„Und ich werde fast wie du“
Angesichts der so viele Opfer fordernden blutigen Feindschaft zwischen Israel und seinen Nachbarn fragt man sich verzweifelt, ob es nicht eine gemeinsame Tradition zwischen den Verfeindeten gibt, die einen Ausweg aus der Eskalationsspirale des Konflikts eröffnet. In diesem Kontext ist mir Franz Rosenzweigs Lessing-Vortrag von 1919 eingefallen, in dem er von „messianischer Freundschaft“ zwischen Juden und Christen sprach und pointiert sagte: „Nur weil du Edom bist, darf ich Jaakob sein.“
Dieser Satz aus einem Drama Richard Beer-Hofmanns, Jaakobs Traum, bezieht sich auf den biblischen Konflikt zwischen den Zwillingsbrüdern Jakob und Esau. Daraus hat sich eine Tradition entwickelt, bei der Esau, im Judentum üblicherweise Edom genannt, zum Symbol für die Feinde der Juden wurde. Jetzt aber: „Nur weil du Edom bist, darf ich Jaakob sein.“ Für Rosenzweig führt dabei die Anerkennung der Alterität des anderen zu seiner Daseinsberechtigung. Heute wäre das die Zweistaatenlösung auf der Basis des Oslo-Abkommens, die Rückgabe des Westjordanlands und die Anerkennung Israels durch alle arabischen Staaten und auch durch den Iran.
Eine zweite Quelle für ein anderes Verhalten ist für mich das Heine-Gedicht An Edom. Es ist im Oktober 1824 entstanden, ein Judenpogrom war der Ausgangspunkt: „Ein Jahrtausend schon und länger / Dulden wir uns brüderlich, / Du, Du duldest, daß ich atme, / Daß Du rasest, dulde ich. Manchmal nur in dunklen Zeiten / Ward Dir wunderlich zumut / Und die liebefrommen Tätzchen / Färbtest Du mit meinem Blut. / Jetzt wird unsere Freundschaft fester. / Und noch täglich nimmt sie zu, / Und ich selbst begann zu rasen, / Und ich werde fast wie Du.“ Dieses „fast“ ist entscheidend. Es ist eine Barriere vor dem Wunsch nach totaler Vergeltung, nach rächender Raserei. Ganz aktuell gefragt: Musste Israel auf das schreckliche an die Shoah erinnernde Vernichtungs-attentat der Hamas am 7. Oktober 2023 mit dem Schrecken einer gewaltigen Militärmaschine antworten, die in dem Furor, die mörderische Hamas ein für alle mal zu vernichten, den Gazastreifen in die Steinzeit zurückbombt und dafür Zehntausende Opfer in Kauf nimmt? „Und ich werde ‚fast‘ wie du“ – wie hätte dieses „fast“ vor einem Jahr aussehen können?
Der israelische Historiker Moshe Zimmermann erinnerte in einem Interview im Deutschlandfunk am 6. Oktober 2024 daran: Es gab eine Alternative, betonte er. Erst einmal warten, diplomatische Gespräche führen, auf Freunde hören, die möglicherweise abraten, selektiv Druck auf die Hamas ausüben, immer wieder Angebote machen, um die verschleppten Geiseln zurückzubringen, und so weiter. Statt sofort einen Kriegszug zur Vernichtung der Hamas zu beginnen, der zwangsläufig mit der Zerstörung des Gazastreifens und mit großen Opfern unter der Zivilbevölkerung enden muss, weil die Hamas diese als Schutzschild benutzt. Und der doch mit der Absicht der totalen Vernichtung der Hamas (so sehr sie zu wünschen ist) ein illusionäres Ziel verfolgt weil wie bei der Hydra jedem getöteten Hamas-Kämpfer doch zwei neue erwachsen und palästinensische Feindschaft gegenüber Israel durch die vielen unschuldigen Opfer in Gaza erneut verewigt wird.
Dieses Heinische „fast“, dieses Zögern ist außerordentlich wichtig. Weitab von den konkreten Leidenssituationen der Israelis und Palästinenser will ich keine wohlfeilen Ratschläge erteilen, nur zaghaft erinnern an die Möglichkeiten des Zögerns und an die messianische Anerkennung des jetzt noch feindlichen Anderen: „Nur weil du Edom bist, darf ich Jaakob sein.“
Am 6. Oktober 2024 bin ich in Hamburg an dem Marsch „Run for their lives“ zur Freilassung der damals noch in Hamas-Haft verbliebenen 101 Geiseln mitgelaufen. Es sprach vorher auch der Landesrabbiner Bistritzky. Er sprach mit Recht von dem Leiden der Opfer und der großen Trauer ihrer Angehörigen. Leider erinnerte er nicht an die kaum glaubbare Möglichkeit eines Friedens durch gegenseitige Anerkennung. Aber wer, wenn nicht die Vertreter der Religionen, die den Schalom Gottes, den Frieden auf Erden verkündigen, sollten daran erinnern!
Als am 18. Januar 2025 nach zähen Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas der Waffenstillstand vereinbart wurde, merkte der israelische Historiker Amir Teicher in der SZ an, diesen Deal hätte man auch schon vor einem Jahr aushandeln können. Israel wie der Gaza-Bevölkerung wären damit sehr viel Leid und Tod erspart geblieben. Die eigentliche Voraussetzung für eine friedliche Zukunft aller hier Lebenden sei damit noch nicht gegeben. Auch wenn das Leiden für alle noch lebenden verbliebenen Geiseln aufhören würde und die Gaza-Bewohner in ihre zerstörten Häuser zurückkehren könnten – hat damit schon der Weg zur Heilung und Versöhnung von Jakob und Edom begonnen? Trotzdem sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass aus dem Waffenstillstand vom Januar sich ein wirklicher Frieden entwickeln könnte!
Hans-Jürgen Benedict
Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich der Literaturtheologie.