Der provokante Titel Kirche ohne Mitglieder verrät sogleich, dass es die Herausgeber nicht ganz ernst mit der Frage meinen. Sie wissen, dass christliche Kirche in der Koexistenz der Glaubenden und von der Koexistenz mit Gott lebt. Eine Kirche ohne Mitglieder ist ein Oxymoron, ein „schwarzer Schimmel“ (Wilfried Härle). Doch wenn in Zeiten rapide abnehmender Kirchenbindung dennoch der Mitgliedschaft so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, muss das Gründe haben.
Diesen Gründen wenden sich die meisten von Theologinnen und Juristinnen verfassten Aufsätze in diesem Buch zu und erörtern die Kirchenmitgliedschaft auf einem Feld kirchlicher Wesensäußerung: der Diakonie. Auf diesem Feld sollen und wollen sich Christen bewegen, weil sie mit Martin Luther „… in der allgemeinen Gesellschaft leben sollten, auf dass [ihre]Werke und Übungen des Glaubens unter den Menschen kund würden“.
Die Werke, die hier kund werden sollen, sind nun nicht etwa solche, die den Menschen vor Gott rechtfertigen würden, sondern Werke der Dankbarkeit und Liebe gegen Gott und der Liebe zu den Mitmenschen. Zu diesen Liebesbezeugungen im Alltag der Welt sehen sich die Christen durch ihre Heilige Schrift berufen (Eilert Herms).
In der Wahrnehmung ihres diakonischen Auftrags befinden sich die Christen in Deutschland inzwischen in einem Sozialstaat und nehmen auch institutionell den Dienst am Nächsten nach dem Grundsatz der Subsidiarität für den Staat wahr. Um die diakonischen Institutionen ihrer geistlichen Intention gemäß und erfolgreich betreiben zu können, gerät die Kirche in die Schwierigkeit, ihren Dienst im bisherigen Umfang und bei wachsendem gesellschaftlichem Bedarf noch weiter erfüllen zu können.
Wenn sich gegenwärtig die Kirche zunehmend der Tatsache ausgesetzt sieht, dass sie auf die Mitarbeit von Bürgerinnen und Bürgern angewiesen ist, die ihre geistlichen Voraussetzungen nicht teilen, dann ist die Mitgliederfrage als Mitarbeiterfrage gestellt. Der Staat, der das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen schützen muss, sieht sich inzwischen auch durch die europäische Rechtssprechung herausgefordert, die (negative) Religionsfreiheit seiner Bürger schützen zu müssen (Michael Droege).
Im Hintergrund steht, dass der neutrale Staat der Religion seiner Bürger nicht mehr vornehmlich in den beiden öffentlich-rechtlich verfassten Großkirchen, sondern in der gelebten vielgestaltigen Religiosität der bürgerlichen Gesellschaft begegnet und sich als liberaler Rechtsstaat bewähren muss.
Beide „Großkirchen“ werden künftig, wenn sie weiterhin in den diakonischen Einrichtungen als christliche Kirchen erkennbar bleiben und ihrer Intention gerecht werden wollen, verstärkt ihr Selbstverständnis in ein mit der Mitarbeiterschaft gemeinsam erarbeitetes und stets weiter zu entwickelndes Profil der jeweiligen Einrichtung einbringen müssen.
Insbesondere die Evangelische Kirche sollte bei der Frage nach der Verbindlichkeit der Diakonie auf keinen Fall den Fehler der 1960er- und 1970er-Jahre wiederholen und der Rede vom Gesundschrumpfen nunmehr Platz auf dem weiten Raum der Diakonie gewähren.
Vielmehr scheint es geboten, sich darauf zu besinnen, wie der Anspruch an Bekenntnistreue und der Respekt vor der Persönlichkeit aller Mitarbeitenden nach dem Maß wechselseitiger Verantwortung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer austariert werden können.
Sicher ist auf der Leitungsebene der Institution eine Kirchenmitgliedschaft unverzichtbar, doch bleibt die Frage, ob über die intentionale Verbindlichkeit vornehmlich nach der Maßgabe der Hierarchie entschieden werden muss.
Gerade auf dem Feld der Diakonie besteht die große Chance, den geistlichen Auftrag in einer religiös selbstbewusst gewordenen Gesellschaft zu präzisieren und eventuell auch den Status der Mitgliedschaft zu überdenken.
Ein Blick auf den Mitgliederstatus anderer christlicher Kirchen und Religionsgemeinschaften, die in diesem Band noch vorgestellt werden, zeigt, mit welcher protestantischen Freiheit sich die evangelische Kirche auf dem Feld der Diakonie profilieren kann. Ein nicht nur für Diakoniewissenschaftler und Juristen sehr angesagtes Buch.
Friedrich Seven
Dr. Friedrich Seven ist Pastor. Er lebt in Scharzfeld.