„Dort sind alle sehr freundlich“

Leben und Feiern in iranisch-afghanischen Emigrantengemeinden in Berlin
Kommunion im Gottesdienst der persischen Gemeinde in Berlin-Steglitz, März 2024.
Foto: Liane Wobbe
Kommunion im Gottesdienst der persischen Gemeinde in Berlin-Steglitz, März 2024.

Am 20. März wird das traditionelle persische Neujahrsfest Nowruz gefeiert. Unsere Autorin Liane Wobbe war im vergangenen Jahr dabei, als es von iranischen und afghanischen Christen in einer evangelischen Gemeinde in Berlin begangen wurde. Die Religionswissenschaftlerin erzählt von den Gefühlen der Emigrierten und den leider berechtigten Ängsten vor der Abschiebung durch deutsche Behörden.

Im Saal der Dreieinigkeitsgemeinde in Berlin-Steglitz herrscht große Aufregung. Denn Frauen, Männer und Kinder aus dem Iran und Afghanistan feiern heute Nowruz, das persische Neujahr. Neben dem Eingang befindet sich die Sofreh, eine festlich gedeckte Tafel mit sieben Gaben, die für Neuanfang stehen: ein Apfel, Essig, Knoblauch, Hyazinthen, eine Kerze, ein Spiegel und gekeimte Weizenhalme. Da die Namen aller sieben Gaben mit dem persischen Buchstaben „Sin“ beginnen, werden sie auch Haft Sin, Sieben Sin, genannt. Ein Kreuz inmitten der Neujahrsgaben verbindet die christliche Botschaft mit persischer Tradition. Gehört in Iran zur Tischdekoration eigentlich ein Gedichtband des persischen Dichters Hafiz, ersetzt hier eine Bibel diesen Neujahrsschmuck. Während einige Gäste vor der Nowruztafel Fotos von sich und dem Pfarrer machen, nehmen andere an den Tischen Platz. Kinder toben, stopfen sich Süßigkeiten in den Mund. „Nowruz ist für unsere iranischen und afghanischen Gemeindeglieder wie Weihnachten“, so der Pfarrer. „An diesem Tag soll niemand allein sein!“

Nun tragen junge Männer das Festessen herein: Sabzi-Polo, Safran-Kräuterreis mit Hähnchen. Die Teller sind fast leer, als iranische Popmusik aufspielt. Frauen, Männer, Kinder bewegen sich jubelnd in die Mitte des Raumes, fassen sich an und drehen sich tanzend im Kreis. „Zu Hause gibt es auch Geschenke", verrät der Tischnachbar. „Da lege ich Geldscheine in ein Buch, genau in die Mitte. Diese dürfen sich unsere Kinder dann herausziehen.“ Das Buch ist ein Gedichtband des persischen Dichters Hafiz.

Die Dreieinigkeitsgemeinde in Berlin-Steglitz gehört zur Selbständig-Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK). Sie wurde zur zweiten Heimat für geflüchtete Personen aus Iran und Afghanistan, die vom Islam zum Christentum konvertierten. Mit 1620 Mitgliedern, überwiegend persischsprachig, bildet sie die größte ihrer Art in Berlin. Betreut wird sie von Pfarrer Gottfried Martens, der seinen Gemeindegliedern nicht nur geistlichen Beistand bietet, sondern auch Asylberatung und Unterkunft. Er spricht fließend Persisch und hält auch die Gottesdienste in dieser Sprache. Das Gemeindeleben indes ist von afghanischen und iranischen Traditionen geprägt. Waren ausländische Besucher in seiner alten Zehlendorfer Gemeinde in der Minderheit, kamen nach der Taufe des ersten Iraners 2011 zunehmend Geflüchtete aus dem Iran und Afghanistan zu ihm und baten um Aufnahme. Da dies wiederum unter den Ansässigen für Unmut sorgte, zog Gottfried Martens mit seiner persischen Gemeinde 2013 nach Steglitz.

„Das ist hier die beste Gemeinde und der Pfarrer der beste Pfarrer“, schwärmt M., eine Frau aus Teheran. „Andere Pfarrer gehen nach dem Gottesdienst nach Hause. Er nimmt sich Zeit für uns, rund um die Uhr.“ In der Tat kümmert sich Gottfried Martens Tag und Nacht um die unzähligen Anliegen iranischer und afghanischer Geflüchteter. Es scheint, als sei die Gemeinde seine Familie, als gäbe es keine Trennung zwischen Arbeit und Privatleben. So drängen sich die Menschen auch nach dem Gottesdienst um ihn, fragen, wie sie einen sicheren Aufenthaltstitel erhalten, bitten um Hilfe bei familiären, beruflichen und seelischen Problemen. Und es werden mehr und mehr, denn die Gemeindeglieder bringen stets neue Landsleute mit. Die Eingeladenen kommen zuerst zu den Gottesdiensten, manchmal zu den Bibelstunden. Wer getauft werden möchte, besucht den Taufunterricht. Bei Asylverhandlungen bereitet er die Menschen darauf vor und begleitet sie in den Gerichtssaal. Männer, denen eine Abschiebung droht, finden bei Martens Kirchenasyl.

Warum aber wollen ausgerechnet so viele Menschen aus dem Iran und Afghanistan Christen werden? Das Interesse am Christentum im Iran begann vermutlich in den 1960er-Jahren, als die amerikanische Pfingstbewegung verschiedene Missionsgemeinden im Land etablierte, unter denen als bekannteste die Jama’at-e Rabbani galt. Mit einer Gottesdienstsprache und Bibelübersetzung ins Persische ernteten sie einen großen Zulauf an Muslimen. Nach Ausrufung der islamischen Republik 1979 ging diese Missonsgemeinde in den Untergrund und ist bis heute in Hauskreisen aktiv. Auch wendeten sich bald viele gebildete Menschen aus der Mittelklasse vom Islam ab. Gottfried Martens: „Da die Regierung im Iran islamisch geführt ist, hat die Kritik am Regime auch einen Rückzug vom Islam zur Folge.“ Hier bot das Christentum vielleicht auch als Protestreligion und Symbol für Freiheit ein geeignetes Auffangbecken.

Mit dem Hauptanteil von Menschen mit einer iranischen und afghanischen Herkunft geht einher, dass die Gemeinde überwiegend ein schiitisch-muslimischer Hintergrund eint. Denn sowohl die aus dem Iran stammenden Familien als auch die aus Afghanistan kommenden jungen Männer, die zur Ethnie der Hazara gehören, sind schiitisch geprägt. Nach schiitischer Überlieferung ließen viele Imame aus Hingabe zu Gott ihr Leben im Kampf gegen ihre Widersacher. „Das könnte der Grund dafür sein, dass gerade Schiiten sich von der Verkündigung des Leidens Christi angezogen fühlen“, vermutet Martens.

Dieses persische Gemeindewachstum wird im evangelikalen Spektrum gern als Wunder von Steglitz präsentiert. Da fragen sich Medien- und Behördenvertreter dann häufig: Sind die Bekehrungen, echt oder geht es nur um Vorteile im Asylverfahren? Martens vertritt eine streng lutherische Theologie und fordert als Voraussetzung für die Taufe den uneingeschränkten Glauben an Jesus als Gottes Sohn. Für die Täuflinge wiederum bedeutet das die Absage an das muslimische Gottesverständnis. Denn im Islam hat Gott keinen Sohn, und Jesus gilt als Prophet. Da auf solchen Glaubenswandel die Ächtung der Familie sowie der Tod im Heimatland stehen können, lässt der neue Glaube wohl auf einen hohen Überzeugungsgrad schließen.

Herzliche Umarmung

Jeden Sonntag versammelt sich die Gemeinde zum Mittagessen, um 13 Uhr beginnt die Messe. Emotional klingen die persischen Kirchenlieder mit Melodien iranischer Filmmusik aus den 1980er-Jahren. Untermalt von Liedtexten in persischer und lateinischer Schrift – damit auch deutsche Besucher mitsingen können. Nach der Predigt wird das Abendmahl gefeiert. Am Ausgang verabschiedet der Pfarrer dann jeden Gast mit einer herzlichen Umarmung und dem Gruß: Khoda hafiz, Gott beschütze Dich.

Gottfried Martens eignete sich in der Corona-Zeit die persische Sprache an, nun hält der Pfarrer die Gottesdienste und andere Veranstaltungen in Farsi (Persisch). So entwickelte sich allmählich ein Gemeindeleben mit persischer Gottesdienstliturgie und persischem Bibel- und Taufunterricht. Doch lassen sich nicht alle theologischen Begriffe ins Persische übertragen. Im Hinblick auf ein lutherisches Selbstverständnis wird stets abgewogen, ob adäquate persische Übersetzungen nicht zu sehr im Kontext islamischer Theologie stehen. So bleibt das Gebet zwar das arabische Dua, für den christlichen Gott aber verwendet man den persischen Namen Khoda. Die Gemeinde selbst bezeichnet sich gern als: Kolbeh Aramesh, Hütte des Friedens. Inzwischen entwickelte sich auch eine sehr herzliche Verbindung zwischen den wenigen deutschen Gemeindegliedern und den Geflüchteten – bis dahin, dass Deutsche das Vaterunser auf Farsi auswendig gelernt haben, was Martens damit kommentiert: „Genau das ist es, was unsere Gemeinde ausmacht, dass Einheimische und Geflüchtete so eng miteinander verbunden sind.“

Kinder des Lichts

Ortswechsel: Das Ehepaar Sousan und Stefan Rostami leitet eine iranische Gemeinde innerhalb der Berliner Stadtmission in Lichtenberg. Beide kommen aus Teheran, wo sie als Innendekorateure arbeiteten. 2012 wendeten sie sich dort dem Christentum zu und gründeten nach einer heimlichen Taufe einen Hauskreis. Nach ihrer Ankunft in Berlin 2013 trafen sie sich mit Landsleuten, die auch Christen waren, in einem Bibelkreis. Dieser wuchs allmählich zu einer Iranischen Gemeinde heran, die im September 2017 in der Berliner Stadtmission eingesegnet wurde und sich Farzandane Noor – Kinder des Lichts nennt.

Zum Gottesdienst am Sonntag um 11 Uhr kommen etwa 80 Menschen aus dem Iran zusammen, um gemeinsam zu singen, zu beten und den Botschaften von Sousan und Stefan Rostami zu lauschen, in Lichtenberg, inmitten von Neubaublöcken und vietnamesischen Supermärkten im Gemeindezentrum der Berliner Stadtmission. In dem abgedunkelten Gemeindesaal sorgen Lichterketten und eine Band, die auf der Bühne spielt, für eine partyähnliche Stimmung. Frauen und Männer stehen in den Stuhlreihen und singen rhythmische popmusikartige Lieder in Farsi. Zu den lebhaften Melodien bewegen sich die Gottesdienstbesucher tanzend hin und her, klatschen, machen hohe trillernde Geräusche. Alle scheinen emotional ergriffen. Dann folgt die Predigt von Stefan Rostami, es geht um Identität: „Wenn Ihr Eure wahre Identität kennt, dann wisst Ihr, dass Ihr Kinder Gottes seid.“ Er ermutigt seine Gemeinde, sich gerade in Krisenzeiten immer ihrer göttlichen Identität bewusst zu sein. Applaus folgt, manche stellen Fragen, lachen oder machen sich Notizen. Beim nächsten Lied gehen einige Besucher nach vorn, und Sousan Rostami legt ihnen nacheinander die Hand auf den Kopf. Die Segenszeremonie hat etwas Beruhigendes, fast Therapeutisches. Anschließend versammeln sich alle bei Tee, Kaffee und gefülltem Fladenbrot im großen Gemeinschaftssaal, finden eine Auszeit zum Alltag, den Austausch mit Menschen gleicher Herkunft, Trost und Kraft – sie fühlen sich wie eine Familie.

Wie eine Familie

Bafrin, eine Frau in den Dreißigern, ist ein langjähriges Mitglied der Gemeinde. Sie erzählt: „Das persische Wort Baf heißt Schnee. Ich stamme aus einem kurdischen Dorf im Iran. Da zu meiner Geburt unser Haus eingeschneit war, konnte meine Mutter nicht ins Krankenhaus fahren, und ich wurde im Haus geboren. Deshalb nannte sie mich Bafrin – die Schneebedeckte.“ Als sie nach Deutschland kam, wohnte sie in der Flüchtlingsunterkunft der Berliner Stadtmission. „Die Menschen waren hier so nett und haben sich sehr um uns gekümmert.“ In einem persischen Bibelkreis lernte sie Sousan und Stefan kennen. „In Iran hatte ich gar nichts mit Persern zu tun, und mit Christen schon gar nicht“, sagt sie. „Aber hier in Deutschland fühle ich mich ihnen sehr verbunden.“ Was sie vermisst? „Die Gemeinschaft. Im Iran machen Menschen immer etwas gemeinsam. In Deutschland ist jeder für sich.“ Deshalb ist sie froh, dass sie die Lichtenberger Gemeinde gefunden hat, und lobt die Berliner Stadtmission: „Dort sind alle sehr freundlich.“

Da Sousan und Stefan im Iran sowohl Muslime als auch Christen waren, teilen sie mit ihrer Gemeinde eine gemeinsame Geschichte, auch die Geschichte der Flucht. „Viele sind allein nach Deutschland gekommen. Viele leiden unter der Trennung von der Familie. Hier dient unser Segensritual am Ende des Gottesdienstes dazu, den Menschen eine familiäre Umarmung zu geben."

Nach den Erfahrungen der Menschen beider Gemeinden erhält die Mehrheit asylsuchender Christen aus dem Iran und Afghanistan in Deutschland einen Abschiebebescheid, obwohl gerade für sie eine Rückkehr lebensgefährlich sein kann. Selbst eine Klage wird auf den Gerichtsverhandlungen, zu denen es erst nach Jahren kommt, meist vom Richter abgewiesen. Warum? Entweder wird ihnen der Verfolgungsstatus im Herkunftsland abgesprochen oder es liegt an der Skepsis gegenüber ihrer christlichen Gesinnung und an dem Vorurteil, sich nur für das Christentum zu entscheiden, um in Deutschland bleiben zu können. „Viele Richter setzen Maßstäbe zur Beurteilung des Christseins von Geflüchteten, die mit kirchlichen Maßstäben nichts zu tun haben.“ Selbst wenn Martens seine Gemeindeglieder mit Aussagen vor Gericht unterstützt, fällt die Entscheidung teilweise zu Ungunsten des Geflüchteten aus.

Unterhält man sich mit iranischen und afghanischen Christen, spürt man bei vielen einen hingebungsvollen Glauben. Da sie sich als Muslime, und als Christen erst recht, in ihrem Heimatland bedroht fühlten, verließen sie es und nahmen lebensgefährliche Routen auf sich. In Deutschland nun bemühen sie sich um Arbeit, die deutsche Sprache und das Verständnis eines westlich geprägten Christentums. Umso trauriger ist es für sie, wenn sie bei Gericht dafür eine Ablehnung erfahren – mit dem Vorwurf, Muslime würden nur konvertieren, um nicht abgeschoben zu werden.

In den vergangenen 15 Jahren entstanden in mehreren Städten Deutschlands persische Gemeinden. Dabei fällt auf, dass sich Geflüchtete meist in konservativen oder pfingstlich geprägten Kirchen niederlassen. Das mag zum einen an der bibeltreuen Ausrichtung, den gut ausgeprägten Autoritätsstrukturen und einem klaren Gottesbild liegen. Ein anderer Faktor könnte sein: Viele Geflüchtete fühlen sich einsam in einer Welt, deren Kultur ihnen fremd ist und deren Sprache sie nicht verstehen. Da sorgen freikirchliche Christen mit ihrer einladenden Art häufig für ein Willkommensgefühl.

Nötig wären eine stärkere Transparenz dessen, was Flucht bedeutet, ein Mitgefühl für die Menschen, die ihr Leben riskierten, eine Wertschätzung der Kompetenzen, die sie mitbringen, eine Relativierung der eigenen gewohnten Sichtweise, die Neugier am Fremden und das Sich-Einlassen auf die Sprache geflüchteter Menschen. Dies wären gute Voraussetzungen für die Wiederbelebung verlorengegangener Werte wie Großzügigkeit, Zeit, Spontaneität und Gastfreundschaft in unserer westlichen Kultur.

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