Himmelsfenster und Weltentüren

Im zweiten Teil der zeitzeichen-Serie, die sich mit den Themen des diesjährigen Kirchbautages im September in Berlin befasst, beschreibt Andreas Hillger ein spannendes Glaskunst-Projekt in Anhalt.
Im Ortsregister sind zwischen Altjeßnitz und Zerbst noch einige Anfangsbuchstaben offen, die Landkarte zeigt aber bereits eine flächendeckende Ausbreitung: Mit ihrem Glaskunst-Projekt „Lichtungen“ hat die Evangelische Landeskirche Anhalt 30 Gotteshäuser im überwiegend ländlichen Raum zu einem deutschlandweit einzigartigen Parcours der zeitgenössischen Glasmalerei vereint. Wenn am letzten August-Wochenende – unmittelbar vor dem Kirchbautag in Berlin – das zehnjährige Jubiläum gefeiert wird, erinnert man sich zugleich an den Beginn dieses Projekts, der im Rahmen der Landesausstellung „Glanzlichter“ 2014/15 in Naumburg und Schulpforte gesetzt wurde.
Als „Beifang“ seien dabei erste konkrete Partnerschaften zwischen Künstlern und Gemeinden entstanden, sagt der damalige Kurator Holger Brülls – Entwürfe und Beispiele, deren Umsetzung dann andernorts neue Ideen inspiriert hätten. Daraus sei im Laufe der Jahre eine Bewegung entstanden, die als Gegenentwurf zur konservatorischen Routine gelesen werden kann: Wo sonst das „Dichtmachen“ der Fenster als notwendiger Schritt zur Sicherung historischer Gebäude dient, sorgt zeitgenössische Glaskunst hier für deren demonstrative Öffnung – eine atmosphärische Maßnahme, die neue Perspektiven auf die alten Räume ermöglicht. Der medizinische Vergleich mit einem minimalinvasiven Eingriff freut den Denkmalpfleger: Tatsächlich, sagt Brülls, könne gerade dieses berührungslose Spiel mit Licht und Schatten beim Betrachter einen Effekt tiefer Berührung auslösen.
Albrecht Lindemann zählt als Pfarrer in St. Bartholomäi Zerbst gleich mehrere „Lichtungen“ zu seinem Sprengel – zum Beispiel in Kermen, wo seit 2022 rund 800 000 Euro in einer romanischen Dorfkirche verbaut wurden, die den Aposteln Peter und Paul gewidmet ist. Hier hatte man die Fensterfassungen über Jahrzehnte mit einfachen Glasbausteinen verschlossen, bis der renommierte Wernigeröder Glasgestalter Günter Grohs das seit dem Zweiten Weltkrieg verlorene Schema der Butzenscheiben durch eine dynamische Komposition mit weißen, blauen und goldenen Akzenten erneuerte. Neben den drei Bogenfenstern im Kirchenschiff finden sich auf der Empore nun transparente Zitate aus den Briefen der Namenspatrone – eine ebenso behutsame wie umfassende Aneignung des Ererbten. Im benachbarten Eichholz hingegen musste die baufällige Apsis der Trinitatis-Kirche aus dem 12. Jahrhundert 2017 komplett abgetragen und durch einen Neubau ersetzt werden. Nun fassen dort bodentiefe Fensterbänder mit abstrakten Farbspielen des Altmeisters Johannes Schreiter den Altar, das Pult und den Leuchter, die der Bildhauer Till Hausmann aus den Eichenbalken des historischen Dachgestühls geschaffen hat – ein starkes Memento im hellen Licht.
Damit diese kraftvolle Erneuerung an einem Ort gelingen konnte, der aktuell 60 Gemeindeglieder beheimatet und der Kirche jährliche Pachteinnahmen von 400 Euro beschert, waren viele Partner vonnöten. Lindemann verweist auf die Initiative „Mach Dich Ran“, die der Mitteldeutsche Rundfunk gemeinsam mit der Kiba – Stiftung zur Bewahrung Kirchlicher Baudenkmäler in Deutschland – ins Leben gerufen hat und die hier eine Anschub-Finanzierung von 25 000 Euro brachte. Am Ende seien in Eichholz und Kermen Bausummen von rund 1,5 Millionen Euro zusammengekommen, wobei rund ein Drittel aus Spendenmitteln eingenommen wurden – und eben nicht nur in die historische Substanz, sondern auch in zeitgenössische Glaskunst investiert wurden. Wichtige Mitstreiter bei diesen und anderen Projekten waren immer auch die ausführenden Studios, die das Werk im Austausch mit Künstlern und Gemeinden umsetzen. Als verlässliche Partner nennt Lindemann die Werkstätten Peters in Paderborn, Schneemelcher in Quedlinburg und Derix in Taunusstein – traditionsreiche Unternehmen, die mit ihrer Arbeit die „Lichtungen“ kontinuierlich begleiten.
Tiefblaue Schlüsselszenen
Als echter Standort-Vorteil für die anhaltische Landeskirche erweist sich zudem die Nähe zur halleschen Hochschule Burg Giebichenstein, an der Christine Triebsch über drei Jahrzehnte die Kunst der architekturbezogenen Glasgestaltung gelehrt hat. Die inzwischen emeritierte Professorin ist mit eindrucksvollen Arbeiten in der Auferstehungskirche Dessau sowie in der Stadtkirche Lindau selbst am Projekt beteiligt, Absolventen wie Julian Plodek oder Jakob Schreiter stehen zudem für die jüngere Generation der Glasgestalter – und für technische wie ästhetische Innovation. So imaginiert Plodek im Chorraum der Dorfkirche Mühlsdorf drei tiefblaue Schlüsselszenen des Evangeliums – die Weihnacht, die Nacht im Garten Gethsemane und die Osternacht – und kontrastiert sie mit hellen Grisaillen im Kirchenschiff. In Kerchau hingegen hat sich Schreiter vom realen Straßennetz zwischen den Dörfern inspirieren lassen und Gussglas-Reliefs am 3D-Drucker entworfen, die den Scheiben eine raumgreifend plastische Anmutung verleihen.
Obwohl sich alle diese Beispiele unter der gemeinsamen Dachmarke der „Lichtungen“ vereinen, sind die Wege zum Ziel doch individuell – und nicht immer geradlinig, wie Albrecht Lindemann weiß. So hätte ein Gemeinderat zunächst mehr Geld für die Flutlichtanlage des Fußballplatzes als für die Neugestaltung der Kirchenfenster bewilligt, sei aber inzwischen stolz auf den eigenen Anteil an der künstlerischen Aufwertung des Ortes. In der kleinen Dorfkirche Nutha, wo Gerlach Bente neben acht Fenstern auch das komplette Interieur neu gestalten durfte, habe es hingegen unmittelbar nach Abschluss der Sanierung vier Taufen gegeben. Und an vielen Stationen sei eine bleibende Verbindung zwischen den Künstlern und den Gemeinden entstanden, die ihre Gottesdienste im neuen Licht feiern. Dieser spirituelle Bezug sei nicht selten eine Herausforderung für die Gestalter – und auch ein Anreiz, der selbst Weltstars wie den Bildhauer Tony Cragg zu Wiederholungstätern werden ließ. Der mit dem Turner-Price und dem Praemium Imperiale ausgezeichnete Brite, der sich in Garitz und Großbadegast erstmals mit dem Thema Kirchenfenster beschäftigte, suchte dabei laut Holger Brülls auch Kontakt zu einem Publikum jenseits der großen Galerien und Museen – und verortete die kleinen Gemeinden mit seinen konkret raumbezogenen Arbeiten im internationalen Kontext.
Dass davon auch Partner wie der Förderkreis „Entschlossene Kirchen“ profitieren, liegt auf der Hand. Die Vereinigung setzt sich seit 2007 für eine dauerhafte Öffnung der Dorfkirchen im Kirchenkreis Zerbst ein und sichert damit auch den ungehinderten Zugang zu etlichen „Lichtungen“, denen durch diverse Publikationen und durch die Schirmherrschaft des sachsen-anhaltischen Ministerpräsidenten Reiner Haseloff zusätzliche Aufmerksamkeit zuteil wird. Eine permanente Nutzung der Kirchen ist in den strukturschwachen Regionen freilich nicht garantiert – und auch nicht zwingend nötig, wie der Denkmalpfleger Holger Brülls sagt. Er verweist auf die Aufenthaltsqualität der Räume, die auch jenseits eines alltäglichen Gemeinde-Lebens zur Andacht einladen. In einer Broschüre für die Dorfkirche Garitz erhebt der Kulturphilosoph Bazon Brock die Leere gar zur eigentlichen Qualität: „Der Umsetzung von ehemals bloß geoffenbarter, also durch Glauben bestätigter Hoffnung in soziale Gewissheit und durchsetzbare Verbindlichkeit begegnen wir mit tiefster Dankbarkeit, wenn wir die leeren Kirchen betreten. Aber wir würdigen sie nicht wie die Europäer die Ruinen der antiken Tempel als Zeichen der Bedeutung des Gewesenen; im Gegenteil, wir erneuern sie mit höchster Gestaltungskraft.“ Selbst wenn man in dieser Euphorie auch Zweckoptimismus entdeckt, darf man die anhaltischen „Lichtungen“ doch als zukunftsweisend feiern. Beispielsweise in Wertlau, wo die Künstlerin Hella Santarossa himmlische Boten aus Licht und Farbe beschwört. Zwölf musizierende Engel sollen es werden, zwei sind schon erschienen.
Andreas Hillger
Andreas Hillger ist Autor und Dramaturg. Er lebt in Dessau-Roßlau.