Zum semantischen Grundeinkommen zählte der Begriff Verzicht in der Spätmoderne lange nicht, machte auf dem weiten Feld grüner Politik einen kräftig misslungenen Neustartversuch, hat seitdem Auftrittsverbot und taucht im Mundraum kaum auf. Verzicht? Das Wort bitte nicht. Das soll sich definitiv ändern, denn Jean-Pierre Wils will’s ganz entschieden „aus der Schmuddelecke unseres Vokabulars“ hervorholen, adrett reinigen und gesellschafts- und mehrheitsfähig machen, um in Zeiten von wackeligen Stapelkrisen sprachfähig zu werden und Hoffnung zu stiften – Hoffnung, nicht billigen Optimismus. „Optimismus grenzt nicht selten an Realitätsverweigerung. Hoffnung dagegen ist eine moralische Haltung, die nicht nur an die Veränderbarkeit der Wirklichkeit glaubt, sondern diese Veränderung auch unter schwierigen Umständen in Angriff nimmt.“
Der Essay arbeitet metaphernsatt und stilsicher zunächst und zumeist daran, die Realitätsverweigerung schonungslos aufzuarbeiten, damit Hoffnung Raum greifen kann. Das nimmt sehr zurecht im Essay großen Platz ein. Wils arbeitet mit Krankheitsbildern: Er attestiert Adipositas oder „übergewichtiges Leben“ einerseits und eine „magersüchtige Freiheit“ andererseits. Der Titel macht es schlagend deutlich: „Radikale Hoffnung“ gibt es nur, wenn Verzicht und Freiheit verjocht werden. Als Warnung steht der von Hans Jonas schon vor Jahrzehnten ergangene Ruf nach einer sanften Ökodiktatur mit großen Lettern im Raum. Diese Gefahr muss vermieden werden. In einem zentralen Kapitel werden deshalb zunächst Fehldeutungen der Freiheit diskutiert: der Negativismus der Freiheit, der Naturalismus der Freiheit, die absolutistische Deutung der Freiheit. „Ein reichhaltiger Begriff von Freiheit wird deshalb mit Gleichheits- und Gerechtigkeitsannahmen ausgestattet werden müssen.“
Wils geht im Text viele Patenschaften ein und webt Freundschaftsbünde. Immer wieder taucht der Soziologe Hartmut Rosa auf, der sein Opus Magnum Resonanz als Antwort auf die Verschnellungs- und Steigerungsforderungen des modernen Kapitalismus entworfen hat. Auch Wils geht es wie Rosa um ein „steigerungsunabhängiges Leben“, auch er ist ein Anhänger der Verlangsamung. Ein zweiter im Bunde ist Otfried Höffe, der in seinem Essay Die hohe Kunst des Verzichts eine Kartographie von Verzichtsmustern erstellt, reichend vom Verzicht auf Willkürfreiheit durch politische Vertragstheorien, die Stabilität und Gemeinwohl versprechen, über temperierende Muster von Tugendethik bis hin zum Verzicht auf Panikmache, der die Rede von einer drohenden Apokalypse abpuffert. Als Dritter taucht das Stundenbuch des Romanautors und Dramatikers von John von Düffel auf: Das Wenige und das Wesentliche.
Markant auch, wie Wils die temporale Metaphorik – Sein und Zeit – zu einer spatialen Metaphorik – Sein und Raum – umbaut, im Duktus von Wils gesagt: Überlebensräume der Zukunft. Nicht zufällig plädiert Wils für eine Wiederbelebung der Almende (wie auch Höffe) und die Rücknahme der Privatisierung öffentlicher Güter wie etwa „Wohnen, Bildung, medizinische Versorgung und Pflege, Energie- und Wasserversorgung, nicht zuletzt ein bewohnbares Klima“.
Eine nachhaltige Revitalisierung des Verzichtsbegriffs wird künftig nur dann gelingen, wenn mit Verzicht auch positive subjektive Erfahrungen gemacht werden, die emotional spürbar freudig stimmen, die uns berühren und in die Weite führen. Der emotional turn und der body turn bieten sich als Theoriemodule an. Sodann: Empirische Bildungsforschung zeigt, dass Narrationen und daraus abgeleitete Narrative sowohl Bildung als auch Praxen befördern. Welches Großnarrativ, welches Universal, welche Erzählung kann zum Verzicht stimulieren?
Wils-Leserinnen und -Leser warten auf eine Antwort im nächsten Essay.
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.