„Ein Sechser im Lotto“

Bei den Arbeiten an der ersten Gesamtausgabe Paul Gerhardts wurde ein neues Lied entdeckt. Ein Gespräch mit zwei Mitgliedern des Forschungsteams über das Projekt
Johann Anselm Steiger (links) und Oliver Huck am 15. Januar in Hamburg.
Foto: Reinhard Mawick
Johann Anselm Steiger (links) und Oliver Huck am 15. Januar in Hamburg.

zeitzeichen: Herr Professor Steiger, Herr Professor Huck, Sie arbeiten an einer Gesamtausgabe der geistlichen Lieder von Paul Gerhardt, die im nächsten Jahr erscheinen wird. Wie ist es zu erklären, dass es erst jetzt zu diesem Unterfangen kommt, obwohl Gerhardt doch schon seit Jahrhunderten zu den bedeutendsten Lieddichtern des Protestantismus, ja der Christenheit gehört?

Steiger: Es hat in der Vergangenheit immer wieder editorische Bemühungen um Paul Gerhardt gegeben. Unser Anspruch ist es, endlich eine Ausgabe zu schaffen, die heutigen wissenschaftlichen Standards genügt. Entscheidend ist vor allem, dass wir als Team zusammenarbeiten: Oliver Huck als Musik­wissenschaftler, Stefanie Arend als Germanistin und ich als Theologe – das macht die interdisziplinäre Bandbreite des Interesses am Werk Gerhardts deutlich. Die bisherigen modernen Editionen von Gerhardts Texten seit dem 19. Jahr­hundert kommen meist völlig ohne Musik aus. Mit einer Ausgabe, die auch Noten enthält, wollen wir eine solide Grundlage für die weitere wissenschaftliche Forschung und für die musikalische und gottesdienstliche Paul-Gerhardt-Pflege legen.

Wie gehen Sie vor? Richten Sie sich bei den Textfassungen eher nach den Fassungen von Johann Crüger, der ja von 1647 bis 1661 zahlreiche Lieder in seinen Gesangbuchausgaben veröffentlicht hat, oder nach der 1666/67 veröffentlichten ersten Gesamtausgabe der Texte Gerhardts von Crügers Nachfolger Johann Georg Ebeling? 

Huck: Sowohl als auch, da es sich ja nicht um Texte, sondern um Lieder mit Text und jeweils unterschiedlicher Musik handelt. Aber das allein reicht ja nicht, denn schon zu Paul Gerhardts Lebzeiten gab es über Crüger und Ebeling hinaus weitere Vertonungen, die wir ebenfalls aufnehmen. Geplant ist die Gesamtausgabe so: Der erste Teil enthält die gesamten von Ebeling überlieferten Gerhardt-Texte mit seinen Kompositionen. Im zweiten Teil gibt es dann die Text- und Melodiefassungen von Johann Crüger sowie die weiteren Vertonungen, im dritten jene Gedichte, die zu den bei Ebeling und Crüger veröffentlichten hinzukommen beziehungsweise erst später aufgefunden wurden und ohne Musik überliefert sind.

Aber gibt es nicht noch zahlreiche weitere Textfassungen von Paul-Gerhardt-Texten bis hin zu völlig veränderten Textgestalten der Aufklärungszeit, wo es dann zum Beispiel statt „Nun ruhen alle Wälder / Vieh, Menschen, Städt und Felder / es ruht die ganze Welt“ heißt: „Nun ruhet in den Wäldern, / in Städten und auf Feldern / sanft schlummernd, was da lebt“ – wie gehen Sie damit um?

Huck: Diese zweifelsohne interessanten Fortschreibungen und Umdichtungen spielen für uns keine Rolle, denn unsere Aufgabe ist es nicht, die jahrhundertelange Gesangbuchüberlieferung von Gerhardts Texten und Melodien abzubilden, sondern jene Form, in der die Lieder und Kasual­gedichte ursprünglich erschienen sind. Mit Johann Georg Ebeling und Johann Crüger, Gerhardts Kantoren an der Nikolaikirche in Berlin, haben wir zwei Akteure, die selbst komponiert haben, die aber zugleich die Editoren der Texte sind, denn Gerhardt selbst hat ja, ganz anders als sein Zeitgenosse Johann Rist, keine Ausgabe seiner Werke veranstaltet. Weitere Ver­tonungen und Textfassungen darüber hinaus berücksichtigen wir bis zu Gerhardts Todesjahr 1676.

Dass neue Paul-Gerhardt-Lieder aufgefunden werden, ist selten. Im 20. Jahrhundert wurde noch eine Handvoll gefunden, 2001 zum letzten Mal eins, und nun haben Sie im Zuge der Arbeit an der kritischen Gesamtausgabe auch ein neues geistliches Gedicht von Gerhardt gefunden, ein Text, der in der Forschung noch nie berücksichtigt wurde (siehe Seite 49). Wie kam es dazu?

Steiger: Ich habe ein Werkzeug genutzt, das andere Paul-Gerhardt-Forscher offenbar bisher nicht genutzt haben, nämlich das „Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums“, das inzwischen in 31 Bänden vorliegt. Es bezieht sich vor allem auf Bibliotheken und Archive im ehemals deutschsprachigen Osten, und es gibt vier Bände zu Stettin. Ich habe schlicht nach „Paul Gerhardt“ gesucht und einige Kasualdrucke gefunden, die schon lange bekannt sind. Nur in einem Fall dachte ich: „Oh, entweder, ist da ein Fehler in der Bibliografie, oder es ist wirklich etwas Neues.“

Und so war es?

Steiger: Ja, es handelt sich um einen selbständig erschienenen Quartdruck mit Titelseite und drei Textseiten, der im Stettiner Staatsarchiv und sonst nirgendwo vorhanden ist. Es ist erstaunlich, dass dieser Text, ein achtstrophiges Gedicht an­lässlich des Ablebens der fünfjährigen Hendrina Magdalena Seidel aus dem Jahr 1662, bislang unentdeckt geblieben ist. Allerdings wurden solche anlassbezogenen Texte meist in sehr kleinen Auflagen gedruckt – vorrangig als Gabe für die Hinter­bliebenen. Häufig sind solche Texte heute nur in einem Exemplar über­liefert. Für die Gerhardt-Forschung also ein Sechser im Lotto!

Und auch vom Inhalt her ist dieses Gedicht ein wirklich bedeutender Text, wie Sie ja in Ihrer kürzlich erschienen Monografie zu dem Fund dargelegt haben (siehe Literatur).

Huck: Leider ist in dem Druck dem neuentdeckten Lied keine Melodie zugewiesen, aber man könnte es zum Beispiel auf die Melodie von „Vater unser im Himmelreich“ singen (EG 344). Ansonsten soll unsere Gesamtausgabe nicht nur ein Desiderat in der theologischen, germanistischen und musikwissenschaftlichen Forschung beseitigen, sondern sie kann und soll auch zum Musizieren genutzt werden, denn es wird viel Musik, sprich Noten, geben – etwa 600 Seiten. Dass hier die Prominenz hauptsächlich an Gerhardt als Dichter und nicht an Ebeling und Crüger als Komponisten hängt, ist klar, wobei insbesondere Johann Crüger ein wirklich guter und qualitätvoller Komponist ist, auch wenn er vielfach Melodien und Sätze anderer übernahm (siehe zz 6/2022).

Ihre Edition, so steht es in der Kurz­ankündigung der Deutschen Forschungs­gemeinschaft (DFG), soll eine hybride Edition werden. Was hat man sich darunter vorzustellen?

Huck: Da wir ja Editionen auf der Grundlage von digitalisierten Texten produzieren, wäre es schlimm, wenn diese Arbeit sozusagen mit dem Sterben der Festplatte verschwände. Nach unseren jetzigen Planungen werden die drei Bücher im De-Gruyter-Verlag in der Reihe „Neudrucke deutscher Literaturwerke“ erscheinen, und sicherlich wird der Verlag dann das Ganze auch als E-Book anbieten, zudem ist die Bereitstellung der Basisdaten geplant. Aber hier sind die letzten Absprachen noch nicht getroffen.

Texte aus der Vergangenheit werden heute nicht nur als ungewohnt, ja abständig empfunden, sondern erscheinen auch häufig explizit oder zumindest implizit als rassistisch oder antijüdisch. Ist Ihnen in den geistlichen Gedichten Paul Gerhardts irgendetwas in dieser Richtung aufgefallen?

Steiger: Im Werk Gerhardts ist uns nichts aufgefallen, was das Attribut „rassistisch“ verdiente – das war für Gerhardt einfach kein Thema. Und Antijudaismus ist ein weites Feld. Es lohnt sich meines Erachtens, neu darüber nachzudenken, inwieweit es nicht doch eine Differenz zwischen einem zweifelsohne abzulehnenden christlichen Antijudaismus und einem rassentheoretisch motivierten Anti­semitismus gibt, wie er im Laufe des 19. Jahrhunderts aufkam. Dass beidem konsequent ideologiekritisch und theologisch entgegenzutreten ist, steht völlig außer Frage. 

Das Gespräch führte Reinhard Mawick am 15. Januar in Hamburg.

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Von Kindern hat man große Lust

anlässlich des Ablebens der 5-jährigen
HENDRINA MAGDALENA SEIDEL Anno 1662

1. Von Kindern hat man große Lust. | Hinwieder hat man, wie bewusst, |
Auch von den Kindern großes Leid, | Wenn Gott, nachdem er uns erfreut, | Sie uns
aus unsern Augen reißt | Und von der Erden wandern heißt.

2. Da klagt der Vater: Ach, mein Kind! | Der Mutter Auge tränt und rinnt: |
Die ganze Freundschaft wird betrübt, | und was uns jemals hat geliebt, | Da stimmt, so gut ein jeder kann, | Sein Trauerliedlein mit uns an.

3. Der eine legt die Jahr zuhauf | Und zählt des Lebens kurzen Lauf, | Der andre lobt das junge Blut | Und rühmt des Kindes frommen Mut, | Der Dritte sucht
die Lehrbegier [= Gelehrigkeit] | und heilgen Betensfleiß [= Gebetsfleiß] herfür.

4. Nicht sag ich, dass das unrecht sei: | Doch denk ich gleichwohl auch dabei, |
Dass, da wir uns nur lauter Pein | Und Schad und Unglück bilden ein, | Solch und dergleichen Kinder Weh | In höchster Freud und Wohlfahrt steh.

5. Es fällt das Kind und fällt doch nicht, | Stirbt hin und kömmt dadurch
zum Licht: | Es geht zur schnöden Welt hinaus | Und fährt ins ewgen Vaters Haus, |
Gibt allem Herzleid gute Nacht | Und erbt das Reich, da alles lacht.

6. Da sitzt es recht in Gottes Schoß, | Ist alles Grams und Kummers los, |
Sieht nichts als lauter Freud und Fried | Und hört der Engel schönstes Lied, |
Sein Mündlein lernt auch selbst die Weis | Und schickt sich mit zu Gottes Preis.

7. Ich weiß in dieser ganzen Welt | Kein Königsschloss, kein Fürstenzelt, |
Da man in größer Wollust schweb | Und da das Herze süßer leb. | In allem Leben find’t sich Not, | Hier aber lebt man ohne Tod.

8. O bist du da, du liebstes Herz? | So weicht, ihr Tränen, flieh, du Schmerz! |
Hast du dein Erb im Himmelreich, | Ist deine Seel den Engeln gleich | Und drückt Gott selbst dich an die Brust? | So bleibst du auch tot unsre Lust.

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Die Frontseite des neu aufgefundenen Paul-Gerhardt-Liedes aus dem Jahre 1662 zeigt die verstorbene Hendrina Magdalena Seidel. 

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LITERATUR
Johann Anselm Steiger: Ein neu­entdecktes geistliches Lied Paul Gerhardts – Der Kasualdruck anlässlich des Todes von Hendrina Magdalena Seidel (1657–1662) und das Trostlied „Von Kindern hat man große Lust“, Verlag de Gruyter, Berlin, 2024.

INFORMATION
Am Mittwoch, dem 12. März, stellt Johann Anselm Steiger das neuentdeckte Lied bei einer Veranstaltung im Museum Nikolaikirche in Berlin ausführlich
vor. Beginn: 18 Uhr.

www.stadtmuseum.de/veranstaltungen/paul-gerhardt-geburtstag-2025

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Foto: Reinhard Mawick

Johann Anselm Steiger

Dr. Johann Anselm Steiger ist Professor für Christentumsgeschichte und Historische Theologie an der Universität Hamburg. 

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