Hinterbühnen

Seelsorge im Gefängnis

Mit ihrer Dissertation bereichert Katharina Scholl den Diskurs zur Gefängnisseelsorge in doppelter Richtung. Einerseits beobachtet und beschreibt sie – im vierten Kapitel – sehr detailreich, wie der Andachtsraum eines Frankfurter Gefängnisses sich in dieses Gebäude einfügt und zugleich aber von ihm unterscheidet, wie dort Gottesdienst gefeiert wird und vor allem, wie die Gefangenen sich diesen Raum sehr individuell und mikro-kreativ aneignen. Die Männer nutzen den Vorraum, um sich vor und nach der Feier relativ unbeaufsichtigt auszutauschen; sie überreichen die Rosen, die die Seelsorgerin ihnen nach dem Gottesdienst aushändigt, der beobachtend teilnehmenden Forscherin; und viele verweilen, fast andachtsartig, für einige Momente vor dem bodentiefen, unvergitterten Fenster des Andachtsraumes.

Mit solchen Detailansichten kann Scholl zeigen: Seelsorge im Gefängnis wirkt nicht allein durch das personale Medium der Seelsorger:innen, auch nicht allein durch Gottesdienst und Gesprächsangebote, sondern zugleich und sehr nachhaltig durch ihre räumliche Praxis: Sie bietet kleine Freiräume, eröffnet schützende Hinterbühnen und schafft eine „Heterotopie zweiter Ordnung“ (Michel Foucault), die die kontrollierende Macht der Institution punktuell-subversiv unterwandert. Eben auf diese Weise bewahrt der religiöse Raum, den die Seelsorge im Gefängnis bietet, diese Institution selbst – so vermutet Scholl – vor totalitären, selbstzerstörerischen Tendenzen.

Diese höchst anregenden Untersuchungen, die – mutatis mutandis – auch für die Seelsorge etwa beim Militär oder im Krankenhaus fruchtbar sein dürften, rahmt Scholl in den ersten drei Kapiteln durch theoretische Ausführungen, die die Praktische Theologie der Gefängnisseelsorge in anderer, vor allem raum- und interaktionssoziologischer Hinsicht erweitern. Eine erste Reflexion gilt dem gesellschaftlichen Diskurs über Kriminalität und Gefängnis, den Scholl – vor allem mit Michel Foucault – durchsichtig macht auf seine räumlichen Implikationen: Im Gefängnis wird gesellschaftliche Verunsicherung durch soziale und bauliche Exklusion des Verbrechens bearbeitet. Sodann zeigt Scholl im historischen Durchgang, wie die wechselnden Ziele des Strafvollzugs durch die jeweilige Gefängnisarchitektur realisiert werden sollten, aber auch konterkariert wurden.

In einem weiteren, besonders detailreichen Kapitel werden Erving Goffmans Untersuchungen zum Rollenhandeln und zur Rollendistanz im Gefängnis durch eigene Beobachtungen vertieft. Dabei interessiert Scholl sich vor allem – praktisch-theologisch ganz im Trend – für die körperlichen Praktiken, mit denen im Gefängnis Kontrolle ausgeübt und zugleich immer wieder Freiräume erkämpft werden. Zu dieser „Widerstandskultur“ gehören etwa zahlreiche Tätowierungen oder ein ausgeprägter, oft gewitzter Jargon, der die entwürdigenden Vollzüge ertragen hilft. Dabei macht Scholl immer wieder deutlich, wie bedeutsam seelsorgliche Räume und Praktiken in der „totalen Institution“ (Erving Goffman) zu sein vermögen.

In diesen Theoriekapiteln zeigt sich die Autorin als vielseitig interessiert, sehr belesen und wissenschaftlich innovativ. Sie stellt höchst anregende Überlegungen für eine (Praktische) Theologie des Raumes zur Verfügung, die für viele andere, nicht nur kirchliche Handlungsfelder anschlussfähig sind.

Mitunter hat sich die Autorin von ihrer Lese- und Argumentationslust vielleicht zu sehr fortreißen lassen – dann begegnen zwei oder drei Seiten ohne jeden Absatz und mit so viel Gedanken, dass die Orientierung verloren geht. Aber wer sich von Scholl in die Hinter- und Vorderbühnen der Seelsorge im Gefängnis führen lässt, wird mit vielen überraschenden Aussichten belohnt.

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