Es begann, wie es bei vielen Betroffenen beginnt: Kleine Zettel, oft gelbe Post-its, erinnern an Selbstverständliches, wie den eigenen Namen oder die Adresse. Bei den Mitmenschen rufen sie nur Unverständnis hervor. In der Familie der Journalistin und Autorin Katrin Seyfert waren es Zettel mit Botschaften wie „Brot kaufen“ oder „Fußballtraining 16 Uhr“ und viele kleine Lücken, wie ein vergessener Geburtstag oder der nicht getrennte Müll. Ihr Mann Marc, Arzt und Vater der drei kleinen Kinder, bekam mit gerade einmal 50 Jahren die Diagnose Alzheimer. „Man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen, und wenn das meine Krankheit sein soll, dann bin ich bereit, sie anzunehmen“, sagt ihr Mann, als er eines Abends die Diagnose bekommt. Knapp sechs Jahre später stirbt er nach nur sechs Wochen in einem Heim.
Welche Bedeutung die Diagnose für sie und ihre drei Kinder hat, darüber erzählt Katrin Seyfert in ihrem Buch Lückenleben mit dem Untertitel „Mein Mann, der Alzheimer, die Konventionen und ich“. Schonungslos offen beschreibt Seyfert, wie „die Krankheit jeden Tag ein Stückchen mehr Deutungshoheit gewinnt“. Konkret, wie Geldnöte, Diskussionen mit Pflegeberaterinnen, der Abschied in ein Heim, später dann ihre und die Trauer der Kinder das Zusammenleben bestimmen, sie an den Rand ihrer Kraft und des Ertragbaren bringen.
Dass die Leserin mal mit einem lachenden, mal mit einem weinenden Auge durch die Kapitel fliegt, liegt an Seyferts Sinn für das alltägliche Detail und die Zumutung. Sie beschreibt zum Beispiel, wie sich ihr Mann nach einem Schnitzkurs künstlerisch betätigt und eine kleine Ausstellung in einem Einkaufszentrum bekommt. Wie sie ihr Leben zwischen Pflegedienst, Elternsprechtagen, Arztgesprächen, Haushaltsarbeit, Steuererklärung, Einkäufen und Geburtstagen bewältigt, in der ständigen Gewissheit von Überforderung und der Angst vor dem eigenen Scheitern. Dazu kommen Existenz- und Geldsorgen: „Weil Pflege hauptsächlich mit Geld zu tun hat.“
Die Journalistin hält sich nicht lange auf mit detailreichen Beschreibungen der Krankheit ihres Mannes, ihr geht es vielmehr um den Blick dahinter. Sie will Zweifel wecken an den mitunter rigiden Zuschreibungen, die ihr als pflegende Angehörige, als Mutter, Alleinverdienerin und als Witwe entgegengebracht wurden. „Nicht Marcs Alzheimer ist die Zumutung gewesen, nicht sein Tod, sondern das Comme il faut, das mich hinterher überrollte, manchmal mehr als die Trauer", schreibt sie. Wie gehen wir mit Krankheit, Tod und Verlust um, und was bedeutet Würde? Seyfert, die in Tübingen Rhetorik und Kulturwissenschaft studiert hat, reichert diese Fragen mit ihren eigenen Erfahrungen an und reflektiert sie mit Zitaten, Literaturhinweisen und Liedertexten, genauso wie sie ihre Kenntnisse über Studien einfließen lässt.
Aus all diesen Anforderungen und Zumutungen, die sie mit genauem, manchmal fast gnadenlosem Blick protokolliert, werden Brüche in der Tabuzone spürbar. Manch einer eigenen gutmeinenden Phrase und Verhaltensweise wird die Leserschaft begegnen. Sie wird von der Autorin überführt und entlarvt. „Darf man über Krankheit, Sterben, Tod öffentlich reden, oder ist das immer noch ein Tabu?“, fragt Seyfert schon im Vorwort ihres Buches. Ihre Antwort am Ende: „Heute sehe ich Schwere in allem, auch in dem, was Leichtigkeit verlangt. Das ist unangemessen, narzisstisch, unausweichlich. Es ist vor allem: nicht cool. Vielleicht ist ‚Cool‘ das Land, das ich nie wieder ohne Zweifel betreten kann, weil ich sechs Jahre erlebt habe, wie wenig gastfreundlich es zu Versehrten, Zweiflern und Gescheiterten ist. Postmoderne Kälte funktioniert nur für Poser und Autisten.“
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.