Die drei Stichworte Emotionalisierung – Moralisierung – Radikalisierung im Titel versprechen eine spannende Analyse unserer Gegenwartskultur. Und der auf eine vom Herausgeber initiierte Tagung zurückgehende Band enttäuscht entsprechende Erwartungen keineswegs; er ist im Gegenteil geeignet, sie noch zu übertreffen.
Neun Autoren und eine Autorin liefern hier wissenschaftlich fundierte und doch weithin verständlich geschriebene Beiträge, die jeweils auf ihre Weise die Ursachen für die schwierigen Prozesse zunehmender Spaltung und narzisstischer Überhebung in unserer Gesellschaft sorgfältig erhellen. Sie zeigen nicht nur die Brisanz der derzeitigen Gesamtentwicklung auf, sondern liefern mitunter auch konstruktive Ansätze zur Differenzierung und zur Korrektur ideologischer Fehlentwicklungen. Aufschlussreich und gründlich geht der Systematische Theologe Alexander Dietz einleitend auf die Grundbegriffe im Buchtitel und ihre inneren Zusammenhänge ein. Sein Überblicksbeitrag beleuchtet „aktuelle Fehlentwicklungen in Gesellschaft und Wissenschaft im Allgemeinen und in Kirche und Theologie im Besonderen“. Dass in der öffentlichen Kommunikation Meinungsunterschiede zunehmend emotional codiert und begrifflich inflationär aufgeladen werden, führt demnach immer öfter zu Verteufelungen Andersdenkender und beschleunigt die Demokratiekrise. Die Emotionalisierung der Diskurskultur münde in einen Absolutismus des Gefühls, der im Widerspruch zu allem stehe, was Wissenschaft ausmache: „Allzu sorglos werden Wahrheitsansprüche aller Art als vermeintliche Herrschaftsinstrumente ‚alter weißer Männer‘ dekonstruiert, so dass sich auch eine Unterscheidung zwischen besseren und schlechteren Argumenten letztlich erübrigt.“ Es komme zu Cancel Culture und zur „Generation Beleidigt“. Die betroffene Theologie aber könne „niemals auf den Anspruch rationaler, intersubjektiver Argumentation, Argumentprüfung und Wahrheitssuche verzichten“, zumal die Vernunft als göttliche Schöpfungsgabe grundsätzlich ihr Recht behalten müsse. Eine ideologiekritische Theologie sei gerade in Zeiten emotionalisierender Gegenaufklärung besonders notwendig.
Der Kirche von heute wirft Dietz vor: „Anstatt die – nun gnadenlos gewordene – säkulare Moralisierung zu transzendieren, übernimmt die gegenwärtige Kirche diese und radikalisiert sie sogar noch.“ Wird dadurch nicht ihre Botschaft verschleiert, ja konterkariert? „Moralisierung bedeutet theologisch, dass das Gesetz zum Evangelium gemacht wird“ – inwieweit hält heutige Kirche dieser kritischen Einsicht stand? Fällt nicht Christus-Verkündigung auf den Kanzeln so oft aus, weil Evangelium durchs Gesetz ersetzt ist? Und inwiefern haben spaltende Momente in der Kirche Aufwind in geistloser Entsprechung zu gesellschaftspolitischen Spaltungsvorgängen? Unter Bezugnahme auf Dietrich Bonhoeffer und dessen Unterscheidung von Letztem und Vorletztem moniert Dietz soziokulturell zu diagnostizierende Radikalisierungen: „Die Möglichkeiten des Menschen werden überschätzt, weil die Macht der Sünde nicht ernst genug genommen wird.“
Wolfgang Sander beleuchtet die „Wokeness-Bewegung als Herausforderung für Gesellschaft, Politik und Kirche“, um sie schließlich überzeugend in eine Kette von Quasi-Religionen einzuordnen. Dietz Lange thematisiert eingehend das Verhältnis von Leidenschaft und Rationalität in seiner Bedeutung für theologische und kirchliche Kommunikation. Neben sonstigen, hier nicht weiter aufzuzählenden Beiträgen sei wenigstens noch auf ein besonderes „Schmankerl“ am Ende des Buches hingewiesen: Die Theologin Jantine Nierop kritisiert ebenso sachlich wie heftig und dabei theologisch einleuchtend Hanna Reichels Behauptung einer Analogie zwischen dem frühen Karl Barth und dem Queertheoretiker Lee Edelmann, um schließlich zu mahnen: „Auch substanzlose Theologie geschieht nicht im luftleeren Raum und hat Folgen im realen Leben.“
Werner Thiede
Pfarrer i.R. Dr. Werner Thiede ist apl. Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg und Publizist.