Mit der Diagnose Frieden finden

Gespräch mit dem Demenzexperten Klaus Fließbach über die Diagnose, unterschiedliche demenzielle Formen, Risikofaktoren und neue Medikamente
Axel schaut auf die Alpenlandschaft aus einem Zimmer in Innsbruck.
Foto: Desideria Preis für Fotografie 2024/Dimitrij Rudmann
Axel schaut auf die Alpenlandschaft aus einem Zimmer in Innsbruck.

zeitzeichen: Herr Professor Fließbach, Sie haben einen Ratgeber mit einem provokanten Titel geschrieben „Demenz. Nicht jetzt!“. An wen richtet sich das Buch?

Klaus Fließbach: Ich möchte Betroffene und Angehörige gleichermaßen ansprechen. In den Beratungsgesprächen mit den Patienten ist es extrem wichtig, nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu reden, sondern in erster Linie mit ihnen zu kommunizieren. Was natürlich ab einem gewissen Schweregrad einer Demenz nicht mehr so ohne Weiteres möglich ist. Jemand, der eine schwere Demenz hat, wird dieses Buch nicht rezipieren und lesen können. Deshalb richtet es sich in erster Linie an Personen, bei denen die Demenzdiagnose im Raum steht, an Menschen, die sich noch in einem leicht beeinträchtigten Stadium befinden und bei denen zum Beispiel das Urteilsvermögen komplett erhalten ist.

Das heißt, trotz der Vergesslichkeit kann das Urteilsvermögen bei einer Demenz noch nicht beeinträchtigt sein?

Klaus Fließbach: Häufigste erste Symptome sind Gedächtnisstörungen bei der Alzheimer-Krankheit, der häufigsten Demenzform. Dann kann man sich zwar Dinge nicht gut merken, aber trotzdem Urteile fällen, Dinge gegeneinander abwägen und maßgeblich die weitere Planung mitgestalten. Sicher, die Diagnose ist niederschmetternd, denn Demenz ist etwas, das einen in den Grundfesten erschüttert und in Frage stellt. Wir definieren uns viel über unsere geistige Leistungs­fähigkeit. Und wenn diese beeinträchtigt ist, dann ist das eine Bedrohung für unser Selbstbild. Aber man bleibt trotz einer Demenz ein vollwertiger Mensch mit vielen Fähigkeiten.

Sie leiten die Gedächtnisambulanz des Universitätsklinikums Bonn. Wie nehmen Sie den Menschen die Angst vor einer demenziellen Erkrankung?

Klaus Fließbach: Der erste Schritt ist natürlich erst einmal zu klären, ob an der Befürchtung überhaupt etwas dran ist. Zum Beispiel sind Menschen, bei denen ein Elternteil an einer Demenz gelitten hat, manchmal überkritisch und nehmen Alterserscheinungen als extrem beunruhigend wahr. Das Zweite ist die wahrscheinlich wichtigste Differenzialdiagnose: Eine Depression kann sehr ähnliche Symptome aufweisen wie eine Demenz. Sie führt regelmäßig zu Einschränkungen der Konzentration und der Gedächtnisleistung. Das kann so weit gehen, dass der Patient wie dement wirkt. Und drittens geht es darum, prinzipiell behandelbare Ursachen auszuschließen. Jede Krankheit, die die Hirnfunktion beeinträchtigt, wie Durchblutungsstörungen, Infektionen, autoimmunologische Prozesse oder Tumorerkrankungen, kann letztlich das Bild einer Demenz hervorrufen. Sie sind aber gänzlich anders zu beurteilen und zu behandeln. Viertens geht die weitaus größte Zahl der Demenzfälle auf neuro­degenerative Erkrankungen zurück. Neurodegenerativ heißt, dass es um Abbauprozesse geht, die auf komplexe Stoffwechselprozesse im Gehirn zurückgehen. Bei diesen Erkrankungen lagern sich Eiweißaggregate ab, die die Krankheit neuropathologisch definieren. Bei der Alzheimer-Krankheit sind das unter anderem die Amyloid-Plaques, die man im Gehirn der Patienten findet. Bei diesen neurodegenerativen Erkrankungen gab es bisher keine ursächliche Behandlung.

Wenn die Diagnose dann Demenz heißt – wie reagieren die Menschen?

Klaus Fließbach: Zunächst einmal ist die Früherkennung in der Regel dienlich für Patienten und Angehörige, um ihre Situation besser verstehen und beurteilen zu können. Ein großes Thema ist die Unsicherheit im Umgang mit dem Ehepartner oder den Eltern. Nicht selten entstehen Konflikte. In der Regel hilft eine sauber gestellte medizinische Diagnose, diese Probleme und Unsicherheiten auszuräumen. Auch wenn ich letztlich die Diagnose stellen muss, habe ich trotzdem in aller Regel das Gefühl, dass die Patienten darunter nicht zusammenbrechen oder das als extreme Bürde empfinden. Nach einigen Tagen, wenn der erste Schock verdaut ist, sind sie erlöst von dieser Phase der Unsicherheit. Ich erlebe in der Regel die Patienten bei einem weiteren Termin, drei Monate später, oft als wesentlich sortierter, klarer und zukunftsorientierter als zuvor.

Wann genau spricht man von einer demenziellen Erkrankung?

Klaus Fließbach: Von Demenz spricht man, wenn eine über mehrere Monate hinweg nachlassende geistige Leistungsfunktion einen bestimmten Schweregrad erreicht hat. Das heißt, dass der Mensch bestimmte Dinge des alltäglichen Lebens nicht mehr ohne Hilfestellung leisten kann. Wie zum Beispiel die Finanzgeschäfte regeln, sich selber zu organisieren, den Haushalt zu managen, sich selber mit Nahrung zu versorgen, an der Gesellschaft teilzunehmen, Nachrichten und Medien zu rezipieren, mobil zu sein, also mit dem Auto zu fahren oder öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Wenn diese Bereiche aufgrund einer kognitiven Störung dauerhaft beeinträchtigt sind, sprechen wir von Demenz. Das ist eine sehr allgemeine und rein klinische Definition. Im Prinzip braucht man für die Diagnosestellung einer Demenz zunächst keine apparative oder laborchemische Untersuchung.

Welche Formen der Demenz gibt es?

Klaus Fließbach: Die häufigste Demenz ist mit zwei Dritteln der Fälle die Alzheimer-Krankheit. Sie ist eine neurodegenerative Erkrankung, bei der man bestimmte Eiweißablagerungen im Gehirn findet. Insgesamt gehen über 90 Prozent der Demenzfälle auf neurodegenerative Erkrankungen zurück. Die häufigste neben der Alzheimer-Krankheit ist die Parkinson-Krankheit und die eng damit verbundene Lewy-Körper-Krankheit. Sie machen etwa 10 bis 15 Prozent der Fälle aus. Dann gibt es eine Vielzahl von seltenen und ungewöhnlichen Demenzformen, die unter der Gruppe der Frontotemporalen Demenz zusammengefasst sind. Sie betrifft häufig relativ junge Patienten, die zum Beispiel durch schwere Störungen ihres Sozialverhaltens auffällig werden. Eine große Belastung und Herausforderung für die Angehörigen, die zum Glück nur relativ selten auftritt.

Wenn es sich bei der Alzheimer-Krankheit um die häufigste Demenzform handelt, welche sind die Risikofaktoren? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich an dieser Form der Demenz erkranke?

Klaus Fließbach: Der Hauptrisikofaktor ist das Alter. Bei den über 90-Jährigen liegt der Anteil der Menschen, die an irgendeiner Art von Demenz leiden, in der Größenordnung von einem Drittel.

Welche Risikofaktoren gibt es noch?

Klaus Fließbach: Eine Frage, die sich stellt, ist die nach dem familiären Risiko. Alzheimer ist in den seltensten Fällen eine rein genetische Krankheit. Rein genetische Krankheit bedeutet, dass ein defektes Gen vorhanden ist, das mit Sicherheit zur Krankheit führt. Ich persönlich kenne nur einen einzigen Patienten, der eine genetische Alzheimervariante hat. Diese Patienten erkranken meist schon sehr früh, mit 50 oder noch jünger, und in der Regel sind andere Fälle in der Familie vorhanden. Trotzdem gibt es auch eine genetische Veranlagung, die in der Größenordnung der großen anderen Volkskrankheiten liegt, wie Bluthochdruck, Diabetes, und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wenn Sie einen erstgradigen Verwandten mit Diabetes Mellitus Typ 2 haben, dann haben Sie selber auch ein erhöhtes Risiko für diese Erkrankung. So ist das bei Alzheimer in etwa auch. Bei erstgradigen Angehörigen hat man selber ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko gegenüber jemandem, der das nicht hat. Die anderen Risikofaktoren sind größtenteils dieselben wie bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Also Übergewicht, Bewegungsmangel, hoher Blutdruck …

Klaus Fließbach: Genau. Das sind die üblichen Verdächtigen, die für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein Risiko darstellen. Sie sind genau dieselben Risikofaktoren, die Alzheimer begünstigen. Wahrscheinlich, weil die beiden nicht unabhängig voneinander sind. So ist die Entstehung der Eiweißplaques, die Alzheimer verursachen, auch abhängig von der Durchblutung des Gehirns. Der Abtransport dieser Eiweißaggregate setzt ein funktionierendes Gefäßsystem voraus, so dass unter Umständen Gefäßschädigungen auch Alzheimer begünstigen können. Auch Depressionen im mittleren Lebensalter erhöhen das Risiko für Demenz.

Inwieweit ist die Alzheimer-Erkrankung behandelbar?

Klaus Fließbach: Es gibt Medikamente, die schon seit über 20 Jahren zugelassen sind und eine gewisse symptomatische Wirksamkeit haben. Mit ihnen kann unter Umständen sogar eine Verbesserung in den ersten Monaten erzielt werden, die Verschlechterung der Symptome wird aufgeschoben. Wirklich wichtig sind aber auch die nicht-medikamentösen Möglichkeiten. Um unsere geistige Gesundheit aufrechtzuerhalten, ist die körperliche Fitness unabdingbar. Wir müssen Bewegung, Muskelkraft und Koordination trainieren. Verordnete Therapien wie Physio- oder Ergotherapie ersetzen nicht die eigene Aktivität. Gegen den Willen des Patienten geht nichts, aber man sollte die Betroffenen stimulieren, auch selbst in ihrem Alltag aktiv zu bleiben. Das ist ein wichtiger Bestandteil und wahrscheinlich insgesamt genauso effektiv wie die Medikamente. Patienten mit der Diagnose Demenz kann ich als Arzt guten Gewissens das Ziel vorgeben, die Symptome erst einmal zwei Jahre lang auf einem stabilen Niveau zu halten. Ich versuche eine greifbare, realistische Vorgabe zu machen, mit der die Leute etwas anfangen können.

Wie stark die körperliche Fitness bei der Diagnose Demenz wirkt, ist den meisten Menschen sicher nicht bekannt. Bislang galt kognitive Stimulation als entscheidender Vorsorgefaktor, oder?

Klaus Fließbach: Ja, aber immer mehr aktuelle Studien zeigen, dass die Aufrechterhaltung der körperlichen Fitness eine ganz immense Rolle bei der geistigen Fitness spielt. Bewegung wie Schwimmen, Radfahren, Laufen, Spazierengehen ist das eine. Das Zweite ist die Muskelkraft, die im Alter natürlicherweise abnimmt. Die entsprechenden Forschungen legen nahe, dass Muskeltraining auch Nervenwachstumsfaktoren stimuliert, die der Demenz entgegenwirken. Drittens ist es wichtig, die Koordination zu trainieren. Tischtennis spielen ist eine hervorragende Therapie. Das ist ja kognitive Stimulation hoch zehn.

Welche Rolle spielt die Ernährung?

Klaus Fließbach: Ebenfalls eine bedeutende. Die so genannte mediterrane Diät, also wenig Fette, viel frische, unverarbeitete Lebensmittel, hochwertige Fettsäuren wie Omega 3 und B-Vitamine. Allerdings ist schwer zu beziffern, wie hoch der Effekt der Ernährung genau ist. Aber es gibt ihn, ohne Frage.

Und welchen Einfluss hat die eigene Einstellung zur Erkrankung?

Klaus Fließbach: Bei Krebserkrankungen weiß inzwischen jeder, dass die eigene Einstellung gegenüber der Erkrankung maßgeblich zum Behandlungserfolg beiträgt. Ich habe kürzlich den Direktor unserer Onkologischen Klinik sagen hören, dass der eigene Umgang mit der Erkrankung mindestens genauso wichtig ist wie die medizinische Behandlung. Das gilt für die Alzheimer-Erkrankung genauso. Ob ich resigniere oder nicht, ob ich mich dieser Krankheit mit Hilfe der Angehörigen aktiv entgegenstelle, ob ich meine Grundzuversicht behalte oder ob ich die Hoffnung aufgebe, all das spielt für den Krankheitsverlauf eine große Rolle. Die Grundlage für einen positiven Umgang mit der Erkrankung können natürlich auch Spiritualität oder Religion und Glaube sein.

Die neurogenerative Demenzerkrankung Alzheimer ist nicht heilbar. Nun gibt es das neue Medikament Lecanemab, das in den USA, Japan, China und Südkorea zugelassen ist. Ist das ein Meilenstein in der Erforschung und Behandlung der Alzheimer-Erkrankung?

Klaus Fließbach: Die Alzheimer-Krankheit ist, wie gesagt, durch spezielle Eiweißablagerungen gekennzeichnet, die Amyloid-Plaques im Gehirngewebe. Die kann man nicht in der Kernspintomographie erkennen, sondern nur durch Spezialuntersuchungen im Nervenwasser. Es gibt viele gute Gründe, die dafürsprechen, dass diese Amyloid-Plaques in der Tat so etwas wie der erste kausale Stein einer Kette von Ereignissen sind. Diese ersten Ablagerungen entstehen Jahre oder Jahrzehnte, bevor Patienten überhaupt irgendwelche Symptome bemerken. Das heißt, bisher behandeln wir immer nur Menschen, die schon die ersten Symptome entwickelt haben und bei denen die zur Krankheit führenden Prozesse schon seit Jahren stattfinden. Die große Frage war, ob man, wenn wir diese Amyloid-Ablagerungen bekämpfen, den Krankheitsverlauf beeinflussen kann?

Und kann man?

Klaus Fließbach: Die Antwort lautet: ja. Man hat inzwischen die Möglichkeit, relativ passgenau Antikörper zu produzieren. Antikörper sind die Eiweiße des Immunsystems, mit denen es Schädlinge wie Viren und Bakterien erkennt. Das Immunsystem sorgt dann dafür, dass die Schädlinge abgebaut werden. Die naheliegende Idee war, Antikörper zu erzeugen, die Amyloid-Ablagerungen markieren, und das Immunsystem auf sie anzusetzen. Vor zwei Jahren konnte zunächst für den Antikörper Lecanemab und kurz darauf für Donanemab eindeutig gezeigt werden, dass durch eine solche Behandlung ein positiver klinischer Effekt auftritt. In den jeweiligen Studien wurden Patienten in einem sehr frühen Stadium der Krankheit behandelt. Es zeigte sich, dass man den Verlauf innerhalb eines Zeitraums von 18 Monaten um etwa ein halbes Jahr verzögern konnte.

Einen Effekt von sechs Monaten oder mehr haben Sie aber auch den anderen Medikamenten beigemessen.

Klaus Fließbach: Bei den bisherigen Medikamenten ist es so, dass die Demenz fortschreitet, wenn man sie wieder absetzt. Weil nicht an dem Abbauprozess selber, an der Bildung dieser Plaques und im Absterben der Nervenzellen, eingegriffen wurde. Mit den neuen Medikamenten haben wir in den ursächlichen Krankheitsprozess eingegriffen.

Aber das heißt doch, dass zum ersten Mal die Ursachen behandelt werden anstatt der Symptome?

Klaus Fließbach: Wir nennen das ursächliche Behandlung gegenüber symptomatischer Behandlung. Im Englischen heißt es disease modifying. Wir modifizieren die Krankheit und nicht die Symptome. Möglicherweise sind die Effekte dieser Medikamente noch nicht gravierend. Allerdings können wir jetzt prüfen, bei wem es wirkt, bei wem nicht oder wer ein Risiko für Nebenwirkungen hat. Und testen, ob Patienten, die noch leichtere Symptome haben, noch mehr profitieren. Mit diesen Mitteln bekommt das Thema der Früherkennung daher einen völlig neuen Stellenwert. Je früher man diese Medikamente zum Einsatz bringt, desto besser wirken sie.

Wie läuft so eine medikamentöse Behandlung ab?

Klaus Fließbach: Derzeit sind das sehr aufwendige Therapien, bei denen der Patient alle 14 Tage be­ziehungsweise alle vier Wochen, je nach Medikament, eine Infusion bekommt, im Krankenhaus oder an spezialisierten Zentren. Die Behandlung ist noch nicht für alle verfügbar, sie kostet etwa 25 000 Euro im Jahr, noch gibt es viele Fragezeichen. Trotzdem ist damit ein Schritt getan, den ich noch vor zwei Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Ich habe nicht damit gerechnet, dass so ein Durchbruch kommt. Denn letztlich ist die Gemengelage wesentlich komplizierter. Alzheimer ist eine komplexe und nicht monokausale Erkrankung.

Die EU-Behörde EMA hat sich im November für die Zulassung ausgesprochen.

Klaus Fließbach: Die EMA hat die Zulassung empfohlen, die EU-Kommission muss das noch bestätigen. Dann gibt es auch noch eine deutsche Zulassungsbehörde, das Paul-Ehrlich-Institut. Zudem müssen die Kostenfragen geklärt werden, so dass ich damit rechne, dass noch einige Monate vergehen werden, bevor wir mit den Behandlungen beginnen können.

1,8 Millionen Menschen leben derzeit in Deutschland mit einer Demenz, 2050 werden es voraussichtlich 2,8 Millionen sein. Sind wir in Deutschland gut vorbereitet auf das, was auf uns zukommt?

Klaus Fließbach: Nein. Natürlich bin ich kein Versorgungsforscher. Doch ich bin seit 20 Jahren hier an der Klinik und sehe die Entwicklung in der Medizin. Vieles wird besser, es gibt immer neue Medikamente und riesige Fortschritte wie jetzt auch bei den Demenzerkrankungen. Aber die Versorgungssituation, die Ausstattung mit Pflegekräften, die Situation in den Senioren- und Pflegeheimen macht mir persönlich große Sorgen. Weil ich in dem Zeitraum, den ich in meinem Leben überblicken kann, nur feststelle, es wird immer defizitärer. Wir alle wissen, dass der eigentliche demografische Wandel mit seinen Heraus­forderungen erst bevorsteht, wenn die Baby-Boomer-Generation das Alter erreicht.

Dazu kommt, dass in den westlichen Gesell­schaften die Tendenz vorherrscht, Krank­heit und Tod auszublenden oder zu ver­drängen.

Klaus Fließbach: Wie jemand für sich einen Weg findet, mit seiner Krankheit umzugehen, ist sicher individuell sehr unterschiedlich, aber Krankheit und Tod gehören zum Leben dazu. Es gibt eine Grundhaltung in unseren modernen westlichen Gesellschaften, negative Aspekte auszublenden und auf Hedonismus zu setzen. Ich erhoffe von meinen Mitmenschen und von der Gesellschaft mehr Akzeptanz, dass jeder Mensch krank werden kann: Ich selbst kann der Nächste sein. Eine Krankheit sollte nicht als Zumutung oder Ungerechtigkeit wahrgenommen werden, sondern als Herausforderung oder Aufgabe.

Haben Sie selbst Angst davor, dement zu werden?

Klaus Fließbach: Die Frage stelle ich mir natürlich häufiger. Ich kann nur hoffen, mit so einer Diagnose Frieden zu finden. Aber es stellt sich unter anderem die Frage, wie man familiär aufgestellt ist. Alleine im Heim mit einer Demenz leben, das möchte ich nicht. Deshalb finde ich es gut, wenn man sich durchaus schon mit 50 Jahren Gedanken macht, wie man im Alter wohnen möchte. Zum Beispiel über generations­über­greifendes Wohnen. Außerdem spielt das Erkrankungsalter eine große Rolle: Wer bereits vor dem 60. Lebensjahr eine Demenz bekommt, den erwartet in der Regel ein schwerer und schneller Verlauf mit begrenzter Lebenserwartung. Aber einem Prozess, der, wie bei vielen meiner 80-jährigen Patienten, sehr gemächlich vorangeht, dem schaue ich eher gelassen entgegen. 

 

Das Gespräch führte Kathrin Jütte am 16. Januar per Videokonferenz.

 

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.

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