„Dann wird alles sehr ehrlich“

Eine Geriatrie-Clownin berichtet von ihren Begegnungen mit Demenzkranken
Johanna Luther als Geriatrie-Clownin Nana Rose. Die Handpuppe hat sie mit im Gepäck.
Foto: Johanna Luther
Johanna Luther als Geriatrie-Clownin Nana Rose. Die Handpuppe hat sie mit im Gepäck.

Ein Clown lebt im Hier und Jetzt – und ein Mensch mit Demenz auch. Vielleicht liegt es daran, dass sich beide viel zu geben haben, wenn sie sich begegnen, meint Johanna Luther. Sie arbeitet als Geri-Clownin in Seniorenheimen und berichtet im folgenden Text über ihre Erlebnisse.

Ich bin Johanna Luther, 43 Jahre alt, und bin Diplompädagogin. Ich habe schon während meines Studiums eine Ausbildung zur Theaterpädagogin begonnen. Dabei bin ich auf den Clown gestoßen und fand Freude daran, immer wieder in die Rolle von „Nana Rose“ zu schlüpfen. Zunächst habe ich als Klinikclownin auf Kinderstationen gearbeitet, mittlerweile arbeite ich in Seniorenheimen. Dort begegne ich immer wieder Menschen mit Demenz. Diese Krankheit ist für die Angehörigen und das Pflegepersonal natürlich eine große Herausforderung, weil die Betroffenen ihre Gefühle ungefiltert äußern. Aber das macht für mich die Begegnung mit ihnen so besonders.

Wichtig ist dabei der Perspektivwechsel, weg von mir, hin zu dem anderen Menschen. Was erlebt er gerade? Wie kann ich auf ihn zukommen? Wie wird unsere Begegnung für ihn angenehm und damit für uns beide? Braucht er ein Lied, einen Tanz oder nur eine Berührung, ein Lächeln, ein offenes Ohr? Menschen mit Demenz fordern unsere ganze Improvisationsfähigkeit ein. Doch es ist nötig, sich erwartungsfrei auf die Situation einzulassen, ganz im Moment zu sein, wenige Signale zu senden und auf die Reaktion zu warten. Manchmal dauert es sehr lang. Dafür wird man belohnt, denn so ist es möglich, in echten und ehrlichen Kontakt zu kommen.

Nana Rose begegnet Frau B. in einem Aufenthaltsraum. Unsere Blicke treffen sich direkt und unmittelbar. Frau B. spricht allgemein kein Wort mit ihrer Stimme, sie hält mich mit ihren Augen fest, schaut mich neugierig an, und ich muss stehen bleiben. Ich winke und warte. Sie winkt zurück. Das Spiel kann beginnen. Meine Hand wandert und tänzelt über den langen Tisch auf Frau B. zu. Sie öffnet die Augen weit und sieht erschrocken auf meine Finger. Da biege ich an der Tischmitte ab und ergreife die Zuckerdose, führe sie zu meinem Gesicht und schaue hinein: „Mmh! Zucker!“ Sie schüttelt den Kopf. Reumütig stelle ich den Zuckerpott hin. Gleich wandert die Hand zum Salzstreuer. Nein (Kopfschütteln). Zur Blumenvase. Nein (Kopfschütteln). Dann wagen sich meine Finger flink weiter zu Frau B. und ihre Augen weiten sich wieder, und ich freue mich ein bisschen darüber. Die Finger treffen ein Trinkgefäß. Ich reiche ihr das Gefäß, sie trinkt. Wir blicken uns an. Sie blickt die Hand an, und diese wandert weiter zum Rand des Tisches. Die Finger zeigen auf eine Gabel. Ja (Nicken). Einen Löffel. Ja (Nicken). Einen kleinen Löffel. Ja (Nicken). So hält sie nun das Besteck in der Hand und inspiziert es zufrieden. Wir blicken uns an. Ich bedanke mich und verabschiede mich bei ihr, ich winke. Sie winkt.

In der Theater-Improvisation kommt es darauf an, sich auf die Realität des Spielpartners einzulassen, damit eine gemeinsame Szene entsteht. Du musst ganz oft „Ja“ sagen. Genauso ist das auch in der Kommunikation mit Menschen mit Demenz. Wenn einer sagt, heute ist Freitag, obwohl Mittwoch ist, korrigiere ich ihn nicht. Wenn jemand ganz aufgeregt ist, weil er von seinem Chef so gestresst ist, sage ich nicht „Du arbeitest doch gar nicht mehr!“ Ich lasse mich auf seine Realität ein und versuche, ihm in dieser zu begegnen.

„Das bin ja ich!“

Frau P. zeigt immer die gleiche Reaktion, wenn sie mich trifft, und es folgt ein fast identischer Gesprächsablauf. Sie freut sich überschwänglich, ruft mich, umarmt mich. „Mädchen, wie hübsch, ach schau mal. Schön, dass du da bist. Ich freue mich … am liebsten hätte ich ein Foto von dir.“ Daraufhin schenke ich ihr meine Foto-Postkarte und sie nimmt sie wie ein Weihnachtsgeschenk an, sagt die immer gleichen Sätze. Dann wandelt sich nach gewisser Zeit das Ende dieses Ablaufs. Sie freut sich über das Postkarten-Foto, blickt darauf und sagt: „Das bin ja ich!“ Scheinbar hat sie das Bild schon so oft angesehen, dass sie die Verknüpfung aufbaut, dass sie es selbst sein muss. Ich korrigiere sie nicht, schaue mir gemeinsam mit ihr das Bild an, und wir freuen uns beide. Freude ist am Ende das Wichtige und Wertvolle.

Bei alldem hilft mir meine Rolle als Clownin. Ich setze meine rote Nase auf und bin ab diesem Moment für die Menschen da. Was ich vom Tag und von meinem Leben draußen mitbringe, lege ich dann ab. Aber ich habe keine Pflichten, muss keine Medizin verteilen, keine Essenspläne überwachen. Ich bin auch kein Angehöriger, der mit einer langen Vorgeschichte und vielleicht auch Erwartungen auf den Menschen mit Demenz trifft. Ich muss gar nichts, ich komme einfach nur zu Besuch. Es spielt auch keine Rolle, wie lange ich bleibe. Ein Clown lebt im Hier und Jetzt – und ein Mensch mit Demenz auch. Damit sind wir auf einer Wellenlänge und finden irgendwann etwas Gemeinsames, ein Gespräch, ein Lied, einen verbindenden Moment. Ein Clown spiegelt oft die Menschen, denen er begegnet. Wenn er in ein trauriges Gesicht blickt, spricht der Clown die Trauer an, und der andere fühlt sich verstanden. Als Clownin habe ich andere Dinge im Gepäck als die Ärztinnen und die Pfleger. Seifenblasen, eine Handpuppe, einen Luftballon, eine Fliegenklatsche … und vor allem Humor und Zeit.

"Ich will nicht mehr"

Als ich in ein offenes Zimmer hineinschaute, erblickte ich einen Mann, der mit dem Rücken zu mir gedreht im Bett lag. Eigentlich eine abweisende Körperhaltung, und ich bewegte mich bereits zur Seite und überlegte mein Vorgehen, als ich ein „Ich will nicht mehr!“ von drinnen hörte. Ok, das war doch eine Gesprächsaufforderung. Somit ging ich hinein und wir begannen unsere längste und vielleicht letzte Konversation:

Nana Rose: Hallo Herr K.! Was willst du nicht mehr?

Herr K.: Ich will nicht mehr. Ich will sterben.

Nana Rose: Oh …

Herr K.: Das ist doch alles nichts mehr. Ich will gehen.

Nana Rose: Wie kann ich dir da helfen?

Herr K.: (Lächeln) Da kannst du mir nicht helfen.

Nana Rose: Sollen wir üben?

Herr K.: Nein. (Lachen) Dich werde ich vermissen. Dich mag ich.
Die anderen nicht.

Nana Rose: Oh. Danke. Das wusste ich gar nicht, dass du mich magst. Ich mag dich auch. Du bist immer ehrlich und sagst, wenn du keine Lust mehr hast, mich zu sehen. (Ich mache seine Geste nach, mit der er mir immer zu verstehen gibt, dass es ihm reicht.)

Herr K.: (Lachen)

Nana Rose: Was machst du eigentlich, wenn es so weit ist?
Wovon träumst du?

Herr K.: Keine Ahnung.

Nana Rose: … Soll ich dir sagen, wovon ich träume?

Herr K.: Ja.

Nana Rose: Ich denke, wenn du gehst, dann fliegst du hier raus und ziehst als Wolke nach oben und regnest uns irgendwann auf den Kopf und lachst dich kaputt.

Herr K.: (lautes Lachen) Ja, das ist gut, das mach’ ich!

Ich bin bei meinen Besuchen immer unheimlich neugierig, auf welche Menschen ich an diesem Tag treffe. Und auf welche Gefühle. Es ist so: Wenn ich in einen Raum gehe, in dem ich einem Menschen mit Demenz begegne, versuche ich wahrzunehmen, welches Gefühl in diesem Raum ist. Das kann fröhlich machen oder auch sehr belasten, aber es ist eigentlich immer ein Geschenk. Mir gibt jemand ein Gefühl, das er hat. Er teilt es mit mir. Vielleicht hilft ihm das, wenn es ein trauriges Gefühl ist, vielleicht kommen wir gemeinsam irgendwohin, wo es nicht mehr so traurig ist.

Aber ich muss das Gefühl nicht mitnehmen, wenn ich den Raum verlasse. Ich gehe in den nächsten Raum, und dort wartet ein anderes Gefühl auf mich, und ein anderer Mensch. Ich lerne bei diesen Begegnungen sehr viel. Das Im-Augenblick-Sein, das Genießen. Ich lerne, dass Abgeben nicht bedeutet, nichts mehr geben zu können. Die Menschen geben mir sehr viel. Wache Augen, weiche Hände, witzige Ideen – das ist doch wahnsinnig viel, was man dort bekommt. Und sie geben preis, was wir durch unsere vielen Masken stets verdecken. Wenn man dement ist, geht das nicht mehr. Und dann wird alles sehr ehrlich.

"Ich flieg mit"

Frau C. ist heute unruhig. Sie spricht davon, dass sie nicht verlassen werden möchte. Nein, das sei wirklich nicht schön. Das finde ich auch. Ich bin nah bei ihr und nehme sie mal in den Arm, halte ihre Hand, schaue ihr in die Augen, während ich mit ihr rede, und lege ab und zu meinen Kopf an ihren Arm. Ihre Trauer kann ich ihr nicht nehmen. Verzweifelt sagt sie plötzlich: „Mama, du haust einfach ab. Das kannst du nicht machen!“

Daraufhin liegt mir ein Lied auf der Zunge, was um eine Mutter handelt, und ich beschreibe es. Eine Mitbewohnerin ist in der Nähe und verfolgt unsere Unterhaltung aktiv. Glücklicherweise fällt ihr das Lied ein: „Kommt ein Vogel geflogen …“ Wir singen es langsam. Es endet: „Lieber Vogel, zieh weiter, nimm ein’ Gruß mit und ein’ Kuss, denn ich kann dich nicht begleiten, weil ich hierbleiben muss.“ Wir alle drei sind den Tränen nahe oder noch näher. Wieder lege ich meinen Kopf an Frau C.s Arm. Sie drückt mich fest an sich. Als wir uns langsam lösen, gehe ich auf die helfende Mitbewohnerin ein, weil es auch sie ergriffen hat. Da sagt Frau C. plötzlich: „Ich flieg mit!“

Menschen mit Demenz brauchen eine Stimme. Sie werden nicht ernst genommen, weil sie nicht mehr richtig funktionieren. Dabei ist es doch eigentlich immer so, dass sich Menschen in ihrer Verschiedenartigkeit akzeptieren müssen und miteinander in Kontakt treten sollten. Zumindest wünsche ich mir das für Menschen mit Behinderungen und ohne, für Menschen mit Demenz und ohne, für Linke und Rechte, für Dich und mich. Es läuft doch alles darauf hinaus, dass wir Menschen sind und miteinander sein wollen, egal welche Religion wir haben oder welchen Beruf oder welche Kleidung wir tragen. Ich wünsche mir ein Haus, in dem alle wohnen und in dem es viele Gemeinschaftsräume gibt. Kirche kann so ein Haus sein, aber es geht auch ohne. Wichtig ist es, sich einzulassen auf andere Realitäten und Lebensentwürfe, nicht immer nur auf Nummer sicher zu gehen. Dann können Begegnungen zu einem echten und wunderbaren Abenteuer werden. 

 

Protokoll: Stephan Kosch

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