Die eigene Familiengeschichte zu ergründen hat gegenwärtig auch hierzulande Konjunktur. Hape Kerkeling erforscht seine Ahnentafel, Caroline Peters verarbeitet die Geschichte ihrer Mutter, Annette Hildebrandt die ihrer Vorfahren in einem Roman, Anne Rabe und Ines Geipel Gewalterfahrungen in ihren Elternhäusern. Seitdem immer mehr klar wird, wie sehr die eigene Familie das soziale und auch politische Verhalten prägt, wächst das Interesse an solchen Darstellungen. Sibylle Plogstedt kannte ich bisher nur von der Schilderung ihrer politischen Haft in Prag 1969–1971, die sie als Westberliner Achtundsechziger erleben musste – eindrucksvoll beschrieben in Im Netz der Gedichte.
Mit dem reichlich sperrigen Untertitel „Vom Entdecken meiner unbekannten Großfamilie zwischen Riga, Königsberg, Prag und Berlin“ nimmt die 1945 in Berlin geborene Plogstedt geborene Gentzen die Leserschaft auf eine Reise mit, die bis nach Australien, in die USA und das 18. Jahrhundert führt. Allein das Register der erforschten Familie der Autorin umfasst zehn Seiten. Zwei Fotos und ein Briefkopf stehen am Anfang ihrer Erkundung: Als Erstes das Foto ihres Vaters Walter Fenske, das sie mit sechs Jahren entdeckte, dessen Geschichte sie aber erst Jahrzehnte später erfährt.
Im Mittelpunkt steht die Mutter Ilse Gentzen, verheiratete Plogstedt, die bis zu ihrem Tod im Jahre 2001 ihrer einzigen Tochter wesentliche Fragen nach ihrer Tätigkeit als Chefsekretärin hochrangiger SS- und Polizeigrößen in Bromberg und Riga mit Schweigen beantwortet hat (Schweigen statt Lügen?) – oder mit geheimnisvollen und unheimlichen Sätzen wie „Dann wäre alles nicht nötig gewesen." Beschwiegen werden in der Familie auch Schicksale von so genannten Tunichtguten, die nach Amerika auswandern müssen oder im Osten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg unterkommen.
Auch die Rolle des Großvaters Felix Gentzen während der Nazizeit lässt letztlich Fragen offen. So wie die rausgerissenen Bilder des SS-Mannes Werner Ostendorff aus Königsberg, wo die Gullydeckel noch die beste Orientierung über das alte Königsberg geben. Anschaulich schildert die Autorin ihre Kindheit in Berlin; als gelernte Soziologin vermittelt sie nicht nur hier überzeugend Bilder sozialer Verhältnisse in der Nachkriegszeit. Auch wenn sie über den wirtschaftlichen Aufstieg anderer Familienmitglieder vorderer Zeiten erzählt, etwa der Familie Wispler (Vorfahren der Großmutter Sophie) im Westen Deutschlands im 19. Jahrhundert, kann klar werden, woher Wirtschaftskraft über Generationen hinweg wachsen kann. Hier spielte übrigens das oben erwähnte zweite Foto eine große Rolle bei der Entschlüsselung, ebenso wie der oben genannte Briefkopf. Mit den Orten rücken uns auch die Zeiten näher: 2014 fährt Plogstedt mit einer Verwandten nach Riga und erinnert an den 23. August 1989, an dem zum 50-jährigen Jubiläum des unseligen Hitler-Stalin-Paktes mit einer Menschenkette durch das Baltikum diese ihren Freiheitswillen zum Ausdruck bringen.
Bei so einer breiten Familienaufstellung wundert es nicht, dass auch noch ein Stasi-IM auftaucht: Werner Ostendorff, ein Verwandter der Autorin in der DDR, der über die junge Sibylle in den 1960er-Jahren dem MfS wertvolle Hinweise gibt, bevor sie in Prag gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Petr Uhl verhaftet wird. Immerhin hat ihre Mutter ihr mit auf den Weg gegeben, nie mit einem Geheimdienst zusammenarbeiten zu sollen, so dass Sibylle allen Anwerbungsversuchen der Stasi widerstanden hat.
In die Bestsellerlisten wird dieses Buch vielleicht nicht gelangen, verdient hätte es das aber schon allein wegen der seelischen Anstrengung der Autorin, die Abgründe ihrer Familie zu erforschen und trotzdem am Ende „Zufriedenheit“ zu empfinden. „Du weißt viel mehr als alle anderen“, sagte ihr am Anfang der Recherche eine Psychotherapeutin. An diesem Wissen Anteil haben zu können, lässt auch zufriedene Leser zurück.
Joachim Goertz
Joachim Goertz ist Pfarrer der St. Bartholomäus Gemeinde in Berlin.