Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Dorothee Löhr. Sie ist Pfarrerin in Mannheim.
Heilende Arznei
Sonntag Reminiszere, 16. März
Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. (Johannes 3,14)
Die Geschichte, auf die Johannes 3,4 anspielt, ereignet sich auf der Wüstenwanderung, beim Auszug der Israeliten aus Ägypten (4. Mose 21,4–9). Sie möchten nicht mehr weitermachen, denn alles ekelt sie an. Sie meinen, dass es in Ägypten, in der Sklaverei gar nicht so schlecht gewesen sei. Jedenfalls war das Essen besser.
Schließlich entzieht ihnen Gott für kurze Zeit seinen Schutz: Eine Schlangenplage beginnt. Und erst die eherne Schlange an der Stange beendet das Sterben. Die Schlange an der Stange kennt man als das Arztsymbol, Zeichen des Äskulap, ein Heilszeichen. Jedes Gift, das zum Tod führt, kann, richtig angewendet, heilsam sein und bei richtiger Dosierung das Leben retten.
Die Schlangengefahr rettet die Israeliten aus ihrer Gottesferne. Denn in ihrer Not vertrauen sie wieder Gottes Rat und dem Zeichen des Mose, das nicht aus Gold ist wie das Kalb und den Blick auf alles Gute und Schöne richtet, sondern auf die Not, die eigene und die fremde. Und die Kinder Israels lernen: Die Schlange an der Stange lockt zurück in ein näheres, vertrauensvolleres Verhältnis zu Gott.
Jesu Tod ist uns vor Augen gestellt als Schutz gegen Streit und Unwichtiges, als Heilung von Glaubensabfall und Todesangst. Jesus bezieht die Schlange an der Stange auf sich und sein Sterben. Geheimnisvoll sagt er dem Nikodemus: Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Die Schlange steht zwar für den Tod, aber der Tod Jesu steht für Rettung. Dadurch, dass er im Tod erhöht wurde, kam die Rettung für alle. Aufblicken zu Jesus am Kreuz – das hat die gleiche Wirkung wie damals in der Wüste: Wer vertrauensvoll zu ihm aufblickt, wird gerettet. Jesus wirkt als Heilmittel, als Arznei. Die Schlange an der Stange ist ein Symbol dafür, dass Jesus der Heiland ist.
Wichtige Erinnerung
Okuli, 23. März
Des Herrn Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. Da dachte ich: Ich will … nicht mehr in seinem Namen predigen. (Jeremia 20,8–9)
Die fünfte Klage in den Konfessionen des Propheten Jeremia ist der (zu) großen Last seines Amtes gewidmet. In Zeiten von Frevel und Gewalt will Jeremia den Namen Gottes nicht mehr predigen. Wie in den Rachepsalmen tönt es hier: „Lass mich deine Rache an ihnen sehen, denn dir habe ich meine Sache befohlen“ (Jeremia 20,12). Das betet ein verzweifelter Prophet, der einfach nicht mehr kann.
Verfasser von Rachepsalmen bitten Gott um Hilfe und schreien Verzweiflung, Empörung und Rachegelüste heraus.
Die Gebetssprache muss – Gott sei Dank – nicht politisch korrekt sein. Jeremia kann Gott anklagen und ihm Vorwürfe machen. Denn er fühlt sich von Gott überredet und verlassen. Schon bei seiner ersten Berufung wendet er ein, dass er „zu jung“ ist (Jeremia 1,6). Aber er kommt von seinem prophetischen Auftrag nicht mehr los. Alles kann er Gott, seinem Auftraggeber, erzählen, auch von Zweifeln und Verzweiflung im Angesicht der Unwirksamkeit seiner Sendung und Worte. Und doch weiß Jeremia, dass er sich nicht selbst an seinen Widersachern und Feinden rächen muss. Auch wenn er in der gegenwärtigen Situation weder ihren Fall noch die Rache Gottes sehen kann.
Am Sonntag Okuli erinnern der so bedrängte Prophet und sein Gebet daran, dass Gott uns auch in unsicheren Zeiten sieht, dass er die Not hört und aus den Händen der Boshaften errettet.
Voller Sehnsucht
Lätare, 30. März
Jesus sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. (Johannes 6,48)
Der Evangelist Johannes erzählt nicht von Weihnachten, auch nicht vom Brotbrechen beim Abendmahl. Und das Vaterunser kommt bei ihm ebenfalls nicht vor. Stattdessen das Ich-bin-Wort: Ich bin das Brot des Lebens, wer mir nachfolgt, hat das ewige Leben. Die geheimnisvolle Abendmahlsrede des Johannes steht etwas verfrüht und geheimnisvoll im Anschluss an die Speisung der Fünftausend. Diese wird von anderen mit dem Manna verglichen, das Gott den Kindern Israel in der Wüste schickte, als sie vor lauter Hunger in die Gefangenschaft zurückwollten und gegen Mose murrten. Aber Jesus lehnt den Vergleich mit Mose ab. Das Manna hat die Leute trotzdem sterben lassen, sagt er provokativ seinen Gesprächspartnern, die ihm eine Verständigungsbrücke bauen wollen.
Immerhin – würde ich Jesus gerne widersprechen – lehrte das Manna die Menschen, dass Himmelsbrot nicht auf Kosten der anderen gesammelt und gehortet werden kann. Es ist nämlich vergänglich, nicht haltbar, wie das Volk in der Wüste feststellen musste. Aber einen Vergleichspunkt zwischen dem Manna in der Wüste und Jesu Brot des Lebens gibt es: Auch die Speisung Jesu, das Mahl und das Wort vom Fleisch, erzeugt Murren und Unverständnis, so dass viele sich abwenden. Die Brotrede ist also umstritten, aber kurz: „Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit“ (Johannes 6,51).
Auch die fremdartige Weihnachtsgeschichte des Johannes ist umstritten, aber kurz. Sie erzählt nicht von Bethlehem, sondern vom Fleisch: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Johannes 1,14).
Jesus wurde ein Mensch aus Fleisch und Blut, sterblich – und zugleich Weg und Brücke in die Ewigkeit. Fleisch und Blut kann das nicht verstehen, sondern Gott selbst muss in uns diese Erkenntnis wecken.
Wir ahnen, dass wir nicht ewig sind, und unsere Umwelt auch nicht, bemühen uns aber um Nachhaltigkeit. Und zwar ganz erdig-irdisch. Dazu gehört die Einsicht, dass wir sterblich sind und Verantwortung tragen gegenüber Gott und seiner Schöpfung. Dass alle zu essen und zu atmen bekommen, auch in Zukunft, für Leib und Seele. Und wir glauben, dass das auch unser christlicher Auftrag ist. Deshalb haben viele Gemeinden Umweltteams gegründet und Schöpfungsleitlinien formuliert. Das ist folgerichtig: Denn Jesus ist das Nachhaltigste, was uns passieren kann, unsere Verbindung zur Ewigkeit. Er nährt uns nachhaltig, hält die Sehnsucht und den Hunger nach einem besseren Leben wach, bindet uns ein in die Schöpfung und gibt eine Orientierung, die über den Tag hinausweist.
Auf die Dauer brauchen wir mehr Hunger und Sehnsucht nach dem besseren Leben für alle. Und das Abendmahl ist ein nachhaltiger Vorgeschmack dafür: Gott teilt sein fleischliches Leben mit uns, gibt sich uns in Brot und Wein. Jesus, das Brot des wahren Lebens, hält die Hoffnung wach, dass wir durstig, hungrig und voller Sehnsucht bleiben, dass wir uns nicht auf Kosten anderer überfressen, sondern uns gemeinsam auf den Weg machen, aufstehen schon jetzt, gestärkt in seiner Gegenwart und genährt für die Ewigkeit.
Trotz alledem
Judika, 6. April
Da sprach Pilatus zu ihm: So bist Du …ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. (Johannes 18,37)
In den anderen Evangelien wäscht der römische Statthalter Pontius Pilatus seine Hände in Unschuld, ein paradoxes Symbol für Machtmissbrauch, eine hilflose und wenig überzeugende Geste, die ihn berühmt gemacht hat.
Pilatus versucht, neutral zu bleiben, aber es gelingt ihm nicht. Und schließlich wird er es sein, dessen Name für immer mit der Kreuzigung Jesu erwähnt wird. Sein Name taucht in Verbindung mit dem Tod Jesu beim jüdischen Historiker Josephus auf, in den römischen Annalen des Tacitus und im Apostolischen Glaubensbekenntnis.
Die Johannespassion erzählt besonders viel über den im besetzten Palästina verhassten Politiker. Schließlich wird er von Rom abberufen, nicht wegen der Kreuzigung Jesu, sondern weil er einen Aufstand zu brutal niedergeschlagen hat. Ausgerechnet dieser schillernde Vertreter der römischen Besatzungsmacht ist es, der Jesu Kreuz beschriften lässt, aufwendig in den drei für Palästina relevanten Sprachen, der hebräischen des Volkes, der lateinischen der Besatzer und der griechischen, dem Englisch der Antike, Sprache des Neuen Testaments und der ersten Christen. Als wollte Pilatus verhindern, dass Jesu Tod unbeachtet oder anonym bleibt, wie der der meisten Gekreuzigten.
Pilatus scheint beeindruckt von der schweigenden Souveränität Jesu: „Sehet, welch ein Mensch“, ruft er dem Volk zu (Johannes 19,5). Aber Jesu Misshandlung durch die Soldaten verhindert Pilatus nicht. Letztlich kommt Pilatus aus seiner Rolle als taktierender Politiker zwischen den Fronten nicht heraus. Vielmehr wirkt er wie ein Spielball der Angst, vor dem fernen Kaiser in Rom und dem nahen Volk in Palästina.
Im Gegenüber zu Jesus wird nämlich offenbar, wer Pilatus ist. Jesus sagt zu ihm: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre“ (Johannes 19,11). Je größer der Einfluss ist, den ein Mensch ausübt, desto genauer ahnt er (meist), wie begrenzt seine Gestaltungsspielräume sind. Auch wer keine größeren politischen Ämter ausfüllen muss, wird ständig Zeuge des Unrechts, besonders als Medienkonsument. Aber wir denken, dass wir nichts machen können. Und meistens stimmt das – auch wenn wir deshalb nicht unschuldig sind. Warum musste Jesus sterben? Und was hat sein Tod verändert? Das Johannesevangelium beantwortet die Fragen nicht direkt. Aber es deckt auf, wie Menschen immer wieder handeln, schuldig werden und sehenden Auges in aussichtslose Situationen geraten, auch wenn sie das oft nicht wahrhaben wollen.
Jesus ist der ruhende Pol, obwohl andere scheinbar das Heft des Handelns in der Hand haben. Pilatus gibt Anweisungen, läuft zwischen Jesus und dem aufgebrachten Volk hin und her, sitzt zwischen allen Stühlen, des jüdischen und des römischen Rechtes. Aber seine Bemühungen schaffen keine Klarheit, sondern verstricken ihn und alle um ihn herum in immer größeres Unrecht. Aber in diesen Rechtfertigungsbemühungen und Schlichtungsverhandlungen, der Aufgebrachtheit und Unklarheit bestimmt ein anderer die Szene: Jesus. Er sagt nicht viel und unternimmt nichts zu seiner Verteidigung. Seine Ruhe beherrscht das Geschehen in geheimnisvoller Weise, er allein ist mit sich und mit Gott im Reinen. „Es ist vollbracht“, sind seine letzten Worte. Dann neigte er sein Haupt (Johannes 19,30) und verschied, das heißt wörtlich: „übergab den Geist“. Man könnte auch übersetzen: „Er gab den Geist Gottes weiter." Sein Leiden geschieht in vollständiger Übereinkunft mit dem Willen Gottes. Sein Sterben ist freiwillige Heimkehr, und sein Tod offenbart allenfalls die Angst der Menschen und die Grenzen der Macht des Pilatus.
Es ist schon oft beobachtet worden, dass Jesus beim Evangelisten Johannes zwar leidet, aber ruhig und gefasst ist. Schon vorher hatte er seinen Tod als Erhöhung angekündigt und aufgefasst. Das Kreuz macht ihn nur vordergründig einsam und hilflos. In Wahrheit zeigt er im Sterben den Weg für uns alle. Er gibt dem schlimmen Tod eine Würde und verbindet uns durch den Tod hindurch zum Leben mit Gott – allem Unrecht und Leiden in der Welt zum Trotz.
Dorothee Löhr
Dorothee Löhr ist Pfarrerin in Mannheim. Sie ist Mitglied in der Jury des Predigtpreises.