Paul Gerhardt bekommt Besuch

Seit 1938 ist die Nikolaikirche in Berlin-Mitte ein Museum. Bisher war sie international vor allem als Wirkungsort des berühmten Liederdichters Paul Gerhardt und seines Kantors Johann Crüger bekannt. Das spannende Projekt „Dekoloniale – Was bleibt?“ lenkt den Blick nun bis Ende Mai auf ganz andere Protagonisten im Kirchenraum. Es entfaltet dabei wichtige historische und ethische Grundsatzfragen.
Sind es Tropfen, sind es Tränen? Was ist es, was sich da riesenhaft in Blautönen von der Decke Richtung Boden ergießt? Sofort fallen die beiden Textilkonstruktionen von Theresa Weber ins Auge. Sie sind das umfänglichste Exponat der Ausstellung „Dekoloniale – Was bleibt?“ in der Berliner Nikolaikirche, die noch bis 25. Mai zu sehen ist. Aber Webers gigantische Blautextilien sind längst nicht alles. Viele Texte und Erinnerungen füllen den gesamten Kirchenraum und enthüllen zum einen die kaum bekannte frühe koloniale Geschichte Preußens und führen zum anderen – in eigener Sache – eine Diskussion um das Selbstverständnis des Stadtmuseums.
Die Ausstellung ist aus dem Geiste postkolonialer Theorie entstanden, die sich mit der „historischen Kolonisierung sowie fortwährenden Prozessen der Dekolonisierung und Rekolonisierung“ beschäftigt, so liest man auf der umfangreichen Website. Dabei geht es aber keinesfalls nur um die Betrachtung eines längst vergangenen Geschehens, denn Kolonisierung wird von den Verantwortlichen umfassender als „Konstruktions- und Formationsprozess“ verstanden, an dessen Ende bis heute „Europa und seine ‚Anderen‘“ stehen.
Am Beginn der Ausstellung ist in großformatigen Texten in einer Art Mission Statement zu lesen, was das Thema Kolonisierung mit der Nikolaikirche als konkretem Raum, aber auch als Symbol für das Christentum zu tun hat: „Der europäische Kolonialismus war eng mit dem Dogma des Christentums verbunden. Die Ideologie der christlichen Überlegenheit über andere Religionen legitimierte deren politische, militärische und epistemische Unterwerfung.“ Hier ist ein Sachverhalt umrissen, der natürlich von niemandem ernsthaft bestritten werden kann, dessen Konkretionen aber erst in diesem Jahrhundert nach und nach bedacht werden (vergleiche Schwerpunkt „Unser Kolonialismus“, zeitzeichen 7/2022).
Besonders interessant sind aber die räumlichen Bezüge, die das Thema Kolonialismus ganz konkret mit der Nikolaikirche im 17. und 18. Jahrhundert verbinden. Moment? Hatte das Deutsche Reich nicht „nur“ in den 35 Jahren von 1884 bis 1919 Kolonien? Ja, aber darum geht es nicht, sondern um eine spezielle, heute meist nur Fachleuten bekannte Episode der preußischen Geschichte des Frühkolonialismus: Von 1683 bis 1717, also immerhin genauso lange wie die gesamte Kolonialzeit des späteren Deutschen Reiches um 1900, unterhielt das Kurfürstentum Brandenburg, seit 1701 Teil des neubegründeten Königreichs Preußen, mehrere durch Befestigungen geschützte Niederlassungen an einem etwa 30 Kilometer langen Küstenstreifen im heutigen Ghana (Westafrika), das damals Groß-Friedrichsburg genannt wurde und über Jahrzehnte als Drehscheibe des verbrecherischen Versklavungshandels mit afrikanischen Menschen fungierte.
Eine direkte Beziehung zur Nikolaikirche ergibt sich über drei Personen, die unmittelbar oder mittelbar mit dieser frühen Kolonialisierung verbunden waren. An erster Stelle ist Carl Constantin von Schnitter zu nennen, der als junger Mann 1684/85 in der preußischen Besitzung als Festungskommandant fungierte. Dann wurde er plötzlich entlassen und über zwei Jahre in Emden inhaftiert. Die Vorwürfe: Misswirtschaft und ein „gottloses“ Leben, wozu wohl auch die sexuelle Ausbeutung einheimischer Frauen in Westafrika gehörte. Irgendwie schaffte es Schnitter, freizukommen, einen Prozess zu vermeiden und danach glänzende Karriere zu machen – unter anderem als Festungskommandant in Peitz (bei Cottbus). 1721 starb er hochgeachtet und erhielt eine Grabstätte in der Nikolaikirche. Sein aufwändiges Epitaph ist immer noch dort zu sehen, in dessen Inschriften seine koloniale Vergangenheit natürlich nicht erwähnt wird.
Constantin von Schnitter wird in der Ausstellung in dem ihm gewidmeten Aufbau zusammen mit Jan Kwaw alias John Canou vorgestellt, einem Afrikaner, geboren um 1670, der in den späteren Jahren der brandenburgisch-preußischen Kolonie im heutigen Ghana als einflussreicher Mittelsmann zwischen den Einheimischen und den Preußen fungierte. In der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts wird er als „treuer Gefolgsmann“ der Kolonisatoren dargestellt, aber Fakt ist, dass diese wohl eher von ihm abhängig waren. Und am Ende leistet er Widerstand: Auch wenn sich das genaue Geschehen nicht mehr erhellen lässt, scheint Jan Kwaw im Jahre 1716 den letzten preußischen Gouverneur zum Rückzug gezwungen zu haben. Die Preußen verkauften schließlich die Besitzung an die Niederländer, aber Kwaw alias Canou erkennt das Geschäft nicht an und leistet anscheinend heftigen Widerstand. Jedenfalls können die Niederländer die Festung erst 1724 übernehmen.
Schlüssige Theorien
Und Jan Kwaw alias John Canou? Seine Spur verliert sich im Dunkel der Geschichte, wobei in der Ausstellung erwähnt wird, es gäbe schlüssige Theorien, dass das in der Karibik verbreitete Festival Junkanoo auf Kwaw alias Canou zurückgehe: „Es liegt nahe, dass sein Name gemeinsam mit verschiedenen westafrikanischen Traditionen den Atlantik überquert hat und in der Karibik antikolonial gedeutet wurde.“
Schnitter und Kwaw/Canou sind übrigens auf einem der Ausstellungsaufbauten gemeinsam präsentiert, und die Didaktik der Ausstellung setzt klare Statements: So erscheint der koloniale Name „Groß Friedrichsburg“ stets im Schriftbild durchgestrichen und das Porträt Schnitters ist auf den Kopf gedreht, während das (fiktive) Porträt von Jan Kwaw stolz und aufrecht steht.
Während Constantin von Schnitter unmittelbar mit der frühen Kolonie in Verbindungen steht, widmet sich die Dekoloniale in St. Nikolai noch zwei weiteren Persönlichkeiten, die wie Schnitter in der Kirche begraben liegen, und beleuchtet sie in Hinblick auf Kolonialismus und Versklavungshandel. Zum einen ist es Samuel von Pufendorf, in dessen Familie der ehemalige Festungskommandant Schnitter 1698 einheiratete. Pufendorf gilt als bedeutender Rechtsgelehrter der frühen Aufklärung, doch in Bezug auf die Versklavung von Menschen zeigte er sich wenig fortschrittlich, wie man in der Ausstellung lernt. Da die Sklaverei in der gesellschaftlichen Praxis existiere, sei sie auch „legitim“, jedenfalls bei „freiwilliger Aufgabe der Freiheit, bei Kriegsgefangenschaft und bei jenen, die in der Versklavung geboren sind“.
Über eine noch prächtigere Grabstätte als Samuel Pufendorf verfügt in der Nikolaikirche Johann Andreas von Kraut. Die Grabkapelle befindet sich gleich am Eingang links. Kraut war ein umtriebiger Unternehmer und Politiker, der vielfältig vom Kolonialhandel um 1700 profitierte. Er betrieb eine Gold- und Silbermanufaktur, deren Rohstoffe aus den amerikanischen und afrikanischen Kolonien stammten, und er gründete 1713 in Berlin die Königliche Wollmanufaktur, in der Uniformen fürs preußische Militär hergestellt wurden. Später, so berichtet die Ausstellung, wurde für das charakteristische Blau der preußischen Uniformen auch der Farbstoff Indigo verwendet, „eine Pflanze, die Versklavte in der Karibik (…) unter unmenschlichen Bedingungen anbauen müssen". Dieses Fakt inspirierte unter anderem Theresa Weber zu ihren raumprägenden blauen Textilkunstwerken, die das äußere Bild der Nikolai-Dekoloniale prägen.
Neben diesen Genannten finden sich in der Ausstellung noch viele weitere Themen und Nischen. Es werden Menschen neben Jan Kwaw aus Afrika und der Karibik vorgestellt, die bisher in der offiziellen Geschichtsschreibung kaum bedacht wurden. Zum einen Mary Thomas, bekannt als „Queen Mary“, die 1878 beim Aufstand gegen die dänische Herrschaft auf der Karibikinsel St. Croix eine führende Rolle spielte, oder Nana Yaa Asantewaa, die 1900 den Aufstand an der so genannten Goldküste (heute Ghana) gegen die britische Kolonialherrschaft inspirierte.
Selbstkritische Rückschau
Außerdem beschäftigt sich die Dekoloniale auch selbstkritisch mit der Geschichte des Stadtmuseums Berlin. Zum Beispiel mit der Rolle von Ernst Friedel (1837–1918), der als Stadtrat des Berliner Magistrats drei Jahrzehnte lang dem Direktorium des Märkischen Provinzial-Museums (heute Stadtmuseum) vorstand. Er war ein begeisterter Verfechter der Idee, dass das Deutsche Reich Kolonien erwerben müsse. Unter anderem verfasste er 1867 das Buch Die Gründung preußisch-deutscher Colonien im Indischen und Großen Ocean, in dem er die Aktivitäten des Großen Kurfürsten im 17. Jahrhundert, die zur Errichtung von Groß-Friedrichsburg führten, als leuchtendes Beispiel für neu zu erwerbende Kolonien darstellte. Auf Friedel gehen auch die Straßenbenennungen der Togo- und Kamerunstraße im so genannten Afrikanischen Viertel in Berlin-Wedding zurück. Außerdem wird in der Ausstellung berichtet: „1912 stellt Friedel in einem Artikel im Monatsblatt des Geschichtsvereins Brandenburg befriedigt fest, dass die meisten seiner eigenen Kolonialisierungsvorschläge inzwischen zur Ausführung gebracht sind (…)."
In diesem Zusammenhang ist an zwei Stellen im Ausstellungsraum ein etwa einstündiger Film zu sehen, der die zahlreichen Verantwortlichen der Dekoloniale zu Wort kommen lässt und auf den Prozess der Entstehung der Ausstellung zurückblickt – mit teilweise sehr unterschiedlichen Perspektiven. Keine Frage, das Stadtmuseum hat sich mit dieser faszinierenden, vielfältigen Ausstellung auf den Weg gemacht, sich der eigenen Kolonialgeschichte zu stellen. Man darf gespannt sein, was da zukünftig noch entwickelt wird, im Museum Nikolaikirche im Herzen Berlins.
Man darf aber auch gespannt sein, wie sich dieser neue Fokus künftig in Beziehung setzt zur Bedeutung der Nikolaikirche als Erinnerungsort des deutschen Protestantismus. Als 2007 im Raum das große Paul-Gerhardt-Jubiläumsjahr zu dessen 400. Geburtstag stattfand, wurde die Begegnung Gerhardts mit seinem Kantor Johann Crüger ab den 1640er-Jahren als „Sternstunde des deutschen Kirchenliedes“ bezeichnet. Diese Begegnung fand in und um die Nikolaikirche statt. Das nächste Gedenkjahr steht vor der Tür, wenn 2026 an den 350. Todestag von Paul Gerhardt gedacht wird. Die Dauerausstellung zu diesem Thema steht momentan unverbunden inmitten der Dekoloniale und wie gehabt auf der Orgelempore. Nun haben Paul Gerhardt und sein Kantor Johann Crüger in Form der Dekoloniale-Ausstellung in besonderer Weise Besuch bekommen. Die Frage lautet – in leichter Abwandlung eines bekannten Adventslieds des großen Barockdichters: „Wie soll’n wir uns empfangen?“
Information
Die Ausstellung „Dekoloniale – Was bleibt“ ist noch bis 25. Mai im Museum Nikolaikirche in Berlin-Mitte zu sehen.
Weitere Informationen hier: www.stadtmuseum.de (Suchbegriff: Dekoloniale)
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.