„Kopf hoch, SPD!“

Warum sich die Sozialdemokratie nicht grämen darf
Foto: privat

Mit dem historisch schlechtesten Ergebnis bei einer Bundestagswahl von nur 16,4 Prozent bei der Wahl von Sonntag müssen die Sozialdemokrat:innen erst mal klar kommen. Vielleicht ne Runde spazieren gehen? Oder old school eine Flasche Wein und eine Mahler-Sinfonie? Oder ein Bier mit Genoss:innen und dabei proletarisches Liedgut (Roland Kaiser oder Arbeiterlieder) hören? Ein bisschen Trauerarbeit ist wohl angesagt. Doch mit dem Selbstmitleid sollten es die Genossinnen nicht übertreiben. Vom Wahlergebnis der SPD geht die Welt nicht unter. Vielmehr geht es in Deutschland und der Welt gerade derart hoch her, dass sie SPD überhaupt keine Zeit zu verschwenden hat, wieder klar Schiff zu machen. 

Was liegt Tröstliches vor: Erstens sind historische Vergleiche zwar eine schöne Fingerübung für Moderator:innen, die an Wahlabenden Grafiken auf ihren Bildschirmwänden hin und her schieben, aber für die Gegenwart und Zukunft sind sie nur von begrenztem Interesse. Ihr Unterhaltungswert übersteigt den praktischen Nutzen. Die Welt und das Land haben sich seit Bismarcks Zeiten, seit Adenauer, Brandt und auch Schröder und Merkel reichlich gewandelt.

Vergleiche hinken

Heute gilt als „Wahlsieger“, wer an die 30 Prozent der Wähler:innenstimmen auf sich vereinen kann. Da heulen Adenauer, Strauß aber auch die Hamburger SPD, die am Sonntag auf 32 Prozent „abrutschen“ könnte, leise in die Kissen, aber es ist schlicht Normalität in unserer pluralen Demokratie, in der unterschiedliche politische Interessen und Milieus sich eben in einer Vielfalt von Parteien ausdrücken, die gemessen an ihren tatsächlichen Wahlergebnissen an der parlamentarischen Arbeit teilhaben dürfen.

Ebenso wie mit den historischen Vergleichen verhält es sich häufig auch mit den Gewinn- und Verlustrechnungen am Wahltag, insofern sie einfach mal 4 Jahre zurückspringen und die Entwicklung seither (bei anderen Wahlen, aber auch im Zeitgeschehen) unsichtbar machen. Da kann man wunderbar feuilletonieren! Tatsache ist, dass die SPD bei der Bundestagswahl 2021 überraschend sehr gut abgeschnitten hatte, auch und besonders im Osten dank Mindestlohnversprechen, seriösem Kanzlerkandidaten und dem Thema Gerechtigkeit als zentralem Wahlkampfthema. Nach dem friedlichen Ende der Ära Merkel war die Lust auf die Union merklich geschwunden, auch dank einiger Skandale von Unionspolitikern. 

Doch auch damals reichte es gerade so für 25,1 % und einen faktischen Gleichstand mit der Union. Es ist über den ganzen lästigen Ampel-Ärger längst in Vergessenheit geraten, dass sich Grüne und FDP zunächst in eine bilateralen Sondierung begaben und sich schließlich für die SPD und gegen einen Jamaika-Versuch mit der Union entschieden. Nach dem gerade eben zu Ende gegangenen Wahlkampf, in dem sich Grüne und FDP sichtlich nach der Union ausstreckten, muss man sich das wirklich aktiv in Erinnerung rufen.

Die Ampel stand auf Rot

Von dem hohen Ross von 2021, das so hoch nun eben gar nicht wahr, musste die SPD nach dieser Regierungsperformance wieder heruntersteigen. Dazu reicht schon ein Blick auf die Erfolgsfaktoren von damals: 

Das Mindestlohnversprechen hat die Sozialdemokratie gehalten, aber de facto ist die wirtschaftliche und soziale Lage aufgrund zahlreicher äußerer Faktoren heute unsicherer als damals. Hervorzuheben ist natürlich der Ukraine-Krieg als „Mutter aller Probleme“, an denen die Ampel schließlich scheiterte. Die Waffenhilfe für die Ukraine, die Sorge um die Flüchtlinge, die Inflationsbekämpfung und die beschleunigte Energiewende aber fraßen die Mittel auf, die vor allem SPD und Grüne gerne anderweitig unters Volks gebracht hätten. Olaf Scholz löste sein Führungsversprechen, das bei den zur Autoritätshörigkeit neigenden Deutschen gut verfangen hatte, viel zu selten ein. 

Zum Schluss hat die von der AfD angezettelte und von der Union in fast vollständiger geistiger Umnachtung vorangetriebene Migrationsdebatte – wie zu erwarten war – nur der extremen Rechten geholfen. Die Unzufriedenheit der Progressiven im Lande mit der Unfähigkeit von SPD und Grünen, dem Wahlkampf einen anderen Dreh zu geben, und ihrer bis an die Selbstverleugnung reichenden Kompromissfähigkeit nicht nur in der Migrationspolitik fand schließlich zum Urnengang ein Ventil in der Entscheidung für die Partei DIE LINKE. Außer den Protestant:innen, die tapfer überdurchschnittlich SPD wählten (20 Prozent immerhin), und den ganz feste hoffenden Genoss:innen wollte zum Schluss kaum jemand der „alten Tante“ die Treue halten.

Eine toxische Beziehung

Man könnte die Liste der Kalamitäten, Missgeschicke, historisch unglücklichen Konstellationen, Fehler und stilistisch fragwürdigen Entscheidungen wohl noch lange fortsetzen. Der Wahlkampf und seine Vorgeschichte jedenfalls waren für die SPD nichts anderes als ein katastrophaler perfect storm, dem zu widerstehen nur wenigen politischen Ausnahmetalenten zuzutrauen wäre. Mit denen ist die SPD allerdings nach zwölf (!) Regierungsjahren ganz sicher nicht im ausreichenden Maße gesegnet. 

Die Deutschen und die SPD haben eine komplizierte Beziehung, die gelegentlich ins Toxische zu kippen droht. Stets pendelt sie zwischen Zuneigung, bodenloser Enttäuschung, Bestrafung und erneuter Anhänglichkeit. Tatsächlich kann man wohl an keiner anderen Partei die Gemütslage der Bevölkerung dieses Landes besser ablesen. An der SPD kann man sich richtiggehend ausagieren. Oder anders: Weil ihre traditionellen Milieus längst verschwunden sind, ist die SPD so abhängig von der Stimmung wie kaum eine andere Partei. 

Die Stimmung maßgeblich zu beeinflussen, wie es die AfD vermag, gelingt der SPD schon etwas länger nicht mehr. Während sich nicht wenige Grüne-Anhänger in eine para-soziale Beziehung mit ihren Spitzenpolitiker:innen begeben und rechts der Mitte bei Union und FDP dem Mackerkult gehuldigt wird, stehen SPD-Politiker:innen als Sandsäcke zum Abreagieren stets bereit. Gelegentlich tut es einfach gut, die SPD stellvertretend für das Land leiden zu sehen. An Programm, Strategie, Medienarbeit und Personal muss also sicher gearbeitet werden.

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität

Nun aber die Zukunft: Vom Prinzip her ist jeder denkende Mensch Sozialdemokrat:in. In einer Welt der Oligarchen braucht es mehr Gerechtigkeit. Die sicherheits- und klimapolitischen Reformen müssen sozialverträglich gestaltet werden, sonst wird uns allen der Laden um die Ohren fliegen. Die Demokratie und die Republik müssen gegen Autoritarismus und Rechtsextremismus verteidigt werden. Und wenn Personalangebot, Schwerpunktsetzung, Stimmung und Lage passen, dann wird die SPD auch wieder an den Wahlurnen reüssieren. 

Die SPD ist tief verwurzelt in Kommunen und Ländern, sie ist sturmgefestigt und historisch (!) unverwüstlich. Wenn es dunkel wird, kann man auf Sozialdemokrat:innen zählen. Wäre gut, wenn der Zorn des Wahlvolks uns bis dahin noch eine SPD übrig gelassen hat. 

Natürlich muss die SPD die Wahlniederlage „aufarbeiten“, einen „Generationenwechsel“ einläuten und „sich neu aufstellen“ (obwohl man Ottmar Schreiner und Regine Hildebrandt wohl kaum wird auferwecken können). Die SPD wird das alles aber en passant erledigen müssen, denn sie wird gebraucht! Tröstlich: Aus der Trauerarbeit wissen wir, dass das tätige Tun gelegentlich hilfreicher ist als die grüblerische Ruhe.

Hoffnungsträger Sozialdemokratie

Angesichts der dräuenden Kanzlerschaft von Friedrich Merz und einer Union, die während des Wahlkampfs vom süßen Trank des Rechtspopulismus nicht nur ein bisschen gekostet hat, liegen die Hoffnungen der Republik – wieder einmal – auf der Sozialdemokratie. 

Die SPD muss aus dem werdenden Koalitionsvertrag den Rödderschen Kulturkampf rausverhandeln, Linnemanns und Merzens fossilen Träume platzen lassen, Flüchtlinge, Migrant:innen, wirtschaftlich Schwache und LGBTQI+ verteidigen. Sie muss den starken Staat zu Gunsten derjenigen, die seinen Schutz brauchen, vor Wirtschaftsinteressen bewahren. Sie muss die demokratische Zivilgesellschaft aus der Regierung heraus unterstützen. Sie muss für die europäische Gemeinschaft, die internationale Zusammenarbeit und das Völkerrecht eintreten, wo der Bierzelt-Patriotismus der Konservativen marodiert. Sie muss den Faschismus schlagen, wo sie ihn trifft.

 

PS: Dies war meine 50. zeitzeichen-Kolumne. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön allen Leser:innen, die immer wieder aufmerksam und kritisch lesen, was ich hier zusammenschreibe, und Reinhard Mawick und Stephan Kosch für das wohlwollende Lektorat!

 

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