessen unvermeidlich sind, nicht egoistisch ausnutzen, sondern ihre inneren und äußeren Wüstenerfahrungen mit anderen teilen, um in der Spätmoderne gelingendes Leben zu ermöglichen.
4. Auch die Diakonie, wo existentielle Fragen nach dem Grund von Sinn und Hoffnung intensiv und konkret eine Rolle spielen, könnte noch mehr als bisher ein „Erfahrungsraum“ für die Spätmoderne sein, in dem beispielhaft fühlbar wird, wie Menschen Verluste annehmen und lebensdienlich verschmerzen. Dass es viele Menschen gibt, die es für unvernünftig halten, an Gott zu glauben, spricht nicht dagegen. Schon Seneca wusste, dass sich „als ganz schlecht erweist…, worum man sich drängt“ und dass nichts uns in „größeres Unheil geraten“ lässt als „dass wir uns nach dem Gerede der Leute richten und für das beste halten, was mit lauter Zustimmung aufgenommen wird“[13]. Jede und jeder wird es für sich anders formulieren, was er in der Wüste seines je eigenen Herzens findet und fand. Sich mit geistlicher Begleitung der Stille stellen ist verheißungsvoll. Jedenfalls verheißt dieser Weg, ein lebendigeres Leben und eine einzigartige Intensivierung von Glauben Lieben und Hoffen zu erleben.
5. Insofern ist die Spätmoderne eine Begegnung mit dem Geist Gottes, nicht nur in ihren kulturellen Gewinnen, sondern gerade auch in ihren Verlusterfahrungen. Als Individuen und als Kirche werden wir in sie hinein- und durchgeführt, ob wir wollen oder nicht. Es ist eine Chance!
[1] Antoine de Saint-Exupéry, Wind, Sand und Stern, Berlin 1971, 3. Aufl.; S. 58.
[2] Andreas Reckwitz, Verlust. Ein Grundproblem der Moderne, Berlin 2024, 2.Aufl., bes. S.273-282, S.274.
[3] Hartmut Rosa, Titel: Hartmut Rosa; Unverfügbarkeit, Suhrkamp 2020 1. Aufl., S.67 f.
[4] Peter Sloterdijk, Sphären. Mikrosphärologie. Band 1, Frankfurt am Main 2000, 5. Aufl., S.597.
[5] Vgl. Harmut Rosa a.a.O. S. 37-47 und S. 113 sowie Andreas Reckwitz a.a.O. S. 423 in Bezug auf Siegmund Freuds Schrift: Das Ich und das Es. Dort auch die Literaturangaben.
[6] Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein, 1978, Gerhardt Verlag, Berlin.
[7] A. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 6. Aufl. 2018.
[8] Zum Bund Evangelischer Kirchen in der DDR (BEK) und der Formulierung der „Kirche im Sozialismus“: V. Vogel, Abgestorben? Religionsrecht der DDR und der Volksrepublik Polen, Jus Ecclesiasticum Bd. 111, S. 226 ff. (240 ff.).
[9] N. Slenczka, Die Augsburger Konfession, in: Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) (Hg.), Unser Glaube, Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 6. Aufl., 2013, S. 50; s. auch I. Nummer 6 „Von Schrift und Bekenntnis“ der Grundordnung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vom 21/24.11.2003, zuletzt geändert durch Kirchengesetz vom 20. April 2024 (KABl. Nr. 59 S. 118), im Folgenden: Grundordnung EKBO.
[10] Zum ordinierten Amt: W. Härle, Kirche VII, dogmatisch, TRE Bd. 18, S. 299 ff.; Zum Auftrag der Kirche: ders., Kirche VII, dogmatisch, TRE Bd. 18, S. 293 ff.; zum Ganzen: D. Konrad, Der Rang und die grundlegende Bedeutung des Kirchenrechts im Verständnis der evangelischen und katholischen Kirche, Jus Ecclesiasticum, Bd. 93, 2010, S. 180 ff.
[11] II. Nr. 2 Grundordnung EKBO.
[12] H. Munsonius, Kirchenrecht, in: H.M.Heinig/J. Reisgies (Hg.), 100 Begriffe aus dem evangelischen Kirchenrecht, 2019, S. 116 ff.
[13] Gerhard Fink, Annaeus Seneca, Die kleinen Dialoge, Bd. I und II, Das glückliche Leben (De vita beata), 72 ff., Sammlung Tusculum, Artemis & Winkler, München 1992, in: ders., Wie man Schweres leichter trägt, Seneca für Gestreßte, Insel Verlag, 3. Aufl. 2023, S. 24 f.
Dietrich Bauer
Dietrich Bauer ist Oberkirchenrat und Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werks der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens.
Viola Vogel
Dr. Viola Vogel ist Konsistorialpräsidentin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.