Lob der Hürde

Am Tag danach ist klar: Die CDU/CSU können mit der SPD eine Regierungskoalition bilden – zu zweit, der Fünfprozenthürde sei Dank. Und was heißt das Ergebnis für die Kirchen, die zuletzt Stress mit der Union hatten? Notizen von zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick zur gestrigen Bundestagswahl.
Vielen wird spätestens heute Morgen ein Stein vom Herzen gefallen sein, als man gewahr wurde, dass das Bündnis Sahra Wagenknecht – kurz BSW – es nicht vermocht hatte, die Fünfprozenthürde zu überwinden. Sehr knapp und hauchdünn bleibt dem neuen Bundestag die Fraktion der Linken-Abtrünnigen erspart. Ob Sahra Wagenknecht weiter Lust hat, der nach ihr benannten Kaderpartei vorzustehen, wird sich zeigen. Auf jeden Fall kann mit der Wahlkampfkostenerstattung für die 4,97 Prozent der Wählerstimmen noch das ein oder andere angestellt werden.
Auch die FDP ist zum zweiten Mal nach 2013 aus dem Bundestag herausgeflogen und zwar am BSW-Ergebnis gemessen mit nur 4,3 Prozent der Stimmen hochkant. Die politische Karriere von Christian Lindner ist vorerst vorbei. Man darf gespannt, wo der 45-Jährige in Zukunft auftaucht oder ob er in der Tat als werdender Vater eine Weile ins Privatleben verschwindet. Möglicherweise werden wir ihm in einigen Jahren als „Merz redivivus der FDP“ begegnen, sollten die Liberalen ohne ihn nicht wieder auf die Füße kommen.
Das wichtigste Ergebnis für Wahlsieger CDU/CSU und den Wahlverlierer SPD ist jedenfalls, dass sie mit einer knappen Mehrheit (12 Stimmen) in einer Zweierkoalition regieren können. Ja, und man wird soweit gehen, dass es sogar alternativlos erscheint, wenn die CDU nicht allen Schwüren von Friedrich Merz zum Trotz ein Bündnis mit der AfD doch anstrebt. Aber dafür fehlt in der Tat – gottlob! – die Vorstellungskraft.
„Her mit dem guten Leben“
Neben dem Scheitern von FDP und BSW ist das außerordentlich robuste Abschneiden der Linken bemerkenswert. In den vergangenen Wochen punktete die Linkspartei mit den beiden fröhlich-angriffslustigen Spitzenleuten Heidi Reichinnek und Jan van Aken – besonders bei jungen Menschen. 8,8 Prozent der Stimmen sind ein Wert, den noch Anfang des Jahres niemand für möglich gehalten hatte. Aber angesichts der Entwicklung der SPD und der Grünen gab es zunehmend eine Nachfrage nach einer linken Partei, deren Forderungen sich darauf fokussieren, dass „die Reichen“ alles bezahlen und zwar besonders das „gute Leben“ aller, das die Linke auf ihren Wahlplakaten forderte („Her mit dem guten Leben"). SPD oder gar die Grünen konnten soziale Themen nicht mehr glaubhaft vermitteln, zumal sie sich in den letzten Wochen des Wahlkampfes von der Abschiebehysterie der Union anstecken ließen.
Die Inkaufnahme von AfD-Stimmen bei den umstrittenen Abstimmungen im Bundestag am 29. und 31. Januar durch die CDU hatte wohl über Bande Wirkungen besonders auf die Grünen und die SPD: Erstere jedenfalls beklagten ihr nicht katastrophales, aber mit 11,6 Prozent doch recht mäßiges Ergebnis damit, dass engagierte Wählerinnen und Wähler zur Linken abgewandert seien und zwar nur aus dem Grund, weil die Grünen ihrerseits trotz dieses Sündenfalls nicht ausschließen wollten, mit der Union zu koalieren. Haltung ist eben wichtig, besonders bei Linken, und historische Lasten, die sich aus der ungebrochenen Traditionslinie der Linken zur SED ergeben, verlieren sich zunehmend im Nebel der Geschichte und scheinen zumindest für Menschen unter 40 keinerlei Relevanz mehr zu haben.
Wortgleich schon im Oktober
Inwieweit der kurz vor den Wahlen aufgepoppte Konflikt zwischen den Kirchen und der Union noch weiter schwelt, wird sich zeigen. Die Bevollmächtigte der EKD bei der Bundesregierung, Prälatin Anne Gidion, hatte gemeinsam mit ihrem katholischen Kollegen Karl Jüsten eine inhaltliche Stellungnahme zum so genannten – horribile dictu! – Zustrombegrenzungsgesetz abgegeben, in jener letzten Januarwoche, bevor es die Union im Bundestag zur Abstimmung stellte und dabei Stimmen der AfD in Kauf nahm. Detaillierte Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben des Bundes sind die Aufgabe der beiden kirchlichen Büros in Berlin, dafür arbeiten dort ausgewiesene Fachleute. So weit, so gut. Die inhaltliche Kritik an dem Gesetz hatten die Kirchen wortgleich bereits im Oktober geäußert, als das Gesetz ja schon mal aufgelegt worden war und zwar von der Bundesregierung, aber aufgrund ampelinterner Querelen nicht zur Abstimmung gelangte – damals natürlich von der Öffentlichkeit völlig unbeachtet.
Im Januar neu und sehr umstritten war aber der Begleitbrief, in dem Gidion und Jüsten davor warnten, das Gesetz mit Stimmen der AfD zu verabschieden, denn die „deutsche Demokratie“ könnte ansonsten „massiven Schaden“ nehmen. Besonders in die öffentliche Wahrnehmung gerückt wurde das dann noch von Bundeskanzler Scholz, der im Bundestag der Union vorwarf, dass „selbst die Kirchen“ ihren Kurs kritisierten. Daraufhin regte sich Unmut auf Seiten der Union und auch in kirchlichen Kreisen, die die Dinge anders sehen als die beiden Kirchendiplomaten. „Die Kirchen“ würden gut daran tun, die „wenigen verbliebenen Konservativen nicht zu verjagen“, sondern im „Resonanzraum“ der Kirche zu halten, schrieb Militärdekan Roger Mielke dazu kürzlich auf zeitzeichen.net und hatte eine „Galoppierende Entfremdung“ diagnostiziert.
Stimmt das? Nun, diese konservative Klage ist ein Dauerbrenner seit Jahrzehnten. Seit sich Synoden und Kirchenleitungen, spätestens beginnend mit den mentalen Umwälzungen nach 1968, deutlich progressiver und politisch linker aufstellen, fühlen sich Konservative zuweilen wie ein verschmähter heiliger Rest inmitten meist politisch anders positionierter Synoden und Kirchenleitungen. Zuletzt fiel das auf, als konservative, sprich unionsnahe Stimmen auf der EKD-Synode im vergangenen Herbst in Würzburg auf das Schwerpunktthema Migration nur als Minderheitsgruppe reagierten, es aber nicht inhaltlich mitgestalteten (vergleiche „Nächstenliebe und Nüchternheit“).
Eindeutiges Material
Doch generell darf man sagen, dass das Maulen der Konservativen wohlfeil erscheint. Erstens sind die Mehrheiten in Synoden nun mal so, wie sie sind. Wer das ändern will, müsste sich gremial engagieren. Zweitens aber – und das ist gewichtiger – kann man doch nicht leugnen, dass die biblische Tradition in Fragen von Flucht und Migration eindeutiges Material liefert, das sich nur um den Preis seiner erheblichen Verfälschung in eine generell restriktive Haltung gegenüber Migration umdeuten ließe. Mit dem „Stachel im Fleisch“, dass sich dies auch in realpolitischen Ratschlägen niederschlägt, müssen politisch Konservative in Bezug auf das öffentliche Reden ihrer Kirche also leben. Umgekehrt wissen die Aktiven in den Synoden genauso, dass in der „noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht“ (Barmen V) die weltliche Obrigkeit nicht alles biblisch Wünschenswerte in Gesetzesform gießen kann.
Dass die Kirchen nun plötzlich verstärkten Abschiebungen ihren Segen erteilen und sich dementsprechend äußern, ist unwahrscheinlich und die ersten Äußerungen der EKD-Ratsvorsitzenden Kirsten Fehrs bestätigen das. Bereits gestern Abend sagte sie dem Evangelischen Pressedienst erneut, dass „völkische Parolen und menschenverachtende Haltungen“ mit dem christlichen Glauben „nicht vereinbar seien“ und gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die neue Regierung die „politischen Rahmenbedingungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und ein weltoffenes Deutschland“ stärke, in dem „Menschenwürde und wechselseitiger Respekt zählen“. Dass sich dies nicht nur scharf gegen die AfD und ihre Remigrationsfantasien richtet, sondern auch gegen jene Kreise der Union, die zuweilen diese Redeweise übernehmen, versteht sich von selbst. Aber wie sollte es auch anders sein?
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.